Ene, mene, muh

Wie Kinder entscheiden lernen

Ene, mene, miste, es rappelt in der Kiste; ene, mene, muh, und raus bist du!“ Es gibt viele solcher Abzählreime für Kinder, doch in welcher Form sie auch angewendet werden – es sind rudimentäre Instrumente der Entscheidungsfindung. In aller Welt entscheiden Kinder damit, wer in ihrer Mannschaft spielen soll, welche Schokolade sie essen oder wer von den Geschwistern den Knopf für den Fahrstuhl drücken darf.

Doch die Entscheidungen, die Kinder zu treffen haben, werden unweigerlich komplexer – und die Folgen schlechter Entscheidungen auch. Der Entschluss für Hausaufgaben statt Videospiele kann den Unterschied zwischen guten und schlechten Noten bedeuten, die Entscheidung für die eine statt die andere Freundin macht den Unterschied zwischen Erfahrungen mit riskantem Verhalten oder positiven Erfahrungen aus, die den Horizont erweitern. Tatsächlich hängt nahezu jeder Aspekt des Wohlergehens unserer Kinder davon ab, wie geschickt sie darin werden, kluge Entscheidungen zu treffen.

Wenn wir Eltern werden, wissen wir, dass eine einzige Fehlentscheidung jahrelange Konsequenzen haben kann, und deshalb wollen wir unseren Kindern dabei helfen, kompetent entscheiden zu lernen. Doch welche Fähigkeiten brauchen sie, und wie sollen Eltern diese vermitteln? Sollen wir sie lehren, Kosten-Nutzen-Analysen durchzuführen, bis sie „die“ vernünftige Option ermittelt haben? Oder sollen wir sie lehren, ihrem Bauchgefühl zu vertrauen und den Kopf ruhen zu lassen, damit das Herz die Führung übernehmen kann, wie manche Selbsthilfegurus raten? Und wie lernen Kinder überhaupt, eine Entscheidung als gut oder schlecht zu beurteilen?

Die Werte, die solchen Beurteilungen zugrunde liegen, bekommen Kinder zunächst von ihren Eltern vermittelt. Doch wenn Eltern gar nicht wissen, wie sie zu ihren eigenen Entscheidungen gelangen, besteht das Risiko, dass sie Gewohnheiten weitergeben, die nicht den Werten entsprechen, die sie mit so viel Mühe zu vermitteln suchen. Etwas darüber zu wissen, wie Menschen Entscheidungen treffen, kann uns bei der Kindererziehung helfen, aber auch bei dem Bestreben, mit unserer eigenen Weise der Entscheidungsfindung geeignete Vorbilder zu sein.

Das Mysterium, wie wir Entscheidungen treffen, … ist eines der ältesten Mysterien des Denkens. Obwohl wir durch unsere Entscheidungen definiert werden, haben wir oft keine Ahnung, was beim Prozess der Entscheidungsfindung in unserem Kopf vorgeht.“ 

Jonah Lehrer, How We Decide (2009)

ENTSCHEIDUNGSFINDUNG – GRUNDLAGEN 

Wie entstehen Entscheidungen? Im Laufe der Jahre sind viele Theorien darüber aufgestellt und verfeinert worden, während Fortschritte der Neurowissenschaften erhellen, was dabei tatsächlich im Gehirn vor sich geht. Inzwischen ist bekannt, dass an Entscheidungen – ähnlich wie andere zentrale Fähigkeiten, z. B. Selbstbeherrschung („Kinder erziehen: Die Kunst der Selbstbeherrschung“) – sowohl automatische als auch kontrollierte Prozesse beteiligt sind. Je nach theoretischem Ansatz beschreiben Forscher diese als intuitive, assoziative, System-1- oder emotionale Prozesse, die neben logischen, analytischen, System-2- oder kognitiven Prozessen ablaufen. Seit Jahrhunderten gelten diese beiden Systeme als miteinander konkurrierend. Viele kluge Denker, darunter Platon, René Descartes und Sigmund Freud, meinten, in der am höchsten entwickelten Gesellschaft werde die Logik über das Gefühl herrschen. Wenn wir uns also wirklich wie der Vulkanier Spock verhalten würden, der nie Emotionen zeigt, dann würde unser Fortschritt nicht mehr durch etwas so Primitives wie menschliche Empfindsamkeit behindert werden.

Diese Vorstellung hinter sich zu lassen, kann schwerfallen. Der Neurowissenschaftler C. Daniel Salzman vom Kavli Institute for Brain Science schreibt: „Wenn man über seine eigene Entscheidungsfindung nachdenkt, erliegt man vielleicht der Selbsttäuschung, wir seien vollkommen rationale Wesen, doch das ist natürlich weit gefehlt. Wie wir uns entscheiden, ist eindeutig immer von emotionalen Faktoren beeinflusst.“

Der Rhodes-Scholar Jonah Lehrer unterstreicht dies in seinem Buch How We Decide (2009) mit Befunden der Neurowissenschaft: „Die schlichte Wahrheit ist, dass wir, um gute Entscheidungen zu treffen, beide Arten des Denkens nutzen müssen“, schreibt er. „Manchmal müssen wir unsere Optionen durchdenken und die Möglichkeiten sorgsam analysieren. Und manchmal müssen wir auf unser Gefühl hören.“ Tatsächlich, betonen Neurowissenschaftler, wirken bei vielen unserer Entscheidungen beide Denkstile in unterschiedlicher Gewichtung zusammen. Jedes System kann aber getäuscht werden; deshalb ist es wichtig zu wissen, wie wir es jeweils nutzen – ob wir dazu neigen, einem von ihnen den Vorzug zu geben, und wie sie am besten zusammenwirken.

Lehrer beschreibt es mit anderen Worten: „Wir müssen immer bedenken, wie wir denken.“ Diese Fähigkeit heißt Metakognition, und laut dem Entwicklungspsychologen Paul Klaczynski ist metakognitive Kompetenz – die Fähigkeit, unsere eigenen Denkprozesse zu verstehen – von entscheidender Bedeutung, um viele Fallstricke und Trugschlüsse zu vermeiden, über die wir auf dem Weg zu Entscheidungen stolpern können.

ERFAHRUNG: EIN FEHLBARER LEHRER 

Die meisten von uns können spontan einige der Täuschungen nennen, denen unsere logischen Prozesse erliegen. Doch auch unser Gefühl kann getäuscht werden – trotz der eindrucksvollen Effizienz des Dopaminsystems im Gehirn. Dopamin ist ein Neurotransmitter (Botenstoff), der dazu beiträgt, auf der Basis von Erfahrungen emotionale Erwartungen zu bilden. Wenn uns eine neuartige Erfahrung begegnet, wird das Dopaminsystem aktiv und meldet uns, dass etwas Unerwartetes und potenziell Wichtiges geschehen ist. Es kann Furcht oder Freude auslösen, doch in beiden Fällen wird die Erfahrung gespeichert und dient künftig zur Orientierung. Ein Großteil der Daten, die es aus unserer Umwelt aufnimmt und speichert, ist subtil. Oft ist uns nicht bewusst, dass wir die Informationen aufnehmen; doch sie sammeln sich an und bilden die Basis für unser Bauchgefühl, mit dem wir in bestimmten Situationen recht gut spontan entscheiden können. Das ist hilfreich, wenn wir am Steuer oder beim Sport in Sekundenbruchteilen reagieren müssen. Daniel Kahneman, dessen Arbeit über Entscheidungsprozesse mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde, weist allerdings auf, dass dies bei uns nicht immer funktioniert. Wenn keine aktuellen Erfahrungen zur Orientierung verfügbar seien, schreibt er, greife unser „System 1“ (unser emotionaler Prozessor) auf ältere Erinnerungen zurück. Oft ziehe es dann vorschnell Schlüsse, ohne uns auch nur zu melden, dass etwas nicht eindeutig war, und wir blieben in seliger Unkenntnis darüber, dass Zweifel angebracht wären.

Es ist offensichtlich, wie emotionale Voreingenommenheit und fehlerhafte „Faustregeln“ unser Urteilsvermögen beeinträchtigen können, wenn sie nicht durch bewussteres Denken korrigiert werden. Doch es gibt ein weiteres Problem: die Zufälligkeit dessen, was uns begegnet. Das Dopaminsystem deutet unsere Erfahrungen zu Mustern und neue Erfahrungen anhand dieser Muster. Der Nachteil dabei ist, dass wir auch dort, wo keine Muster vorliegen, bedeutungsvolle Trends wahrnehmen, die eigentlich gar nicht da sind. Dies ist ein Grund dafür, dass manche Menschen aufgrund einer Handvoll von Zeugenberichten an Quacksalbereien glauben oder in einer zufälligen Konstellation von Ereignissen die ganz große Verschwörung sehen. Das menschliche Gehirn will Muster entdecken. Das ist zwar dann hilfreich, wenn Muster vorliegen, kann uns aber auf die falsche Spur bringen, wenn sie nicht vorliegen. Die Erkenntnis dieses Fehlerpotenzials sollte uns motivieren, zu hinterfragen, wie wir denken; und je mehr wir das tun, desto besser lernen wir, wann es angebracht ist, auf unser Bauchgefühl zu hören, und wann wir es anhand konkreter Fakten überprüfen sollten.

Manche Voreingenommenheiten und Fehleinschätzungen, die in unserem emotionalen Gedächtnis gespeichert sind, sind leider schwer auszumerzen, insbesondere wenn sie in lang anhaltenden Erfahrungen mit Trauma und Misshandlung entstanden sind. Wiederholte traumatische Erlebnisse können uns zu einer übersteigerten Wachsamkeit gegenüber Gefahr und Negativität programmieren, und wiederholte vergebliche Versuche, unsere Situation zu ändern, können uns ein Gefühl der Hilflosigkeit einprägen. Wenn die Belastung zu groß ist, können diese emotionalen Programme so tief in die Struktur unseres Gehirns eindringen, dass wir Fakten, die von unseren früheren Erfahrungen abweichen, ignorieren – und seien sie noch so konkret. Unser negatives Bauchgefühl in solchen Fällen trägt nicht nur zu Fehlentscheidungen bei, sondern zu einer Vielzahl psychischer Störungen, die wiederum weitere Fehlentscheidungen begünstigen. „Bei vielen psychiatrischen Störungen“, bemerkt Salzman, „treffen Patienten mit der entsprechenden Symptomatik häufig den ganzen Tag lang in vielen Dingen schlechte Entscheidungen, z. B. im Umgang mit ihrer Angst und anderen emotionalen Befindlichkeiten. Wer einen Freund oder Angehörigen mit Depressionen hat, kann sehen, dass dieser Entscheidungen nicht so trifft wie sonst.“

Selbst in der Kindheit variiert die Qualität des Denkens je nach Kontext erheblich. Dasselbe Kind kann in manchen Situationen gut denken, in anderen dagegen durch Voreingenommenheit großen Irrtümern erliegen.“ 

David Moshman, „Commentary: The Development of Thinking“ (2005)

Damit ist klar, dass Erfahrung unser Bauchgefühl falsch informieren kann, und dies kann so weit gehen, dass sie unsere Entscheidungsfähigkeit erheblich stört. Doch wenn wir verlässliche Erfahrungen haben, die richtig gedeutet werden, können unsere Emotionen eine wertvolle Hilfe für das logische Denken sein. Es dauert allerdings seine Zeit, bis sich Erfahrung ansammelt – deshalb müssen Kinder und Jugendliche unter Anleitung üben, Entscheidungen zu treffen und darüber nachzudenken, wie sie denken. Dies ist eine wichtige Aufgabe für Eltern, denn auch wenn Kinder beginnen, diese metakognitiven Fähigkeiten zu entwickeln, fehlt ihnen oft noch der eigene Antrieb, diese Fähigkeiten auch auszuüben.

Neben der Metakognition sieht David Moshman, Professor für Erziehungspsychologie, eine zweite wichtige Grundlage für Entscheidungskompetenz: ein Gefühl der Identität. Es sei zu erwarten, schreibt er, „dass es sich entwickelt, während wir unsere Überzeugungen, Werte und Verpflichtungen formulieren“. Wenn diese (vermutlich von Eltern vermittelten) Werte verinnerlicht sind, werden sie der primäre Bestimmungsfaktor nicht nur für das logische Denken von Kindern, sondern auch für ihre Emotionen, die bei moralischen Entscheidungen eine zentrale Rolle spielen.

Dies zeigte sich deutlich bei Studien von Neurowissenschaftlern über Patienten mit Hirnschäden, von denen das für Gefühle verantwortliche Hirnareal betroffen war. Solche Patienten behalten die Fähigkeit zu schlüssigen logischen Entscheidungen nach den reinen Buchstaben des Gesetzes (z. B. „Ist es in Ordnung, zu morden?“), doch bei moralischen Szenarien, die eine komplexere Gewissensentscheidung erfordern – z. B. ob es in Ordnung ist, ein Baby zu töten, wenn dadurch neun Erwachsene gerettet würden –, waren die Ergebnisse erschreckend. Menschen, die ihre emotionale Kompetenz verloren haben, sehen kein komplexes Dilemma. Ohne Zögern wählen sie die Antwort des größten „Nutzens“: „Klar, das Baby ersticken.“

Moralische Entscheidungen sind einzigartige Entscheidungen. Wenn man sich Produkte im Supermarkt aussucht, die bestmögliche Erdbeermarmelade, will man seinen eigenen Genuss maximieren … Bei moralischen Entscheidungen muss man andere Menschen berücksichtigen.“ 

Jonah Lehrer, How We Decide (2009) 

WIE ELTERN ENTSCHEIDUNGSKOMPETENZ FÖRDERN 

Wenn Eltern sehen, wie wichtig es ist, dass logische und emotionale Prozesse zusammenwirken, muss es ihnen ein großes Anliegen sein, ihren Kindern dabei zu helfen, diese Funktionen integrieren zu lernen. Oft wird davon gesprochen, die rechte und die linke Hirnhälfte zu integrieren, wobei vorausgesetzt wird, dass es sich um Rechtshänder handelt und dass die rechte Hälfte der Sitz der Emotionen und Intuitionen ist, während die linke Logik und Sprache steuert.

Bei Kindern ist zunächst die rechte Hirnhälfte dominant. Säuglinge kommunizieren durch Gefühlsäußerungen.Wir wissen, wann sie Hunger haben oder sich nicht wohlfühlen, weil sie weinen. Fast instinktiv reagieren engagierte Eltern mit dem Versuch, die Gefühle ihres Kindes in Worte zu fassen. „Ist dir kalt?“, fragen sie vielleicht und fassen auch ihre Abhilfemaßnahmen in Worte: „Dann bekommst du eine Decke.“ Die linke Hirnhälfte als der logische Prozessor versucht, Erfahrung zu deuten, und dabei hilft die Umsetzung in Sprache. Wenn Eltern ihren kleinen Kindern helfen, ihre Erfahrungen in Worte zu fassen, vermitteln sie ihnen nicht nur Sprachkompetenz, sondern sie helfen ihren Kindern auch, Ereignisse in eine begriffliche Sequenz zu ordnen.Beides ist von grundlegender Bedeutung für die Integration ihrer emotionalen und logischen Prozesse. Doch um gute Entscheidung treffen zu können, ist auch die Fähigkeit erforderlich, Impulse zu integrieren und Prozesse zu steuern – die Fähigkeit der Selbstregulierung.

Der Psychiatrieprofessor Daniel Siegel von der University of California in Los Angeles bezeichnet dies als Integration der zwei „Etagen“ des Gehirns. „Es sollte das Ziel von Eltern sein“, schreiben er und die Kindertherapeutin Tina Payne Bryson, „die Entstehung und Festigung der metaphorischen Treppe, die das obere und das untere Gehirn des Kindes miteinander verbindet, zu unterstützen, sodass beide als Team zusammenarbeiten können“ (The Whole-Brain Child: 12 Revolutionary Strategies to Nurture Your Child’s Developing Mind, 2011). Allerdings erinnern Siegel und Bryson auch daran, dass das „obere Gehirn“ erst mit Mitte zwanzig oder sogar noch später voll ausgereift ist. Dies sei wichtig, denn „die Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die wir bei unseren Kindern wünschen und erwarten, z. B. vernünftige Entscheidungen, Beherrschung ihrer Gefühle und ihres Körpers, Selbsterkenntnis und Moral, hängen von einem Teil ihres Gehirns ab, der noch nicht voll entwickelt ist.“ Deshalb, so die Autoren, „kommt es immer wieder vor, dass Kinder ‚unten festsitzen‘, was dazu führt, dass sie ausrasten, schlechte Entscheidungen treffen und einen generellen Mangel an Empathie und Selbsterkenntnis zeigen“.

Eltern haben endlos viele Möglichkeiten, ihre Kinder bei der Integration ihres Gehirns – rechts-links ebenso wie oben-unten – zu unterstützen. Natürlich lässt es sich nicht verhindern, dass wir einige dieser Möglichkeiten verpassen. Manchmal machen wir den Fehler, die Gefühle unserer Kinder zu übergehen und mit unserer besten Logik und Argumentation auf sie einzureden. Das ist wie der Versuch, eine Tür mit einem Schlüssel zu öffnen, der nicht passt, und bewirkt oft Frustration bei den Eltern wie beim Kind. Das bedeutet nicht, dass Eltern ganz auf Logik und Argumentation verzichten sollen. Doch um die Tür zur logischen Seite eines Kindes zu öffnen, muss man zunächst seine emotionale Seite erreichen und eine gemeinsame persönliche Ebene schaffen, die nötig ist, um Zugang zu der logischen Seite des kindlichen Gehirns zu erhalten. Eine Mutter erkennt z. B. die Angst ihres Sohnes vor Gewittern an und zeigt Verständnis; vielleicht erzählt sie sogar von einer ähnlichen Erfahrung in ihrer Kindheit. Das hilft dem Kind, seine Angstgefühle in Worte zu fassen, seinem Erleben eine Bedeutung zu geben oder seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, es zu durchdenken.

Es kommt auch vor, dass wir Chancen verpassen, Kinder zum Einsatz ihres präfrontalen Kortex zu führen – ihres „oberen Gehirns“. Kinder können und sollten möglichst häufig Gelegenheit bekommen, das Entscheiden zu üben, allerdings in altersgerechter und nicht überwältigender Form. Ein Zweijähriger sollte z. B. in der Lage sein, zwischen zwei oder drei Eissorten zu wählen, aber ihn zwischen 31 Sorten wählen zu lassen, könnte den Besuch im Eiscafé zu einer frustrierenden Situation für Eltern und Kind machen.

Wenn Kinder älter werden, reagieren engagierte, auf die Kindesentwicklung bedachte Eltern wahrscheinlich auf Anzeichen dafür, wann es Zeit sein könnte, Kinder komplexere Entscheidungen üben zu lassen.

So verlockend es sein mag, Kinder daran zu hindern, auch nur die kleinsten Fehler zu machen – Eltern tun ihren Kindern keinen Gefallen, wenn sie das Ergebnis jeder Entscheidung steuern. Zweifelsohne gibt es Entscheidungen, die das ganze Leben verändern, und hier müssen sich Eltern stärker einbringen. Doch wenn die Konsequenzen relativ begrenzt sind, z. B. bei der Frage, wofür das Taschengeld ausgegeben wird, können größere Kinder wertvolle Erfahrungen sammeln, indem sie um eine Entscheidung ringen und feststellen, dass sie mit den Folgen leben müssen. Selbst Kleinkinder können aus den Entscheidungen lernen, die man sie treffen lässt. Außerdem lernen Kinder aller Altersgruppen aus den Entscheidungen ihrer Eltern. Wenn Eltern darüber sprechen, was ihre Pläne und Ziele sind und was sie tun, um diese zu erreichen, leben sie vor, wie man Entscheidungen trifft. Gleichzeitig geben sie den Kindern das Gefühl, dass sie beteiligt werden – eine weitere Form des Übens unter Anleitung.

Hierfür ist es nie zu früh. Schon mit 18 Monaten können Kinder Begriffe wie „Gerechtigkeit“, „Gegenseitigkeit“ sowie richtiges gegenüber falschem Verhalten und Strafe verstehen. Selbst in diesem Alter verstehen Kinder, ob ein Verstoß absichtlich oder versehentlich geschieht, und beurteilen den Verantwortlichen dementsprechend. Auch für Ursache und Wirkung, einen weiteren wichtigen Aspekt des Entscheidens, haben sie schon ein Verständnis, das allerdings noch unvollkommen ist. Sehr kleine Kinder assoziieren natürlich manchmal zwei Ereignisse, die nichts miteinander zu tun haben, einfach weil sie zur selben Zeit geschehen sind. Doch wenn Eltern mit ihren Kindern spielen, ihnen vorlesen und die Ereignisse des Tages mit ihnen besprechen, können sie sie auf kausale Zusammenhänge hinweisen und gleichzeitig Empathie, moralische Werte und logisches Denken lehren.

Wenn sie aus dem Kleinkindalter herauswachsen – zwischen drei und sechs Jahren –, besitzen Kinder eine „Bewusstseinstheorie“, die sie befähigt zu verstehen, dass andere Personen Gedanken, Gefühle und Überzeugungen haben können, die anders als ihre eigenen sind. Dadurch können sie ihr eigenes Erleben objektiver sehen: Sie üben, sich die Sichtweise einer anderen Person vorzustellen. Diese Fähigkeit ist im Vorschulalter allerdings noch nicht voll entwickelt. Ein fünf- oder sechsjähriges Kind, dem ein Spielkamerad aus Versehen wehtut, glaubt vielleicht, dass es mit Absicht geschehen sei. Doch Eltern können die Logik von Kindern in diesen Bereichen fördern, indem sie ihnen helfen, ihre Annahmen und vorgefassten Meinungen zu hinterfragen. Vorschulkinder beginnen die Erwartungen und Werte ihrer Familie zu verinnerlichen, die die Basis des Gewissens bilden. Mit etwa acht Jahren haben sich diese Grundlagen so weit entwickelt, dass die Kinder sowohl Absicht als auch Folgen berücksichtigen können, wenn sie ein moralisches Urteil fällen, und dass sie unterscheiden können, ob eine Handlung gegen Regeln der Moral oder gegen gesellschaftliche Konventionen verstößt.

NACH DER KINDHEIT 

Bis vor Kurzem konzentrierte sich die Forschung über die kindliche Entwicklung der Entscheidungskompetenz überwiegend auf Jugendliche, insbesondere im Zusammenhang mit dem Eingehen von Risiken. Jugendliche werden als generell risikofreudig gesehen, doch schon vierjährige Kinder entscheiden sich oft dafür, ein Risiko einzugehen, wenn dafür eine größere Belohnung winkt. Jugendliche haben allerdings viel höher entwickelte rationale Fähigkeiten als kleinere Kinder. Sie können reflektieren, sich hypothetische Situationen vor Augen führen, deduktive Schlüsse ziehen und mögliches Bedauern vorhersehen. Und sie entscheiden nicht einfach aufgrund einer Risikokalkulation. Auch die Familie, die Gruppe der Gleichaltrigen, die Kultur und viele andere Faktoren beeinflussen ihre Entscheidungen. Tatsächlich können Jugendliche überraschend „erwachsen“ mit Risiken umgehen. Die meisten Erwachsenen würden z. B. die Gefahr, beim Russischen Roulette eine Kugel abzubekommen, nicht erst mathematisch durchrechnen, ehe sie beschließen, ob sie spielen, sondern sie würden das Risiko einfach als lebensgefährlich einstufen und sich nicht darauf einlassen. Jugendliche sind absolut fähig, so über Risiken zu denken, besonders wenn sie dazu von Eltern angeleitet wurden, die ihnen regelmäßig die Möglichkeit gegeben haben, sich im Entscheiden zu üben, selbst daran mitgewirkt haben und angemessene Standards und Werte als Basis vorgegeben haben. Eltern müssen keine Angst davor haben, Jugendliche das eigenständige Entscheiden üben zu lassen. Wenn das familiäre Umfeld Heranwachsende unterstützt und sie sich eingebunden fühlen, werden sie bei wichtigen Entscheidungen nicht zögern, sich mit den Eltern zu beraten.

Von Eltern und Gleichaltrigen kommen verschiedene Arten von Unterstützung und Einfluss … Im Kontext dieser Beziehungen suchen Jugendliche sowohl bei ihren Eltern als auch bei Gleichaltrigen Orientierung in Fragen des Alltags und für zukunftsorientierte Entscheidungen.“ 

Laura L. Finken, „The Role of Consultants in Adolescents' Decision Making: A Focus on Abortion Decisions“ (2005)

Untersuchungen haben ergeben, dass Jugendliche bei wichtigen Entscheidungen zwar Ratschläge von Gleichaltrigen berücksichtigen, doch in den meisten Fällen dem Rat ihrer Eltern das größte Gewicht beimessen. Ob dieses Vertrauen hilfreich ist, hängt von der Entscheidungskompetenz der Eltern selbst ab.

Bedauerlicherweise gibt es kein magisches Alter, in dem Menschen ein „reifes“ Urteilsvermögen erreichen. Moshman schreibt: „Entwicklung nach der Kindheit ist offenbar kein allgemeiner Fortschritt zu irgendeinem Endpunkt, den jeder in einem spezifizierbaren Alter erreicht. Entwicklungsfortschritt nach der Kindheit ist subtiler und facettenreicher.“ Mit anderen Worten: Es gibt keine Garantie, dass Erwachsene fehlerfreie Entscheidungen treffen.

Doch wenn Eltern ihren Kindern helfen wollen, gutes Entscheiden zu lernen, müssen sie selbst das Stadium des „Ene, mene, muh“ weit hinter sich gelassen haben. Wenn wir das erreichen wollen, muss das „Rappeln in der Kiste“ die Aktivität in unserem Kopf sein – das Nachdenken darüber, wie wir denken. Ohne sich selbst zu prüfen, kann niemand von uns sicher sein, ob die grundlegenden Werte, Überzeugungen und Techniken, mit denen wir Entscheidungen treffen, tragfähig sind – und wenn unsere es nicht sind, werden die unserer Kinder es wahrscheinlich auch nicht sein.

Zu hinterfragen, was wir denken, ist dann vielleicht weniger wichtig als zu hinterfragen, wie wir denken. Wenn unsere Gedanken und Gefühle auf falschen Voraussetzungen beruhen, können wir unsere Entscheidungen auch anhand von Abzählreimen treffen und unsere Kinder lehren, das Gleiche zu tun.