Jedermanns Geld: Kapitalismus, Demokratie und globaler Wohlstand

Teil 2

In der letzten Ausgabe wurden das Aufkommen und die Entwicklung des Kapitalismus vom 16. Jahrhundert bis zu der Zeit kurz vor der Weltwirtschaftskrise der 1930er- und frühen 40er-Jahre dargestellt. Hier wird die Betrachtung des weltbeherrschenden Wirtschafts-systems fortgesetzt.

Der Kapitalismus entwickelte sich langsam, bis Adam Smith der Welt im Jahr 1776 seine Gedanken in seinem großen Werk The Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen) präsentierte. Der Zeitpunkt hätte nicht günstiger sein können: Im selben Jahr erklärten die amerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit von Großbritannien. Demokratie und freie Marktwirtschaft begannen ihren unaufhaltsamen Siegeszug, und mit ihnen die Politik des Individualismus.

Innerhalb weniger Jahrzehnte eroberte der Kapitalismus Großbritannien, wo im 19. Jahrhundert die Industrielle Revolution Fuß fasste. Der Schmerz und das Leid, das dieser neue, rohe und ungebremste Kapitalismus mit sich brachte, boten eine Plattform für die radikalen Ansichten des Karl Marx, der voraussagte, dass aus der selbstverschuldeten Vernichtung des Kapitalismus eine klassenlose, kommunistische Gesellschaft hervorgehen werde.

Doch der Kapitalismus passte sich an und fand einen neuen Vorkämpfer in den USA, gestärkt durch Millionen von Einwanderern, die in der dortigen freien Wirtschaft ein besseres Leben suchten. Der ungezügelte Kapitalismus der Räuberbarone, Monopolisten und Finanziers „vergoldete“ die Zwanziger Jahre; jedes Kind kannte Namen wie John D. Rockefeller, Pierre DuPont, J.P. Morgan, Henry Ford und Andrew Carnegie. Der Kapitalismus schien alle Probleme zu lösen. Herbert Hoover verkündete 1928 in seinem Präsidentschaftswahlkampf kühn: „Mit Gottes Hilfe werden wir bald den Tag erblicken, an dem die Armut aus dieser Nation verbannt sein wird.“

Entgegen Hoovers Optimismus brach mit dem Börsenkrach vom 29. Oktober 1929 die Weltwirtschaftskrise aus - der Tag wird heute als Schwarzer Freitag bezeichnet. Die Börse verlor in nur zwei Monaten 40 Milliarden Dollar an Wert (alle Gewinne der vorausgegangenen beiden Jahre). Die Krise griff rasch auf die meisten Industrieländer der Welt über und spielte eine bedeutende Rolle für das dann folgende Weltgeschehen. Deutschland, bereits destabilisiert durch die Hyperinflation, die zum Teil eine Folge horrender Reparationsschulden von 132 Milliarden Mark aus dem Ersten Weltkrieg war, wurde noch weiter in die Tiefe gerissen, sodass Adolf Hitler und die Nationalsozialisten leichtes Spiel hatten. Bis 1933 ging das Bruttosozialprodukt der USA um mehr als 50% zurück, und 14 Millionen Arbeitnehmer - ein Viertel der erwerbsfähigen Bevölkerung - waren arbeitslos.

Etwas mehr als ein Jahrhundert zuvor hatte Thomas Robert Malthus die Möglichkeit eines „allgemeinen Überangebots“ in der Wirtschaft vorausgesagt; seine Kollegen hatten sich damals darüber lustig gemacht. Ein Überangebot oder eine „Depression“ galt als unmöglich, denn man hielt den Kapitalismus für ein System, das sich von Natur aus selbst korrigierte. In den 1930er-Jahren hatten die Wirtschaftswissenschaftler keine Antwort auf eine Depression; sie konnten nur dasitzen und über diese offenbar unheilbare Krankheit die Hände ringen. Anhaltender Konjunkturabschwung und hohe Arbeitslosigkeit passten nicht zu den klassischen Wirtschaftsmodellen. Hatte Marx doch Recht? Hatte der Kapitalismus von Anfang an den Keim seiner Vernichtung in sich getragen?

TOTGESAGTE LEBEN LÄNGER

An diesem kritischen Punkt war der Kapitalismus wohl ein Paradebeispiel für den berühmten Spruch des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain: „Die Berichte über meinen Tod waren übertrieben.“ Er lag flach auf dem Rücken - aber er war noch lange nicht tot. Um ihn zu kurieren, musste jedoch ein reicher, exzentrischer britischer Ökonom kommen. John Maynard Keynes (siehe die Kurzbiografie unter „Bio Vision“) war ohnehin schon berühmt, doch mit seinem Buch The General Theory of Employment, Interest and Money (Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, 1935-36) revolutionierte dieser brillante Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler das ökonomische Denken. Keynes veränderte die Art, wie kapitalistische Länder ihre Wirtschaft sehen und organisieren. Das Grundthema seines Werkes war, dass der Kapitalismus keinen automatischen Sicherungsmechanismus hat. Die Konjunktur konnte, wie ein Fahrstuhl, in den Keller gehen und dort bleiben.

Dem klassischen ökonomischen Modell zufolge korrigiert sich der Konjunkturzyklus automatisch selbst: In einem Abschwung gehen Arbeitskosten und Zinssätze zurück; dies fördert Investitionen in Unternehmen und verbessert die Wirtschaftsaussichten. Keynes dagegen stellte fest, dass die Wirtschaft dadurch bestimmt wird, was wir alle erwirtschaften, und durch die Mittelströme, die von Hand zu Hand fließen. Diese Ströme sind es, die die Wirtschaft immer wieder beleben, sodass auf eine schwere Störung des Gleichgewichts zwischen Verbrauch und Investitionen unweigerlich Probleme folgen. Dieser Zyklus von Aufschwung und Abschwung ist eine natürliche Folge der Freiheit der Wirtschaft, bemerkte Keynes; eine anhaltende Depression hingegen ist jedoch etwas ganz anderes. In einer Depression wird der Bestand an Ersparnissen, die für Investitionen eingesetzt werden könnten, erschöpft. Nicht nur sparen die Leute nicht - sie müssen ihre Ersparnisse aufbrauchen, um zu überleben.

Hier tritt der Keynesianismus auf den Plan. Keynes argumentierte, wenn die Unternehmen nicht investieren könnten oder wollten, müsste der Staat dies tun und die Lücke mit Investitionen der öffentlichen Hand füllen. Diese Intervention sollte Keynes zufolge vorübergehend sein, eine Art Anschub; doch in den westlichen Volkswirtschaften fasste die Konzeption der gelenkten Wirtschaft bald Fuß in der Politik und führte zu Sozialismus und mit Defiziten finanzierten Staatsausgaben. Noch heute kämpfen viele Regierungen mit den Schwierigkeiten, altgewohnte Sozialprogramme abzuschaffen, die ihr Wirtschaftswachstum behindern.

Der dekadente internationale, aber individualistische Kapitalismus, dem wir uns seit Kriegsende ausgeliefert sehen, ist alles andere als ein Erfolg. Er ist nicht intelligent, er ist nicht schön, er ist nicht gerecht, er ist nicht edel  und er leistet nicht das, was er soll.“

JOHN MAYNARD KEYNES, „NATIONAL SELF-SUFFICIENCY“ („NATIONALE SELBSTGENÜGSAMKEIT“) 

Mit dem Zweiten Weltkrieg endete die Depression, und die USA nahmen die Vormachtstellung im internationalen Kapitalismus ein, die sie bis heute halten. Von 1943 bis 1944 hielten die USA und ihre Alliierten eine Reihe von Konferenzen ab, um ein System für die Regelung des internationalen Handels und Zahlungsverkehrs zu schaffen, den Goldstandard für Währungen einzuführen und die Grundlagen für die Hüter der internationalen Finanzströme zu legen: die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds. Robert Heilbroner berichtet in seinem Buch The Worldly Philosophers, dass Keynes nach seiner Rückkehr von der Schlusskonferenz in Bretton Woods (New Hampshire) nach England von einem Reporter gefragt wurde, ob England nun der 49. US-Staat sei, worauf er zynisch antwortete: „Schön wär's.“

DIE ARMEN WERDEN ÄRMER

Gleichzeitig entstand durch den Prozess der Entkolonialisierung eine „Dritte Welt“ - so genannt, weil sie weder zum Block der blühenden kapitalistischen Länder noch zum kommunistischen Block gehörten. Während die vorherrschenden kapitalistischen Volkswirtschaften der Welt ihre Kontrolle über Produktion und Handel ausweiteten, diente die Dritte Welt hauptsächlich als Quelle für Rohstoffe und billige Arbeit.

Mit dem Rückzug der Kolonialmächte kam es vermehrt zu Gewalt und Bürgerkriegen, insbesondere in Afrika. Kriege innerhalb dieser Länder sind noch heute eine Geißel. Laut dem Economist vom 24. Mai 2003 „sind heute fast alle Kriege Bürgerkriege. Viele der Gründe sind wirtschaftliche.“ Dieser Sonderbericht untersuchte eine Studie der Weltbank und kam zu dem Schluss: „Die besten Vorzeichen für einen Bürgerkrieg sind niedrige Durchschnittseinkommen, niedriges Wachstum und starke Abhängigkeit von Rohstoffexporten, z.B. Öl oder Diamanten.“ Weiter merkte der Artikel an: „Die auffallendste Gemeinsamkeit von Ländern mit Kriegsneigung ist ihre Armut. Reiche Länder erleiden fast nie Bürgerkriege, und Länder mit mittleren Einkommen selten. Doch das ärmste Sechstel der Menschheit muss vier Fünftel der Bürgerkriege weltweit ertragen.“

In jeder Epoche war der Kapitalismus gleichzeitig ein Faktor der Vereinheitlichung, ja Standardisierung, und ein Faktor der Akzentuierung von Unterschieden, Unvereinbarkeiten und Ungleichheiten.“

Michel Beaud, A History of Capitalism, 1500–2000

Die ungleiche Verteilung von Wohlstand und Einkommen ist ein beunruhigendes Merkmal des globalen Kapitalismus. Der französische Historiker Michel Beaud findet, die derzeitige Globalisierung sei polarisiert, ungleich und asymmetrisch, und sie habe „die Ungleichheit zwischen den Wohlhabenden, Reichen und sehr Reichen einerseits und den Armen und sehr Armen andererseits“ vertieft. Thomas L. Friedman bemerkt in seinem Buch The Lexus and the Olive Tree: „Die Kluft zwischen dem ersten und dem zweiten Platz wird größer, und die Kluft zwischen dem ersten und dem letzten Platz wird Schwindel erregend.“ Ein Beispiel: Am 13. Oktober 1997 berichtete das Magazin Forbes, dass es 1997 in den USA 170 Milliardäre gab - gegenüber 13 im Jahr 1982. Dies lässt auch beunruhigende Ähnlichkeiten mit dem Wohlstand vor der Depression der 1930er-Jahre erkennen, der laut Heilbroner ungleich verteilt und in den Händen weniger amerikanischer Familien konzentriert war, während der Durchschnittsamerikaner „sein Haus bis unters Dach beliehen und seine Ressourcen durch die Versuchung des Ratenkaufs gefährlich erweitert hatte“.

VERNETZT

Als das 20. Jahrhundert zu Ende ging, fuhr der Kapitalismus fort, seine Weltherrschaft durch Globalisierung, Technologie, internationale Finanzen und die Vereinheitlichung der Gesellschaft zu festigen. Der globale Kapitalismus war das dominante Wirtschaftssystem geworden; die von der Sowjetunion im Kalten Krieg aufgebauten Barrieren wurden umgestoßen. Mit dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 lösten sich alle Hemmnisse auf, die der Globalisierung des Kapitalismus entgegengestanden hatten.

Zeitgleich mit dem politischen Umbruch des späten 20. Jahrhunderts kam eine Explosion von Informationen. Ein Beispiel hierfür ist das „Moore'sche Gesetz“ (nach Gordon Moore, dem Mitbegründer des amerikanischen Computerchip-riesen Intel Corporation). Es besagt, dass sich die Zahl der Transistoren auf einem Chip etwa alle zwei Jahre verdoppelt. Das Wachstum der Informationstechnologie illustriert auch einen Begriff, den der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter berühmt machte - „kreative Zerstörung“. Er bezeichnet den endlosen Kreislauf der Zerstörung alter, ineffizienter Produkte oder Dienstleistungen, die durch effizientere ersetzt werden. Intel hat die kreative Zerstörung durch seine ständigen technologischen Pionierleistungen perfektioniert, sodass das Moore'sche Gesetz ein Alltagsphänomen wurde. Intels früherer Geschäftsführer Andy Grove fasste es mit seinem persönlichen Motto zusammen: „Nur die Paranoiden überleben.“ Dieses Denken scheint im globalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts nur allzu verbreitet zu sein.

Das exponentielle Wachstum der Informationstechnologie (IT) geht mit schnellerer Datenverarbeitung und größeren Speicherkapazitäten einher. Dies wiederum hat Kostensenkungen bewirkt, die IT für die Massen erschwinglich gemacht haben - Friedman nennt dies die „Demokratisierung“ von Technologie und Informationen. Durch das Computernetz, das allgemein als Internet oder World Wide Web bekannt ist, können einst isolierte Menschen in aller Welt heute in einem globalen Markt kommunizieren und digitalisierte Informationen austauschen.

Dieses Computernetz begann als ARPANET, so genannt nach der Advanced Research Projects Agency (ARPA) des US-Verteidigungsministeriums. Es sollte dem Informationsaustausch zwischen Hochschulforschern und staatlichen Forschungseinrichtungen dienen. Seine unspektakuläre Einweihung geschah am 29. Oktober 1969, als ein Teil des Wortes login erfolgreich von einem Labor der University of California in Los Angeles an das Stanford Research Institute übermittelt wurde, das damals zur Stanford University gehörte. (Das System stürzte ab, ehe das ganze Wort gesendet war.) Doch mit der Entwicklung des Internet hat sich das Alltagsleben so verändert, dass es nicht wiederzuerkennen ist. Man könnte sagen, das Internet bietet das, was einem vollkommenen Wettbewerbsmarkt weltweit am nächsten kommt.

In einem Interview mit Thomas Friedman sagte John Chambers von Cisco Systems im Jahr 1998: „Das Internet wird alles verändern. . . . Es wird die Globalisierung in einem unglaublich schnellen Tempo fördern. Doch das wird nicht hundert Jahre dauern wie die Industrielle Revolution, sondern es wird sieben Jahre dauern.“ Das nächste Stadium wird das Evernet sein, wenn wir immer online sind.

GLOBALE MUTATION

Der internationale Finanzier, Menschenfreund und einstige Hedge-Fonds-Manager George Soros bemerkt in seinem Buch Open Society: Reforming Global Capitalism (Die offene Gesellschaft), dass wir in die Phase der „weit gehend transaktionalen, globalen Gesellschaft“ eingetreten sind, in der die Gesellschaft Beziehungen durch Transaktionen ersetzt. Am digitalen Markt des vollkommenen Wettbewerbs sind die Akteure für Informationen, Preisgestaltung und Käufe nicht mehr auf Beziehungen angewiesen. Für den Verbraucher stehen bei der Verfolgung seines Eigeninteresses die Transaktion und das Geschäft an erster Stelle. Doch um dieses Verbrauchernirwana möglich zu machen, müssen Anbieter von Gütern ständig nach Wegen suchen, effizienter zu werden, Kosten zu senken und billigere Arbeit zu bekommen.

Soros und andere haben bemerkt, dass solche globalen Anforderungen zu einer Konsolidierung von Unternehmen in globale Monopole und Oligopole geführt haben. In den kapitalistischen Ländern haben, so schreibt der Historiker Beaud, Wirtschafts- und Finanzkonzerne die Stellung des Adels in einem hierarchischen Weltmarktsystem eingenommen.

Das digitale Zeitalter hat auch das Outsourcing von Arbeit ermöglicht, das multinationalen Konzernen die absolute Flexibilität in der Allokation von Kapital gibt; nationale oder geografische Beschränkungen spielen dabei keine Rolle mehr.

Ein weiteres, relativ neues Ergebnis der Mutationsfähigkeit des Kapitalismus ist das Aufkommen internationaler Marktmacher und Hedge-Fonds an den Kapitalmärkten - der „elektronischen Herde“, wie Friedman sie nennt. Diese Gruppe, so lose verbunden sie auch sein mag, kann mit atemberaubender Geschwindigkeit Finanzierungsströme beeinflussen - Länder und Unternehmen belohnen, die ihren Forderungen nachkommen, und die anderen abstrafen. Soros vergleicht dies mit einem „gigantischen Kreislaufsystem, das Kapital ins Zentrum saugt und es in die Peripherie hinauspumpt“. Das Zentrum ist der Kapitalgeber, und die Peripherie sind die Empfänger.

Zu Soros' Beschreibung der internationalen Kapitalströme passt die Behauptung mehrerer Autoren, Kapitalismus und Demokratie seien nicht notwendigerweise aneinander gebunden. Zwar sind manche Demokratien wirtschaftlich schwächer als totalitäre Länder, doch ist klar, dass Länder, die freie Märkte fördern und die Übernahme von Risiken belohnen, den anderen generell wirtschaftlich überlegen sind. Historisch waren dies eher die demokratischen Länder, doch internationale Finanzierungsströme fließen von Natur aus in jedes Land, das Gewinnchancen und Marktwachstum bietet. Ein Beispiel hierfür ist das unglaubliche Wachstum des kommunistischen Schwellenlandes China. Wenn die kommunistische Führung ihre Politik des freien Marktes fortsetzt, wird der Kapitalismus dort gedeihen.

Unser Zeitalter des globalen Kapitalismus mit seiner stetigen Folge von Innovationen, der Zerstörung des Vergangenen und der Vorbereitung auf seine eigene Zukunft scheint Schumpeters Gedanken der kreativen Zerstörung zu verwirklichen. Doch wohin führt der Weg? Was können wir in unserer globalisierten Welt erwarten - nicht nur für unsere Kinder und Enkel, sondern für unsere eigene Generation?

Den letzten Teil unserer Analyse des Kapitalismus lesen Sie in der nächsten Ausgabe.