Lenin & Stalin - Messiasse und Säuberer des Volkes

Sogar fanatisch atheistische Systeme wie das der ehemaligen Sowjetunion nutzten religiöse Inbrunst, um Anhänger an sich zu binden. In diesem Fall führte das zu einem mörderischen System, das seinesgleichen in der Geschichte sucht.

Stalin ist wie Jesus beim Letzten Abendmahl; er nimmt den Mittelpunkt der Perspektive ein, um seine Allwissenheit hervorzuheben. Hinter seiner Schulter hängt ein Foto von Johannes dem Täufer in der Inkarnation von Lenin an der Wand; auf die Szene herabschauend spendet dieser seinem rechtmäßigen Erben seinen Segen. Mit geneigten Köpfen umstehen die Jünger den Gesalbten.“

So beschreibt Deyan Sudjic in seinem Buch The Edifice Complex (2005) ein Gemälde in einem sonst recht leeren Schaufenster der UdSSR auf der Höhe der stalinistischen Herrschaft. Zunächst erscheint die religiöse Ikonografie seltsam unangebracht für einen atheistischen Staat. Doch so zynisch wurde das religiöse Empfinden manipuliert, durch ein Regime, das in reinen Zahlen vielleicht eines der mörderischsten der menschlichen Geschichte war.

Hitlers Name steht für Völkermord. Vielen Schätzungen zufolge war er am Ende verantwortlich für die systematische Vernichtung von 11 Millionen unschuldigen Männern, Frauen und Kindern in ganz Europa, mehr als der Hälfte davon Juden. Doch Stalin war verantwortlich für die wahllose Tötung etwa doppelt so vieler Sowjetbürger - durch absichtliches Aushungern, Staatsterror und Verschleppung in Gulag-Strafarbeitslager. Manche finden, dass Hitler und seine Schergen zwar von extremer und kaltblütiger Brutalität waren, Stalin und seine bestialischen Kohorten sie jedoch noch übertrafen.

Eine zahlenmäßige Aufrechnung und der Versuch einer gegenseitigen Abwägung des widerwärtigen Bösen ist irreführend und erklärt wenig. Dadurch vergleicht man lediglich den Wirkungsgrad von Psychopathen in Führerrollen, erfährt aber nichts über die sozialen Bedingungen, den Nährboden, unter denen solche Männer die Macht erlangen und behalten konnten. Auch erklärt das nicht, warum ganz normale Menschen sich von dieser sinnlosen Brutalität mitreißen ließen. Hitler und Stalin waren geistesgestört und abgrundtief böse, doch sie wurden getragen und gebilligt von Menschenmassen, die ihnen zugeneigt waren- weil sie die Führer waren, die sie sich ersehnten. Wie schon zuvor in dieser Serie angemerkt, können wir die Symbiose zwischen Führern und Geführten nicht ignorieren, wenn wir versuchen, die Blutrünstigkeit vieler, wenn nicht aller falschen Messiasse zu ergründen. Zudem ist die Ausnutzung religiöser Inbrunst immer ein willkommenes Werkzeug, wenn Führer Anhänger suchen und an sich binden wollen. Mussolini benutzte Elemente der traditionellen katholischen Religion, um seinen faschistischen Kult auszugestalten, und Hitler wusste sehr wohl um die Macht der Religion, Treue zu einer Sache zu mobilisieren. Nicht anders war es in der atheistischen Sowjetunion in weiten Teilen des letzten Jahrhunderts.

DER STÄHLERNE

Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili wurde 1878 in Georgien geboren; später wurde sein Geburtsjahr offiziell in 1879 geändert. Er war bäuerlicher Abstammung; sein Vater war ein einfacher Flickschuster, die Mutter Waschfrau. Erst später nahm er den Namen Stalin (der Stählerne) an, und ab etwa 1913 führte er ihn ständig.

Trotz seiner einfachen Herkunft hatte der junge Josef mit 15 Jahren eine Schulbildung erworben, die für die Zulassung zum Theologischen Seminar in Tiflis ausreichte. Doch die Ausbildung zum orthodoxen Priester vertrug sich nicht mit seiner zunehmend marxistischen politischen Einstellung. Mit 20 wurde er entweder relegiert oder brach das Studium ab und beteiligte sich an antizaristischen, revolutionären Aktivitäten, organisierte Demonstrationen und Streiks und raubte Banken aus. 1912 lebte er in St. Petersburg und war Herausgeber der doktrinären Zeitung Prawda (Wahrheit). Seine Verhaftung im Jahr 1913 kulminierte in der Verbannung nach Nordsibirien, doch durch die Revolution vom Februar 1917 kam er vorzeitig frei.

Stalin kehrte zurück nach St. Petersburg, das in Petrograd umbenannt worden war, und nahm seine Funktion als Herausgeber der Prawda wieder auf. Die Folgen der Oktoberrevolution im gleichen Jahr stärkten seine Ausgangsposition, um seine politische Karriere voranzubringen. Während des zweijährigen Bürgerkrieges (1918-1920) tat er sich als fähiger Militärverwalter hervor, und 1922 gab ihm die Wahl zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei die Möglichkeit, seinen Einfluss bei den regulären Mitgliedern auszubauen.

Der Parteivorsitzende war damals bereits krank. Wladimir Lenin hatte allerdings wenig Vertrauen zu dem ehrgeizigen Sekretär. Doch obwohl er noch auf dem Sterbebett Stalins Persönlichkeit kritisierte, konnte Lenin dessen Aufstieg zur Macht nicht verhindern.

Stalin hatte ein ganz anderes Bild von Lenin. Der führende georgische Sozialdemokrat Raschden Arsenidse erinnerte sich: „Er betete Lenin an, er vergötterte Lenin. Er lebte von Lenins Gedanken, kopierte ihn so exakt, dass wir ihn scherzhaft ,Lenins linkes Bein' nannten.“

Wie kam es dazu, dass der sowjetische Diktator dem russischen Biografen Edward Radzinskij zufolge in Lenin „seinen Gott fand“? Wer war dieser Mann, dem Stalin so viel verdankte?

LENIN, DER VATER DES RUSSISCHEN KOMMUNISMUS

Wladimir Iljitsch Uljanow wurde 1870 in Simbirsk geboren, das ihm zu Ehren in Uljanowsk umbenannt wurde und rund 900 km östlich von Moskau an der Wolga liegt. 1887 wurde sein Bruder wegen der Beteiligung an der Planung eines Attentats auf Zar Alexander III. hingerichtet; dies bestärkte Lenin in seinem Engagement für revolutionäre Ziele. Zunächst praktizierte er als Rechtsanwalt, doch bald widmete er sich vollständig den Theorien von Karl Marx, die er auch in St. Petersburg lehrte, vorwiegend Zuhörern aus der Arbeiterklasse. Durch die subversive Natur seiner Aktivitäten geriet er ins Visier der Geheimpolizei, und um der Verhaftung zu entgehen, nahm er den Namen Lenin an. 1895 wurde er wegen seiner Agitation nach Sibirien verbannt, und als er 1900 freikam, verließ er Russland für weitere fünf Jahre. Bei einem Parteitag in London wurde er 1903 mit der Führung des neuen Flügels der russischen Sozialdemokraten, der Bolschewiki (russisch: Mehrheitler) betraut.

Etwa in dieser Zeit wurde Stalin Parteigänger Lenins und Bolschewik. Lenin war wenig in Russland, bis er 1917 mit Hilfe der Deutschen von der Schweiz über Deutschland und Schweden zurückkehrte. Die Deutschen hofften, seine Anwesenheit in Russland würde ihren Feind im Ersten Weltkrieg destabilisieren. Im November des Jahres war ihm genau das gelungen: Er hatte die schwache Regierung Kerensky gestürzt und das Sowjetregime an die Macht gebracht. Als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare wurde Lenin bald zum Diktator. Stalin war eines der drei Ratsmitglieder, die ihn unterstützten. Nach kurzer Zeit war die proletarische Revolution in vollem Gang - mit der Verstaatlichung von Banken, dem Ende des privaten Großgrundbesitzes und dessen Umverteilung an die Landbevölkerung, der Kontrolle der Arbeiter über die Industrieproduktion, den Repressalien der Geheimpolizei und dem Atheismus als offizieller Staatsideologie.

Doch wie wir in dieser Serie so oft festgestellt haben, wurde auch hier die traditionelle Religion nutzbar gemacht, um das Volk zu gewinnen. Nach einem Attentat auf Lenin im Jahr 1918 wurde er als öffentliche Gestalt verbal und visuell mit religiöser Symbolik überhöht. Wie die Soziologin Victoria Bonnell kommentiert, wurde der Parteiführer nun „charakterisiert als jemand mit den Eigenschaften eines Heiligen, eines Apostels, eines Propheten, eines Märtyrers, als Mann mit Christus ähnlichen Qualitäten und ,Staatsführer von Gottes Gnaden'“. Plakate zeigten Lenin wie einen Heiligen im Stil der russischen Ikonenmalerei.

Es folgten zwei schwere Jahre; es gab Bürgerkrieg und Krieg mit Polen. Im Jahr 1922 hatten Lenins Anstrengungen seine Gesundheit schon schwer geschädigt. Zwei Schlaganfällen in jenem Jahr folgte 1923 ein dritter, nach dem er nicht mehr sprechen konnte. Sein erster Schlaganfall hinderte ihn nicht daran, ja ließ es ihm vielleicht sogar noch dringlicher erscheinen, Stalins Arbeit als Generalsekretär der Partei zu kritisieren und seine Absetzung zu empfehlen.

Doch müssen wir uns hier nicht weiter mit Lenins politischer Laufbahn aufhalten. Uns kommt es darauf an, was Stalin aus dem bereits bestehenden Personenkult seines Idols machte.

LENIN ALS ERLÖSER

Viele der notwendigen Voraussetzungen für Lenins Kult waren durch Aspekte des politischen, sozialen und religiösen Gefüges von „Mütterchen Russland“ bereits gegeben. Die Historikerin Nina Tumarkin erinnert daran: „Ebenso wie die Vergöttlichung griechischer und römischer Herrscher in älteren Vorstellungen von Macht und Göttlichkeit wurzelte und durch die jeweils aktuelle Staatsraison angeregt wurde, entstanden auch spätere revolutionäre Kulte aufgrund politischer Notwendigkeiten und beruhten gleichzeitig auf traditionellen Formen und Symbolen.“

In Russlands Fall umfasst der religiöse Stammbaum eine direkte Herkunft von der byzantinisch-orthodoxen Kirche des Oströmischen Reiches. Nach dem Fall Konstantinopels an die Osmanen im Jahr 1453 empfanden einige in Russland Moskau als „das dritte Rom“, Erbe des Sitzes der oströmischen Orthodoxie. Bestätigt sah man diese Übertragung von Rechten und Pflichten in der Verehelichung des Großfürsten Iwan III. von Moskau (1462-1505) mit Sophia Palaiologina, der Nichte des letzten oströmischen Kaisers Konstantin XI. Zudem wurde der Enkel des Großfürsten, Iwan IV. („der Schreckliche“), gemäß dem kaiserlichen Vorbild 1547 der erste russische Herrscher, der den Titel „Zar“ annahm - ebenso wie „Kaiser“ eine Ableitung des lateinischen Caesar. Hier war ein Monarch, der als weltlicher Herrscher galt, dies aber von Gottes Gnaden. Der Gedanke, dass der Zar Gottes Vertreter auf Erden sei, war bei der Landbevölkerung bald generell akzeptiert und später leicht übertragbar auf den Führer des modernen atheistischen Staates.

Die Verehrung von Ikonen und „heiligen“ Reliquien in der orthodoxen Kirche gab ein willkommenes Modell für den dann folgenden Kult um Lenins Bild und einbalsamierten Leichnam ab. Der Zweck dieser Verehrung war natürlich, die emotionale Bindung der Sowjetmenschen an ihren Führer auf die Partei, die er repräsentierte, zu erweitern. Dass die Leichname von Heiligen nicht verwesten, war ein verbreiteter Glaube, und so lag der Gedanke nahe, dass ein einbalsamierter Lenin für den Staat von unschätzbarem Wert wäre.

Wie bei anderen Fällen in der Geschichte des Personenkults war Lenins Überhöhung schon weit vor seinem Tod erkennbar. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistete der Bolschewismus selbst. In ihren Anfangsjahren tat die Bewegung viel, um den hergebrachten Glauben durch eine neue, humanistische Religion zu ersetzen - man nennt das „Gottesbildung“. Im Mittelpunkt des marxistischen Glaubens sollte die materielle Zukunft des Menschen stehen. Anatolij Lunatscharskij, selbsternannter „Dichter der Revolution“ und Gottesbildner, hielt Religion für ein zentrales Element allen nützlichen menschlichen Handelns. Noch besser, wenn es sich um die Religion des wissenschaftlichen Sozialismus handelte, die in biblisch anmutenden Tönen die „Entwicklung des menschlichen Geistes zu einem ,All-Geist'“ verhieß. Durch die wissenschaftliche Bezwingung des Todes könne sogar Unsterblichkeit erreicht werden.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Gottesbildner das menschliche Genie in der Person Lenins, für den alle Religion Anathema war, vergöttlichten. . . .“

Nina Tumarkin, Lenin Lives! 

Lenin lehnte die Idee der „Gottesbildung“ ab - sie sei nur eine weitere Religion, die auf der Anbetung einer Gottheit beruhe (und er war leidenschaftlich gegen Götter jeder Art). Doch ironischerweise waren es Lunatscharskij und Leonid Krasin (auch er ein Gottesbildner), die später die Einbalsamierung Lenins und den Bau seines Mausoleums auf dem Roten Platz von Moskau überwachten. Doch zunächst, in den Monaten vor Lenins Tod, ergriff Stalin die Gelegenheit, den Kult seines Helden persönlich zu fördern. Er lud führende Persönlichkeiten, Soldaten und Arbeiter nach Nischnij Nowgorod ein (das später über viele Jahre Gorkij hieß), um dem Sterbenden einen letzten Besuch abzustatten und andauernde Treue zu seinen Ideen zu geloben; so platzierte sich Stalin geschickt als Regisseur des entstehenden Kultes. Wie Radzinsky schreibt, „inszenierte er eine Propagandakampagne, wie es sie noch nie gegeben hatte; man hätte sie ,Abschied des Messias' nennen können“.

Die Geschichte Russlands bewies, dass es einen Gott und auch einen Zaren brauchte. Dies wusste Stalin. Dementsprechend, erklärt Radzinsky, „beschloss er, ihm an Stelle des von den Bolschewiken gestürzten Gottes einen neuen zu präsentieren. Einen atheistischen Messias, den Gott Lenin“. Und obgleich Lenins Witwe Nadeschda Krupskaja sich gegen die Vergöttlichung stellte, weil Lenin selbst dagegen gewesen wäre, war Stalin entschlossen, sich durchzusetzen, und sorgte dafür, dass das Politbüro sie überstimmte.

DER TOTE WIRD ZUM GOTT

Lenins Begräbnis war bis ins Kleinste geplant. Sein Leichnam kam mit dem Zug an und wurde buchstäblich quer durch Moskau bis zur Säulenhalle getragen. Bei einer Trauerfeier vor dem Begräbnis sprachen Lenins Witwe und etliche bolschewistische Größen. Bemerkenswert war Grigorij Zinowiews Nachruf, in dem er Briefe von zwei Arbeitern zitierte. Für einen war Lenin „unser lieber Vater . . . unser unvergesslicher Vater - der Vater der ganzen Welt“, für den anderen der große Führer, der das Volk nicht täuschen konnte: „Es war unmöglich, nicht an Lenin zu glauben.“ Er schloss mit der Bitte: „Lenin, lebe! Nur du bist es, der uns versteht, kein anderer.“ Tumarkin zufolgte zeigte Zinowiew damit, dass Lenin „ein Prophet und ein Erlöser“ war. Stalins Ansprache war wenig bemerkenswert, außer dass er versuchte, im Namen aller zu sprechen, als er erklärte: „Wir geloben dir, Genosse Lenin, dass wir unseres Lebens nicht schonen werden, um die Einheit der Werktätigen der ganzen Welt zu stärken - die kommunistische Internationale!“ Nach Stalins Lobrede kam die von Nikolai Bucharin. Er sprach von Lenin als dem großen Steuermann, der das Schiff des Staates gerettet habe. Diese Heilsmetapher sollte später im chinesischen Kommunismus populär werden.

Nach der Trauerfeier stand Stalin die ganze Nacht Wache, während die Schlange der Trauernden an Lenins vorübergehend einbalsamierter Leiche vorbeizog. Vielleicht vermischten sich Bitten, die Beerdigung zu verschieben und sogar den Leichnam gar nicht zu begraben, in Stalins Denken mit einer Idee, die er schon früher in Betracht gezogen hatte, um Lenins Gegenwart auf Dauer zu etablieren. Wie dem auch sei - als die Leiche etwa einen Monat später Anzeichen von Verwesung erkennen ließ, wurden Spezialisten hinzugezogen, um etwas damals scheinbar Unmögliches zu leisten: Sie sollten den Leichnam so einbalsamieren, dass er dauerhaft ausgestellt werden konnte. Dies taten sie mit solchem Erfolg, dass der Atheist Lenin eine „heilige“ Reliquie wurde, die man noch heute sehen kann.

Doch der Kult beschränkte sich nicht auf das Mausoleum an der Kremlmauer. Tumarkin schreibt: „Stilisierte Portraits und Büsten von Lenin waren die Ikonen, seine idealisierte Biografie das Evangelium und der Leninismus die Heilige Schrift. Lenin-Ecken [oder „rote Ecken“] waren lokale Schreine für die Verehrung des Führers.“ Diese nahmen den Platz der traditionellen Ikonen-Ecken im russisch-orthodoxen Haus ein. Mit anderen Worten, der Führer war unsterblich gemacht worden. Vom Gesamtrussischen Sowjet der Gewerkschaften verlautete: „In Gesundheit und Krankheit, im Tod und im Leben . . . bleibt Lenin unser ewiger Führer.“ Dieser Stand der Dinge führte zur Entstehung einer Wallfahrtsindustrie, denn die Besucher strömten zu Tausenden zu der Reliquie. Es war so, wie Stalin geplant hatte, aber es sollte noch mehr kommen. Radzinsky bemerkt: „Stalin hatte ihnen den unvergänglichen Gott geliefert. Als Nächstes musste er ihnen einen Zaren geben.“

Der Beginn dieser Verwandlung kam beim Dreizehnten Parteitag im Mai 1924, bei dem Lenins Witwe dem Zentralkomitee sein Testament zur Verfügung stellte. Die Mitglieder studierten es und taten seine Kritik an Generalsekretär Stalin ab. Sie stellten sich einfach auf den Standpunkt, Lenin sei seit seinem ersten Schlaganfall geistig gestört gewesen. Für Stalin war das nicht genug. Wohl wissend, dass die anderen Komiteemitglieder um seine Nachfolge kämpfen würden, bot er klugerweise seinen Rücktritt an - das war es schließlich, was sein Idol gewünscht hatte. Wie erwartet, wurde er angesichts der erbitterten Rivalität seiner Genossen im Amt bestätigt. Dies schuf die Voraussetzungen für seinen Aufstieg zu fast totaler Macht während des restlichen Jahrzehnts.

RELIGION BEKÄMPFEN UND GOTT WERDEN

Die Ausmerzung der hergebrachten Religion war ein fester Bestandteil der kommunistischen Philosophie. Marx' geflügeltes Wort „Religion ist das Opium des Volkes“ wurde bald in der ganzen Sowjetunion gepredigt. Priester wurden gejagt, Klöster geschlossen. Der Vorgabe Lenins entsprechend, begann Stalin, die kollektive Zerstörung von Kirchen zu propagieren. Was er für den Standort von Moskaus größtem Bauwerk, der Erlöserkirche, vorhatte, war aufschlussreich. Hier sollte der Sowjetpalast entstehen, mit einer Kolossalstatue des neuen Messias Lenin. Kinder wurden aufgefordert, traditionelle Ikonen von zu Hause mitzubringen und sie auf Scheiterhaufen zu verbrennen. Dann wurden sie mit Plakaten des geliebten einstigen Führers als Ersatz heimgeschickt.

Das Christentum musste dem Kommunismus weichen, und Lenin sollte der Gesellschaft als neuer Jesus Christus präsentiert werden.“

Robert Service, Stalin

Natürlich hinderte nichts von alledem Stalin daran, sich religiöser Symbole zu bedienen. Schließlich war er im Priesterseminar gewesen.

Seine religiösen Wurzeln zeigten sich in mehrfacher Weise. Im Dezember 1929 feierte Stalin seinen selbst erfundenen 50. Geburtstag und kombinierte ihn mit dem Gedenken an Lenins Tod. Seine Dankesrede „an all die Organisationen und Genossen, die mir gratuliert haben“, heuchelte Demut und ahmte die biblische Sprache nach: „Eure Glückwünsche und Grüße sind eine Anerkennung für die große Partei der Arbeiterklasse, die mich geboren und die mich nach ihrem eigenen Bild und Ebenbild aufgezogen hat.“ Dies waren Anklänge an die Genesis (1. Mose 1), mit der Partei als Ersatz für den Schöpfer.

Doch das war nicht alles. Wie bei den alten Göttern war Stalins Herkunft nicht von dieser Welt. Er war nicht von einer Frau empfangen und geboren worden, sondern von der abstrakten Partei. Psychologisch betrachtet war dies vielleicht zu erwarten. Obwohl er seiner Mutter regelmäßig schrieb, besuchte er sie in den 1920er-Jahren nur zweimal und in den 1930er-Jahren nur einmal. Als sie starb, schickte er schlicht einen Kranz. Bei ihrer letzten Begegnung im Jahr 1935 fragte er sie, warum sie ihn als Kind so viel geschlagen habe. Sie antwortete, dadurch sei doch so viel aus ihm geworden, und fragte dann: „Josef, was genau bist du jetzt?“ Er antwortete: „Kannst du dich an den Zar erinnern? Nun, ich bin so etwas wie der Zar.“ Sie meinte daraufhin: „Du hättest besser Priester werden sollen.“ Radzinsky berichtet, dass die Prawda dies als Begegnung zwischen der Großen Mutter und dem Großen Führer schilderte, mit Symbolen, die an die Jungfrau Maria erinnerten.

In den späten 1920er-Jahren nahm Stalin den Titel „Führer“ (russisch Woschd) an. Bald wurde er nur noch so genannt: „Führer und Lehrer“ in der Tradition Lenins. Wie andere Staatsoberhäupter seiner Zeit - Mussolini der Duce und Hitler der Führer - baute er die „demokratischen“ Elemente der Regierung ab, sobald sich die Möglichkeit bot. Zwar war er zunächst Mitglied eines Triumvirats gewesen, doch nach den ersten vier Jahren an der Macht war „der Chef“ tatsächlich dabei, ein roter Zar zu werden. Die früheren Genossen Lenins hatte er alle eliminiert. Und nachdem seine unmittelbaren Rivalen ihm nicht mehr im Wege standen, war er weit genug vorangekommen, um nach dem Mantel der Göttlichkeit zu greifen. Nun konnte er seinen Platz in einem ganz anderen Triumvirat einnehmen. Wie Radzinsky erklärt: „Es entstand eine bolschewistische Trinität, eine dreifaltige Gottheit: Marx, Lenin und er selbst. Götter der Erde.“

Der Kult um seine Person schien Stalin zwar etwas unangenehm zu sein, doch nahm er die Vorteile recht gern an, sobald sie erkennbar wurden. Sein Biograf Robert Service analysiert Stalins künstliche Bescheidenheit und fragt, ob er sie vielleicht von einer römischen Quelle gelernt habe. „Beeinflusste ihn sein Interesse an der Karriere des ersten römischen Kaisers Augustus? Augustus akzeptierte den Titel eines Königs nie, obwohl er der Begründer einer dynastischen Monarchie geworden war.“

Als [Stalin] Zar wurde, beschloss er, auch Gott zu werden.“

Edvard Radzinsky, Stalin

Stalins Übergang von der Rolle eines Förderers der Göttlichkeit Lenins zur Werbung für sich selbst war subtil. Zuerst wurde er der wichtigste Deuter des leninistischen Denkens. Dann wurde er ihm gleichgestellt und erschien auf Plakaten Seite an Seite mit ihm. In der Mitte der 1930er-Jahre war Wladimir Iljitsch schon in den Hintergrund solcher Darstellungen zurückgewichen. Schließlich erschien nur noch sein Name auf einem Buch in Stalins Hand, und die neue Parteiparole verkündete: „Stalin ist der Lenin von heute“. Es folgten Ikonen von Stalin als Christus ähnlicher Figur. 1936 schrieb ein Dichter: „Doch du, o Stalin, bist höher / als die höchsten Orte der Himmel.“ In einem Brief an den niedriger rangierenden Staatspräsidenten stand: „Sie sind für mich wie ein Gottmensch, und I.V. Stalin ist Gott“. Die Landwirtschaftsausstellung der UdSSR von 1939 war vom Stalinkult beherrscht; es gab sogar eine 30 Meter hohe Betonstatue von ihm, die die Menschenmenge überragte.

Es sei nochmals betont, dass diese Entwicklung nicht das Werk Stalins allein war. Wie bei allen modernen Diktaturen wurde der Führer von den Geführten unterstützt und gefördert. In seiner vergleichenden Studie über Hitler und Stalin bemerkt der Historiker Richard Overy: „Es gibt einen Akt der Komplizität zwischen dem Herrscher, der das Bild des mythischen Helden projiziert, und den Anhängern, die es heiligen und ihm Wirklichkeit verleihen. Das emotionale Band, das durch den Akt geknüpft wird, bindet beide Seiten.“ Und natürlich gilt die Unterstützung nicht nur dem Führer persönlich, sondern allem, was er tut. Wie Service schreibt: „Für den Großen Terror [1937-1938] waren Stenografen, Wärter, Henker, Putzfrauen, Folterer, Sekretäre und Eisenbahner, Lastwagenfahrer und Denunzianten erforderlich.“ So kam es zur Gleichschaltung vieler gewöhnlicher Leute, die Stalin einst skeptisch gegenübergestanden hatten. Neuere Untersuchungen persönlicher Tagebücher aus jener Zeit zeigen, wie sich die Menschen mühten, ihre kritischen Ansichten mit der Politik des Staates zu harmonisieren. Um in den entsetzlichen Ereignissen der jüngsten Geschichte ihres Landes trotzdem einen persönlichen Sinn zu finden, erklärten sie das Unrecht einfach weg, das sie im Inneren eigentlich als solches erkannten. Der Kulturhistoriker Jochen Hellbeck zeigt, dass Menschen unter derartigen Umständen Terror, Grausamkeit, Aberkennung von Rechten, unrechtmäßige Verhaftungen und Säuberungen bei Angehörigen und Freunden rationalisieren, um sich in Einklang mit dem System zu fühlen. Die Menschen wollen einen Sinn im Leben haben, und das kommunistische Projekt schien ihn zu liefern: Die Menschheit war auf dem Weg zur sozialistischen Vollkommenheit; der „neue Mensch“ wurde geformt.

MACHT, VÖLKER UND SÄUBERUNGEN

Sobald Stalin genügend Macht erlangt hatte, ging er daran, „die große Wende“ einzuleiten. Überzeugt von Lenins geflügeltem Wort, Terror sei ein notwendiges Mittel zur Legitimierung des Staates, und mit dem mörderischen Zar Iwan dem Schrecklichen als Vorbild, attackierte er die Bauern und Bauernfamilien - die Kulaken -, die von der neuen Wirtschaftspolitik (1921-1928) profitiert hatten.

1929 machte Stalin seine Absichten deutlich: Er schrieb über die „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“. Ab jenem Jahr wurden sie in Viehwaggons in eisige Einöden verfrachtet und sich selbst überlassen. In Kombination mit Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft und der beschleunigten Industrialisierung führte ihre Verbannung zu einer katastrophalen Nahrungsmittelknappheit. Es gab grauenhafte Fälle von Kannibalismus, und schätzungsweise 5 bis 8 Millionen Menschen verhungerten. Doch Stalin tat Nachrichten von der Hungersnot als „konterrevolutionäre Agitation“ ab. Die Städter hassten die halb verhungerten Kulaken, die, nach Nahrung suchend, an den Stadträndern auftauchten wie umherstreifende Tiere.

Gleichzeitig begannen Stalins politische Säuberungen mit dem angeblichen Ziel, das sowjetische Experiment vor westlich-imperialistischen „Saboteuren“ zu schützen. Er nutzte die Gelegenheit, um Schauprozesse gegen Intellektuelle, Akademiker, Wissenschaftler, Ökonomen sowie politische Gegner zu inszenieren. Als sein Getreuer S.M. Kirow 1934 ermordet wurde, räumte Stalin sogar viele der „alten Bolschewiken“ aus dem Weg - Männer, mit denen er gearbeitet und regiert hatte.

Anfang 1937 setzte der Große Terror ein. Das Politbüro wies die lokalen Behörden an, die „feindseligsten antisowjetischen Elemente“ zu eliminieren. Der britische Historiker Simon Sebag Montefiore nennt dies „Demozid“ - die Tötung ganzer Volksgruppen in „industriellem Maßstab“. Er kommentiert: „Innerhalb des Glaubens und des Idealismus des Bolschewismus, einer Religion auf der Basis der systematischen Klassenvernichtung, war dieses Abschlachten sinnvoll.“

Die Operation war so erfolgreich, dass die lokalen Behörden mit ihren Drei-Mann-Tribunalen höhere Quoten beantragten und sie bekamen. Insgesamt wurden rund 760 000 Personen verhaftet und nahezu 400 000 hingerichtet. Zu diesen wahllosen Verhaftungen und Tötungen kamen noch national und ethnisch motivierte Morde, Verhaftungen oder Verschleppungen hinzu. Dies betraf Polen und Deutsche in großer Zahl, aber auch Bulgaren, Mazedonier, Koreaner, Kurden, Griechen, Finnen, Esten, Iraner, Letten, Chinesen und Rumänen. Die Gesamtzahl der Verhaftungen stieg auf 1,5 Millionen, die der Toten auf 700 000. Stalin, der geistige Urheber all dieses grauenhaften Tötens und Vernichtens, verschwand während des Gemetzels aus dem Blick der Öffentlichkeit. Gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, viele der Menschen aus seinem engsten Umfeld zu beseitigen. Montefiore schreibt: „Innerhalb von eineinhalb Jahren waren 5 der 15 Politbüromitglieder, 98 der 139 Mitglieder des Zentralkomitees und 1108 der 1966 Delegierten des Siebzehnten Parteitags verhaftet worden.“ Die Frauen der Verurteilten wurden interniert und von ihren Familien getrennt. So wurde nahezu einer Million Kindern nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter genommen, in vielen Fällen bis zu 20 Jahre lang. Selbst die Geheimpolizei und die Armee waren nicht immun; einen Vorgesetzten nach dem anderen ereilte das gleiche Schicksal: Prügel, bis sie einen Verrat gestanden, den sie nie begangen hatten, und Erschießung auf Befehl des Chefs. Jeder, dem man für den Fall eines Weltkrieges potenzielle Illoyalität gegenüber dem Staat unterstellte, wurde zur Zielscheibe.

Als Hitler 1941 in die Sowjetunion einmarschierte, war Stalin wie vor den Kopf geschlagen; doch er erholte sich rasch und nahm die Zügel in die Hand. Seine weitere Herrschaft während des Krieges bedeutete eine massive Steigerung des Leides und der Zahlen der Todesopfer, obwohl der interne Terror nachließ. Trotz des Sieges der Alliierten über Deutschland starben in der UdSSR mehr als 20 Millionen Menschen, davon rund 7 Millionen Zivilisten. An Stalins Bereitschaft, sein Volk zu opfern, hatte sich nichts geändert. Dennoch wurde er 1943 zum Marschall der Sowjet-union und 1945 zum Generalissimus ernannt.

Trotz des Blutbades, das er anrichtete, ging seine Überhöhung weiter. Am Ende eines sowjetischen Films von 1949 mit dem Titel Der Fall Berlins kommt Stalin auf dem Luftweg in die zerstörte Stadt. Der Messias in strahlend weißer Uniform wird von den glücklichen Menschen der Welt willkommen geheißen. Sie singen: „Wir folgen dir in wunderbare Zeiten, / Wir gehen auf dem Pfad des Sieges . . .“ Doch bald kehrte die Wahnvorstellung der Verfolgung durch den Wes-ten und imperialistische Feinde im Inneren zurück. Es gab weitere Säuberungen, und seine engsten Wegbegleiter wurden verfolgt.

Nach seinem Tod infolge einer Gehirnblutung im März 1953 wurde Stalin noch mehr vergöttert. Tausende strömten an seinem Leichnam vorbei, der in der Säulenhalle aufgebahrt war. Einbalsamiert wie Lenin wurde er neben sein einstiges Idol im Mausoleum am Roten Platz zur Ruhe gelegt. Erst 1961, fünf Jahre nachdem Nikita Chruschtschow dem Stalinkult öffentlich abgeschworen hatte, wurde der in Ungnade gefallene Führer entfernt und in der Nähe der Kremlmauer beerdigt. Er hatte den Leninkult gefördert, um seine eigene Verherrlichung zu betreiben, und für drei blutige Jahrzehnte hatte er sie erreicht. Doch schlussendlich wurde er sozusagen auf den Boden zurückgebracht und buchstäblich begraben. Und mit ihm der Stalinismus.

Der Mann, dessen wichtigstes Vermächtnis Stalin unterdrückte, ist noch immer zu besichtigen - eine morbide Erinnerung an sein eigenes, falsches messianisches System. Die Übermacht von Bösartigkeit und Brutalität sorgte dafür, dass weder Lenin noch Stalin auch nur annähernd ein Utopia erreichen konnten.

Als Nächstes betrachten wir die falschen Messiasse des 20. Jahrhunderts im Orient.