Wie viele Evangelien gibt es?

Die Entdeckung von Evangelien, die nicht zum Kanon des Neuen Testaments gehören – etliche davon bei den Schriften von Nag Hammadi, welche in den 1940er-Jahren in Ägypten gefunden wurden –, hat einen regelrechten Feuersturm ausgelöst, und dies nicht nur in theologischen Kreisen. Auch populärwissenschaftliche Autoren haben das Thema aufgegriffen, sodass ihm zudem das Interesse der breiten Öffentlichkeit gewidmet wurde. Vor Kurzem wurde das Evangelium des Judas veröffentlicht und schürte das Feuer noch weiter.

Viele behaupten, diese anderen Evangelien, die zu einem großen Teil im 2. und 3. Jahrhundert geschrieben wurden, seien absichtlich ausgegrenzt worden und hätten in den biblischen Kanon gehört. Diesen Stimmen zufolge wurden die Werke u. a. deshalb nicht aufgenommen, weil sie nicht mit den geltenden Lehrmeinungen über so weitreichende Themen wie Jesus, die Struktur der Kirche und die Rolle der Frauen in der Kirche übereinstimmten.

Wie kam es, dass die christliche Kirche, die offenbar von Evangelien überflutet wurde, am Ende nur noch vier hatte? […] Viele stellen sich vielleicht Konzilien vor, bei denen missmutige Bischöfe in einer Minute abstimmten, welche Bücher zur Bibel gehören sollten, und in der nächsten Minute dafür stimmten, Ketzer hinzurichten.“ 

Charles E. Hill, Who Chose the Gospels? Probing the Great Gospel Conspiracy (2010)

Elaine Pagels, eine renommierte Autorität im Bereich der gnostischen Evangelien, drückt dieses Gefühl treffend aus: „Wenn [die kirchliche Hierarchie] so viel von der frühen christlichen Geschichte unter Verschluss gehalten hat, was gibt es dann noch, von dem wir nichts wissen? Was gibt es dann noch, das man erfahren sollte? […] Als Geschichtswissenschaftlerin halte ich das für eine wirklich wichtige Frage, da die Antwort sehr viel bedeutet.“

Wurde Material unter Verschluss gehalten? Wie können wir sicher sein, dass die im Neuen Testament enthaltenen Evangelien sowohl echt als auch maßgeblich sind und dass die Auslassung dieser zusätzlichen Berichte kein Fehler war – absichtlich oder aus anderen Gründen?

GEDANKENSPIELE 

Die Bedenken von Frau Pagels und anderen sind berechtigt, wenn die Bücher des Neuen Testaments, insbesondere die Evangelien, Jahrhunderte nach ihrer Entstehung ausgewählt wurden, wie viele glauben. Einer Theorie zufolge – populär geworden durch Dan Browns Bestseller The Da Vinci Code (Sakrileg) von 2003 – wurde der endgültige Kanon im 4. Jahrhundert auf Befehl des Kaisers Konstantin festgelegt.

Und was ist mit der Anzahl? Wer hat entschieden, dass wir vier Evangelien haben? Aus der Sicht kreativer Mutmaßung lässt sich das leicht beantworten, und das tun auch viele. Tatsächlich haben mehrere katholische Kirchenväter, allen voran Irenäus im 2. Jahrhundert, Begründungen für die Zahl Vier vorgebracht. Heute sind ihre Theorien noch immer populär, obgleich die meisten von ihnen sehr wenig mit der Bibel selbst zu tun haben oder sie nur am Rande berühren. Beispiele für solche Theorien sind, dass die vier Evangelien den vier „himmlischen Gestalten“ entsprächen, die der Apostel Johannes in einer Vision sah (Offenbarung 4, 6), oder den vier Himmelsrichtungen oder den vier Elementen, aus denen die Welt besteht. Jeder Mensch kann sich eine Gruppe aus vier Teilen einfallen lassen, die er irgendwie passend findet. Doch all diese Erklärungen beruhen eben nur auf menschlichen Vermutungen, nicht auf historischer Wahrheit.

Es wurde auch behauptet, die vier Evangelien des Neuen Testaments seien von Aposteln geschrieben worden, die anderen Evangelien hingegen nicht. Doch die Autoren des Markus- und des Lukasevangeliums waren keine Apostel, wohingegen das nichtkanonische Petrusevangelium, wie der Name bereits sagt, für sich beanspruchen kann, das Werk eines Apostels zu sein (was die Wissenschaft allerdings auf breiter Front bestreitet).

Wieder andere verteidigen die letztlich ausgewählten Evangelien damit, dass sie im Auftrag der Apostel entstanden seien. Tatsächlich gibt es im Neuen Testament interne Belege für diese Vorstellung. Das Problem einer Argumentation auf dieser Basis ist, dass die meisten Menschen die Bibel von vornherein nicht als Autorität anerkennen. Welchen Beweiswert haben dann interne Belege allein?

FRÜHE GELTUNG 

Was gebraucht wird, ist ein Nachweis der Autorität hinter dem neutestamentlichen Kanon. Denn wie glaubwürdig kann eine Erklärung sein, wenn sie sich nicht auf die Autorität der Person stützen kann, die entschieden hat, was zu der Sammlung gehören soll?

Tatsächlich stand längst fest, welche Evangelien ins Neue Testament aufgenommen werden sollten, bevor die kürzlich entdeckten anderen Evangelien auch nur geschrieben wurden. So ließe sich der Ausschluss jener zusätzlichen Texte allein auf der Basis ihrer Entstehungszeit erklären, ohne inhaltliche Probleme überhaupt zu berühren. Die Entstehungszeit stellt dann aber auch ihre Echtheit infrage, da sie nicht von Augenzeugen Jesu Christi stammen können.

Doch Lukas bemerkt, dass schon zu seiner Zeit viele schriftliche Berichte über das Leben und die Zeit Jesu Christi und seiner ersten Jünger kursierten (Lukas 1, 1-4); trotzdem nannten zahlreiche Autoren am Ende des 2. Jahrhunderts nur vier Evangelien als Bestandteile der heiligen Schrift. Einer dieser Autoren war Irenäus, der Bischof von Lyon (ca. 140-200 n. Chr.), der in seiner Jugend den Johannesjünger Polykarp gekannt hatte. In seinem Buch Gegen die Häresien nennt Irenäus vier Evangelien – dieselben, die im heutigen Neuen Testament enthalten sind.

Nicht lange zuvor, auch im dritten Viertel des 2. Jahrhunderts, hatte der syrische Gläubige Tatian seine Evangelienharmonie (Diatessaron) geschrieben, die in einem einzigen Bericht die vier Evangelien des Neuen Testaments in Einklang bringt.

Das Muratorianische Fragment, eine Liste biblischer Bücher aus dem späten 2. Jahrhundert, aber auch Clemens von Alexandria, Tertullian und Origenes, die im späten 2. bis frühen 3. Jahrhundert in Nordafrika schrieben, bezeugen die allgemeine Anerkennung der vier Evangelien in der gesamten bekannten Welt noch vor der Entstehung einer zentralen Autorität der Orthodoxie.

Dass am Ende des 2. Jahrhunderts nur vier Evangelien als maßgeblich anerkannt waren, wird weiter durch Funde von Kodizes aus dem späten 2. und frühen 3. Jahrhundert bestätigt, in denen Handschriften der vier Werke zusammen als ein Buch gebunden sind. In jener Zeit wurden Bücher auf Papyrus geschrieben, das in feuchtem Klima schnell verrottete. Solche Handschriften wurden deshalb nur in den trockenen Wüsten Ägyptens gefunden, und selbst dort blieben von vielen Büchern nur Fragmente erhalten. Zahlreiche Papyri wurden an der Wende zum 20. Jahrhundert im ägyptischen Oxyrhynchus gefunden, in den 1930er-Jahren tauchten umfangreichere Manuskripte am Antiquitätenmarkt in Ägypten auf. Sie waren wohl in Steinkrügen im Inneren einer Kirche in einem Wüstengebiet Ägyptens versteckt gewesen, und ihre Überreste werden nun in amerikanischen und europäischen Bibliotheken aufbewahrt.

Diese Funde waren sensationell, denn die Manuskripte waren zwar fragmentiert, aber mehr als ein Jahrhundert älter als die ältesten bis dahin bekannten Texte. Einige von ihnen, die Teile des Johannesevangeliums wiedergeben, stammen aus dem frühen 2. Jahrhundert und sind damit die ältesten erhaltenen Fragmente des Neuen Testaments. Der Papyrus, den Archäologen und Papyrologen als P75 bezeichnen, wird dem späten 2. oder frühen 3. Jahrhundert zugeordnet und enthält Teile des Lukasevangeliums, gefolgt vom Johannesevangelium. Am bemerkenswertesten ist jedoch in mehrfacher Hinsicht P45. Er stammt aus dem 3. Jahrhundert, enthält aber große Teile aller vier Evangelien sowie der Apostelgeschichte.

DAS FEHLENDE ZWISCHENSTÜCK 

Aus den Schriften des Irenäus und anderer Autoren geht hervor, dass die vier Evangelien des Neuen Testaments in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts als Teile der Heiligen Schrift anerkannt waren. Doch bislang fehlt noch eine definitive Verbindung zur Zeit der Apostel – der Augenzeugen von Jesu Leben und Tod.

Diese Verbindung findet sich bei Eusebius Pamphilus, einem bekannten Kirchenhistoriker des 4. Jahrhunderts. Eusebius zitiert direkt aus den Schriften des Papias (ca. 60-135 n. Chr.) über den Hintergrund der Niederschrift von zwei Evangelien (Kirchengeschichte 3.39). Papias war Bischof von Hierapolis in Kleinasien und behauptete, sein Wissen von Personen zu haben, die tatsächlich an der Seite der Apostel waren. Seine Werke sind verschollen, waren jedoch etlichen Autoren des 2. Jahrhunderts gut bekannt und wurden von ihnen in Teilen zitiert oder paraphrasiert.

Zwar dürften Akademiker […] für die Zusammensetzung der Bibel nicht den ,heidnischen Kaiser Konstantin‘ verantwortlich machen, doch selbst in der Welt der Wissenschaft beharren viele darauf, dass die Frage, welche Evangelien die Kirche akzeptieren sollte, im 4. Jahrhundert noch offen war.“ 

Charles E. Hill, Who Chose the Gospels? Probing the Great Gospel Conspiracy (2010)

 

Eusebius selbst befasst sich in Abschnitt 3.24 seiner Kirchengeschichte mit allen vier Evangelien. Er nennt die vier, die wir heute haben, in dieser Reihenfolge: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. In Abschnitt 3.39 identifiziert er Papias als seine Quelle für die Bestätigung, dass die Berichte von Matthäus und Markus echt sind und schon zu Beginn des 2. Jahrhunderts als kanonisch anerkannt waren. Im Zusammenhang mit den Evangelien des Lukas und des Johannes führt er dagegen keine direkten Zitate von Papias an.

Inzwischen haben jedoch angesehene Neutestamentler wie Charles E. Hill nachgewiesen, dass Eusebius eine lange Passage zu diesem Thema aus Papias’ Schriften übernahm und viel von dem Vokabular des Originals beibehielt. Die Form, in die Eusebius den Bericht fasst, lässt erkennen, dass er sich auf eine nicht identifizierte Quellschrift bezieht. Aufgrund einer aufwendigen Untersuchung der Wortwahl bei Eusebius und eines Vergleichs mit ähnlichen Passagen in den Werken von Autoren des 2. und 3. Jahrhunderts, von denen ebenfalls bekannt ist, dass sie Papias gelesen und zitiert hatten (u. a. Irenäus, Origenes und der Autor des Muratorianischen Fragments), kommt Hill zu dem Schluss, dass Eusebius’ Text in der Kirchengeschichte 3.24.5-13 direkt aus Papias zitiert ist. In jener Passage spricht Eusebius über das Matthäusevangelium und fährt dann fort [Original-Schreibweise]:

Als sodann Markus und Lukas ihre Evangelien herausgegeben hatten, so habe zuletzt auch Johannes, der bisher immer nur mit mündlichem Unterrichte sich beschäftigt, aus folgender Ursache zum Schreiben sich entschlossen. Nachdem die erwähnten drei Evangelien schon allen, mithin auch dem Johannes, zu Gesicht gekommen, so habe derselbe ihnen Beifall und das Zeugniß der Wahrheit gegeben; allein eine Darstellung der Thaten Jesu, welche er in den Anfängen seiner Predigt verrichtet, habe diesen Büchern noch gefehlt.“

Da nun deßhalb, wie es heißt, der Apostel Johannes darum ersucht worden war, so habe er den von den andern Evangelisten mit Stillschweigen übergangenen Zeitraum und die darin liegenden Verrichtungen des Erlösers … in seinem Evangelium erzählt.“

Es erzählt demnach Johannes in seiner evangelischen Geschichte die Thaten Christi, welche dieser verrichtete, als Johannes [der Täufer] noch nicht in das Gefängniß geworfen worden war, die übrigen drei Evangelisten aber die Begebenheiten nach der Gefangensetzung des Täufers.“

Nach seiner schlüssigen Darstellung der verfügbaren Informationen bringt Hill seine Einschätzung zum Ausdruck, die Behauptung, ein anderer als Papias sei Eusebius’ Quelle für diese Passage gewesen, „strapaziert die Glaubhaftigkeit deutlich über ihre Belastungsgrenze hinaus“. Er postuliert „nicht nur, dass Eusebius’ Bericht in Historia ecclesiastica 3.24.5-13 von Papias übernommen ist, sondern dass es kaum möglich ist, sich vorzustellen, er könnte von irgendjemand anderem stammen.“

Trotz der Existenz anderer Evangelien […] bezeugen alle diese Leser des Papias – Irenäus, Clemens, [der Autor des]Muratorianischen Fragments, Origenes, Victorinus und Eusebius –, dass nur die vier als apostolisch beglaubigt galten.“ 

Charles E. Hill, „What Papias Said About John (and Luke): A ,New’ Papian Fragment“, in Journal of Theological Studies (October 1998) 

Hills Befunden zufolge bestätigt Papias – dessen Quellen Menschen waren, die an der Seite von Johannes und den anderen Aposteln gegangen waren –, dass Johannes die anderen drei Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) als echt bestätigte. Dies führt wiederum zu dem Schluss, dass die vier Evangelien, die die Christenheit heute nutzt, ihre Autorität und ihre Stellung als kanonische Schriften dem Apostel Johannes verdanken, der sie am Ende des 1. Jahrhunderts beglaubigte (so aufgezeichnet von Papias und später paraphrasiert von Eusebius). Die Ähnlichkeit in den Details anderer Schriften aus dem 2. Jahrhundert bezeugt, dass Papias ihre gemeinsame Quelle war. Dass Johannes gegen Ende des 1. Jahrhunderts die ersten drei Evangelien beglaubigte und ein viertes Evangelium schrieb, wie Papias berichtete, ist auch die Erklärung dafür, dass von Archäologen gefundene Bücher aus dem 2. und frühen 3. Jahrhundert alle vier Evangelien enthalten. Über das Johannesevangelium schrieb Eusebius im frühen 4. Jahrhundert: „Von den johanneischen Schriften wird neben dem Evangelium der erste Brief sowohl noch jetzt, als auch von den Alten allgemein als echt angenommen“ (3.24.17, kursiv vom Autor).

Heute datieren viele Forscher die fünf Bücher des Papias (die in ihrer Gesamtheit als Auslegung der Worte des Herrn bezeichnet werden) auf das erste Jahrzehnt des 2. Jahrhunderts. Das früheste überlieferte Zeugnis, dass die Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes als die gültigen anerkannte, entstand demnach nicht später als 80 Jahre nach dem Tod Jesu Christi.

DER KANON DES NEUEN TESTAMENTS 

Schon vor dem Ende des 1. Jahrhunderts galten verschiedene apostolische Schriften als gleichrangig mit der hebräischen heiligen Schrift, dem Alten Testament. Dies zeigt sich in einem Brief des Petrus, in dem er bemerkt, dass bestimmte Menschen die Schriften des Apostels Paulus „verdrehen, wie auch die andern Schriften, zu ihrer eigenen Verdammnis“ (2. Petrus 3, 16).

Petrus meinte zwar spezifisch die Paulusbriefe, doch ist historisch belegt, dass die vier Evangelien, die im Neuen Testament enthalten sind, von der frühen Kirche am Ende des 1. Jahrhunderts ebenfalls als kanonisch anerkannt worden waren.

Niemand kennt die genaue Zahl der zusätzlichen Berichte, die im Lauf der Jahrhunderte geschrieben wurden. Doch außer den Evangelien von Matthäus, Markus und Lukas wurden alle anderen, die vor dem Johannesevangelium entstanden sein mochten, durch die Entscheidung des Johannes ausgeschlossen. Diese Entscheidung war nicht dem Belieben Konstantins oder irgendeiner anderen nachapostolischen Autorität überlassen, sondern wurde von einem Augenzeugen des Lebens und Wirkens Jesu Christi getroffen. Die endgültige Zusammensetzung der biblischen Evangelien richtete sich nie danach, was zu der Religion verschiedener Gruppen oder Kirchen passte; vielmehr wurde die Sammlung der vier neutestamentlichen Evangelien von der Person sanktioniert, die als der letzte lebende Apostel und Gefährte Jesu Christi selbst gilt.