Im Garten des Denkens

Aus dem Archiv von Vision. (Neuveröffentlicht im Frühjahr 2022, aus unserer Ausgabe vom Herbst 2008)

1996 war die Hirnforscherin Jill Bolte Taylor beruflich auf der Überholspur. Immer näher kam sie ihrem Ziel, die chemischen Grundlagen psychischer Krankheiten zu verstehen – zum Beispiel der Schizophrenie, an der ihr Bruder litt. Mit 35 Jahren war die in Harvard ausgebildete Neuroanatomin nur zwei Jahre zuvor jüngstes Direktionsmitglied aller Zeiten in der National Alliance on Mental Illness geworden. Tagsüber forschte und lehrte „Dr. Jill“ an der Harvard Medical School, abends und an Wochenenden hielt sie Vorträge zum Thema Gewebe – „tissue issue“, wie sie es nennt — Vorträge über den Wert von Hirngewebespenden für die Forschung.

Doch am 10. Dezember 1996 erlitt die energiegeladene Hirnforscherin einen Hirnschlag. Nach einer Blutung legte ein golfballgroßer Blutklumpen ihre linke Hirnhälfte lahm. „Wie cool“, dachte sie. „Aber eigentlich bin ich eine vielbeschäftigte Frau und habe für so etwas gar keine Zeit.“ Vier Stunden lang beobachtete sie mit Hilfe ihrer noch funktionierenden rechten Hirnhälfte, wie ihre Fähigkeit zu gehen, zu sprechen oder Sprache zu verstehen und sich an Einzelheiten ihres Lebens zu erinnern allmählich schwand und sie in einen „Zustand der Erkenntnisunfähigkeit“ glitt.

Ihre Gesundung dauerte acht Jahre; doch war diese Zeit alles andere als verlorene Zeit. In ihrem Buch „Mit einem Schlag“ (My Stroke of Insight: A Brain Scientist’s Personal Journey) schreibt sie: „Dieser Hirnschlag war wie ein ungeheures Geschenk, erlaubte er es mir doch zu erkennen, wer und was in dieser Welt ich sein will. Vor dem Schlag glaubte ich, ich sei ein Produkt dieses Gehirns und habe als solches nur wenig darüber zu bestimmen, wie es mir ging oder wie ich denke. Die Hirnblutung hat mir die Augen geöffnet, in welchem Maße ich tatsächlich beeinflussen kann, was in den Regionen zwischen meinen beiden Ohren vor sich gehen soll.“

Der Vision-Autor Dan Cloer sprach mit Dr. Jill darüber, wie wir alle von ihren Erkenntnissen profitieren könnten – ohne einen Hirnschlag zu erleiden.

 

DC Sie schreiben, dass bei den meisten von uns die linke Hirnhälfte dominant ist. Was bedeutet das?

JBT Aus neurologischer, anatomischer, medizinischer Sicht definieren wir Dominanz danach, welche Hirnhälfte die Sprachzentren hat, die Sprache schaffen und verstehen können. Bei etwa 99% aller Rechtshänder dominiert die linke Hirnhälfte – d. h. sie haben die Sprachzentren in der linken Hirnhälfte – aber auch bei über 60% der Linkshänder ist die linke Hirnhälfte dominant; auch sie haben die Sprachzentren in der linken Hirnhälfte. Soweit die anatomische Bedeutung dieser Aussage.

Wenn es allerdings um Funktion geht, definiere ich Dominanz danach, welche der beiden Hälften die treibende Kraft unseres Bewusstseins ist. Das von der rechten Hirnhälfte bestimmte Bewusstsein ist eher ein allgemeines Erfassen des Augenblicks, etwas wo alles miteinander in Verbindung steht. Ganz anders die linke Hälfte: Sie ist eher linear, methodisch in ihrem Denken und ordnet alles hierarchisch: Gut und Böse, Richtig und Falsch. Die beiden Hirnhälften verarbeiten Informationen auf sehr unterschiedliche Weise, und generell dominiert in bestimmten Momenten jeweils die eine oder die andere.

DC Gibt es tatsächlich einen Unterschied in der Verdrahtung, der Neuroanatomie der beiden Hälften?

JBT Es sind die gleichen Zellen, aber die Zellen sind unterschiedlich organisiert und sind für verschiedene Arten von Informationen empfänglich. So kann die linke Hirnhälfte zum Beispiel hochfrequente, mit Stimmen in Verbindung zu bringende Töne wahrnehmen; die rechte ist empfänglicher für niederfrequente Töne, die eher körpereigenen Gurgelgeräuschen ähneln. Jede Hirnhälfte ist auf ganz bestimmte Arten der Informationsverarbeitung spezialisiert.

DC Die verbreitete Vorstellung ist, dass die linke Hälfte die logischere und die rechte die emotionalere sei. Gibt es diese Trennung der Funktionen?

JBT Die linke Hirnhälfte ist äußerst emotional, kann extrem wütend sein und im selben Maße traurig. Sie folgt einer eigenen emotionalen Ordnung. Im Unterschied dazu gleicht das Geschehen in der rechten Hirnhälfte eher der Wahrnehmung kinästhetischer Verbundenheiten, des Nährens, Mitfühlens, wo alles miteinander verbunden ist. Ich würde das nicht emotionaler nennen; das ist falsch, nicht der richtige Ausdruck für das, was tatsächlich geschieht.

Wir besitzen tatsächlich zwei unterschiedliche Gehirne. Wäre es nicht schön, wenn wir wirklich in der Lage wären, von diesem Gesamtorganismus zu profitieren und erkennen könnten, wann das Denken der einen Seite das der anderen zu verzerren droht?“

Jill Bolte Taylor

Wir besitzen tatsächlich zwei unterschiedliche Gehirne. Wäre es nicht schön, wenn wir wirklich in der Lage wären, von diesem Gesamtorganismus zu profitieren und erkennen könnten, wann das Denken der einen Seite das der anderen zu verzerren droht? Und nicht nur das: es liegt eine gewisse Arroganz darin, wenn eine Hälfte behauptet, ihre Art des Denkens sei wichtiger oder besser als die der anderen, weil sie es eben so mache und nicht anders. Wir haben zwei Hemisphären im Gehirn, und die sind einander gleichwertig. Eine ist nicht besser als die andere. Die eine verarbeitet die Informationen lediglich ein wenig anders als die andere.

DC Als Sie Ihren Schlaganfall hatten, blickten Sie in den Spiegel und wussten nicht mehr, wer Sie waren. Wie weiß ich, wer ich bin, wenn ich in den Spiegel schaue?

JBT Um zu wissen wer ich bin, brauche ich Sprache. Mein „Name“ ist Sprache. Als ich meine Sprachzentren und den ständigen Sprachstrom im Gehirn verlor, der meine innere Welt mit der äußeren verband und umgekehrt, verlor ich auch jene Zellen, die mir sagten, wer ich sei. Es gibt diese kleine Datei, in der steht: „Jill Bolte Taylor: Das bin ich, da wohne ich, und so weiter und so fort.“

Haben Sie sich je gefragt, warum Sie genau in diesem Moment in diese Welt hinausschauen können und erleben, was da vor Ihnen ist? Wie kommt es, dass Sie dann dieses Erleben hinter sich lassen können und eine ganz neue Erfahrung machen, sich aber trotzdem an das erinnern, was hinter Ihnen liegt? Sie müssen Zellen besitzen, die diese Funktion ausüben – Zellen, die untereinander zu linearer Kommunikation fähig sind, sodass dieser Moment mit dem nächsten verknüpft werden kann. Damit besitzen wir die Fähigkeit, aus all diesen Informationen vorherzusagen, wie sich der nächste Moment gestalten könnte.

Ich konnte nichts dergleichen tun; der einzige Moment, den ich hatte, war der gegenwärtige. Blickte ich in eine Richtung und drehte mich dann um, war diese Aussicht weg. Sie war keine Information mehr, die ich hätte verarbeiten können. Alles was ich hatte, war die Information, die ich im Augenblick vor mir hatte.

Ohne ein Gehirn, das mir sagte „Ich bin Jill, und so weiter und so fort“, besaß ich diese Identität nicht mehr. Mit dem Verlust wesentlicher Funktionen meiner linken Hirnhälfte verlor ich das Gedächtnis, hatte keine Erinnerung an mein Leben mehr, nicht mehr die Fähigkeit, diese Jill zu sein. Das warf die Frage auf: Bin ich noch diese Frau, nur weil ich aussehe wie sie? Ich bin in diesem Körper, und sie war in diesem Körper, aber ich kenne sie nicht mehr. Verpflichtet mich das jetzt noch sie zu sein? Das war eine essenzielle Erfahrung, und ich bin sicher, jeder andere würde sie ähnlich erleben. Wenn unsere Interessen sich verlagern und wir andere Vorstellungen annehmen, gezwungenermaßen ein neues Leben, wer sind wir dann? Und wie anfällig ist unsere Identität durch unsere Neuroanatomie? Was mich betrifft, so ich habe festgestellt, dass ich meine Neuroschaltkreise bin. Eine kleine Gruppe von Zellen definiert mich – diese Sammlung von Dateien. Aber wenn die gelöscht werden, bin ich dann noch diese Frau, oder bin ich . . . Wer bin ichf

DC Als Sie den Zugang zu diesen Dateien verloren, was tat Ihre rechte Hirnhälfte da? Hatte sie kein „Mitspracherecht“?

JBT Nein, es war eine kinästhetische Bewusstheit. Ich verlor die Zellen, die die Grenzen meines Körpers definierten – wo er begann und wo er aufhörte. Da diese Information fehlte, hatte ich die Wahrnehmung, eins zu sein mit allem, das ist: Ich bin verschmolzen mit allen Atomen und Molekülen um mich herum. Ich hatte per se keine Information mehr von meinem Gehirn, weil der Sprachstrom versiegt war, sodass das absolute Schweigen herrschte. Die Leute reden von Stille. Für mich war es nicht wirklich still, denn Atome und Moleküle – alles ist in Bewegung. Aber es ist lautlos, vollkommen lautlos. Und dabei vermischt und bewegt sich alles.

Wir haben in unserem Gehirn eine Gruppe von Zellen, die uns sagt, dass wir feste Körper sind. Na gut, ich bin ein Festkörper. Aber acht Jahre lang existierte ich nicht als Festkörper sondern als ein flüssiges Wesen in einem flüssigen Raum. Als ich die Empfindung „fest“ und die festgelegten äußeren Grenzen meines Körpers verlor, wurde ich eine Wahrnehmung von „flüssig“, eins mit allem, das ist. Das ist eine ganz andere Art, sich selbst in Beziehung zur Außenwelt wahrzunehmen. Es war eine wunderbare Erfahrung – so riesig zu sein, überhaupt nicht mehr abgelenkt von der Sprache, die in meiner Welt alles benennen und etikettieren musste. Diese im wahrsten Sinne Abwesenheit befähigte mich, einfach die Energiedynamik aller Teilchen um mich herum zu erleben, und das war ein wunderbares Erlebnis.

Das Schöne für mich war das Bewusstsein, dass jeder sein eigenes Erleben in seinem eigenen Kopf beherbergt. Es gibt Hunderttausende von Menschen, die man definieren würde als extrem von der rechten Hirnhälfte dominiert – nicht im Sinne der Positionen ihrer Sprachzentren, sondern hinsichtlich ihrer Eigenheiten und Personae. Ich sehe das Optimum in der Ausgewogenheit zweier gesunder Hirnhälften. Wir haben die Fähigkeit, zu wählen, welche Gaben wir zum Tragen bringen wollen und welcher Charakter in uns überwiegen soll. Denkt man einmal darüber nach, welche Arten von Informationen diese beiden Hälften jeweils verarbeiten und die Art und Weise, wie sie das tun, dann leuchtet es ein, dass diese im Grunde zwei ganz verschieden voneinander geprägten Charakteren gelten.

DC War, in Ihrem Falle, der Schlaganfall so, dass der sich bildende Blutklumpen Zellen schädigte, die dann für eine Weile stillgelegt wurden und sich später regenerieren konnten? Als der Klumpen entfernt war, konnten diese Zellen dann wieder ans Netz gehen?

JBT Die Blutung betraf ein ganz bestimmtes Areal meines Gehirns, und im Zentrum der Blutung starben diese Zellen ab. In meinem Fall war es der für Mathematik zuständige Hirnbereich. Wenn mich jemand fragte: „Jill, wie viel ist eins plus eins?“, dann suchte ich unendlich lange nach der richtigen Antwort und sagte schließlich: „Was ist eins?“ Man versuchte, mir zu erklären was eins ist, und ich rätselte dann: „Wenn das eins ist, wie kann es dann noch ein anderes eins geben, wenn eins doch nur eins ist?“ Vier Jahre lang war ich völlig verwirrt.

Das Gehirn, wenn es verwundet wird, reagiert wie jedes andere Körperorgan. Sobald sein Gewebe beschädigt wird und es ein Trauma erleidet, schießt Blut dorthin und bringt das Immunsystem dazu, den Schaden zu reparieren und zu erkennen, was da los ist. Mein Gehirn hatte also diesen Klumpen und noch dazu diese natürliche Schwellung; das legte die Zellen der linken Hirnhälfte lahm, und wahrscheinlich auch die der rechten Hirnhälfte, denn das Gehirn wird als Ganzes traumatisiert.

Als der Blutklumpen zweieinhalb Wochen nach der Blutung entfernt worden war, war mir leicht zumute. Die Befreiung von dem Druck fühlte sich an wie: „Na gut, damit kann ich leben, was auch immer ich zurückbehalte, ich bin heiter. Es geht mir wieder gut.“

Ich hatte das große Glück, dass im Laufe von Monaten, als die Schwellung zurückging, verschiedene Schaltkreise wieder funktionsfähig wurden. Aber alles war wie leergefegt. Ich musste wieder Sprache erlernen, einen Wortschatz bilden. Ich musste wieder lesen lernen; ich war auf dem Niveau eines Kleinkindes. Das hat Nachteile, aber auch Vorteile. Der Vorteil war, als ich merkte, nachdem die linke Seite wieder zu arbeiten begann, dass ich fragen konnte: „Sind das Schaltkreise, die ich laufen lassen will?“ Und bei einigen Schaltkreisen sagte ich: „Nein, ich habe einfach kein Interesse daran, dass das läuft.“

DC Sie sagen bildhaft, das Denken sei wie ein Garten, und der Besitzer habe die Verantwortung, darauf zu achten, was darin geschieht.

JBT Richtig, absolut. Ich muss sehr genau darauf achten, was in diesem Garten meines Denkens wächst. Ich muss mir darüber klar werden, was ich aus ihm machen will, denn man kann seinem Garten Form geben. Es ist nicht nur das Beschneiden. Wir formen unser Denken mit der Zeit und können es zu dem was wir wollen erblühen lassen.

Wir laufen nicht wirklich auf Automatik. Man scheint nur auf Automatik zu laufen, weil man eine so erstaunlich schnell funktio-nierende organische Einheit ist. Aber man ist nicht automatisiert; man kann unterwegs Entschei-dungen treffen.“

Jill Bolte Taylor

Wir laufen nicht wirklich auf Automatik. Man scheint nur auf Automatik zu laufen, weil man eine so erstaunlich schnell funktionierende organische Einheit ist. Aber man ist nicht automatisiert; man kann unterwegs Entscheidungen treffen. Die Frage ist, ob man willens genug ist, darauf zu achten, welche Schaltkreise laufen und zu bedenken, wie sie zu meinem Leben beitragen. Ist es das, was ich diesem hinzufügen will?

Das lässt jeden, der solchen Gedanken offen gegenübersteht, innehalten und fragen: „Also gut, wie ist es? Was möchte ich sein?“ Das habe ich schon lange gesagt, auch vor dem Hirnschlag, dass man nicht mit dem gleichen Gehirn aus einer Situation herausgeht, mit dem man hineingegangen ist. Das Gehirn verändert sich pausenlos, weil es neue Informationen bekommt und sie mit Informationen verknüpft, die es schon hat. Es ist nicht identisch mit dem Gehirn, das man davor hatte. Wenn schon bloßes Lernen solches bewirken kann, stellen Sie sich einmal vor, was wir erreichen könnten, indem wir ihm bewusst strategische Prinzipien lehren.

DC Wir sagen uns häufig: „Ich wünschte, ich könnte das aus dem Kopf bekommen.“ Und wir können es. Ist das die Energie, die Erkenntnis, von der Sie sprechen?

JBT Ja, das ist es. Wir haben die Fähigkeit, unser Denken auf Dinge zu richten, auf die wir es richten wollen, und wenn es unbewusst auf etwas gerichtet ist, an das wir nicht denken wollen, müssen wir nichts weiter tun, als uns zu entscheiden, an etwas anderes zu denken. Wir haben die Fähigkeit und die Macht, zu wählen, woran wir denken wollen.

Für mich hängt alles davon ab, darauf zu achten, wie es sich von innen anfühlt. Wenn Sie z. B. das nächste Mal merken, dass Sie wütend sind – hören Sie auf, darüber nachzudenken, was Sie wütend macht, und beginnen Sie darauf zu achten, wie sich die Wut tatsächlich anfühlt. Ich empfehle jedem, sich einfach auf die eigene Physiologie zu konzentrieren: Sobald Sie merken, dass diese Wut oder diese Traurigkeit kommt – schauen Sie einfach auf Ihre Armbanduhr. Lassen Sie es geschehen, beobachten Sie sich mal selbst. Sie werden staunen! Ihr Körper ist eine wirklich feine Angelegenheit. Es ist schade, dass so wenige Menschen spüren, wie sich etwas auf physiologischer Ebene anfühlt. Es geht darum, den Gedanken und die Reaktion des Körpers zu beobachten, statt sich auf den Gedanken einzulassen und immer wieder die gleichen Schleifen abzuspielen, wodurch Sie nur wütend oder traurig bleiben. Sobald Sie ihr Denken von dem abziehen, was Sie wütend macht, spulen Sie diese Schleifen nicht mehr ab.

DC Sie schreiben: „Das Gleichgewicht zwischen dem Beobachten unserer Schaltkreise und dem Einlassen auf unsere Schaltkreise zu finden, ist entscheidend für unsere Heilung.“ Sie erwähnen den Blick auf die Uhr. Könnten Sie Ihre Strategie, „90 Sekunden warten“, erläutern?

JBT Darauf zu achten, was mein Körper mir sagt, bedeutet zu fragen: „Was ist mein Bauchgefühl zu dieser Erfahrung?“ Ist es etwas, das ich mag, oder fühle ich mich damit unwohl? Geht es mir gut damit? Wie lange möchte ich so bleiben? Aus physiologischer Sicht dauert es nur 90 Sekunden, bis diese Reize – Auslöser, Bewusstwerdung, emotionale Verbindung und Ansturm von Angst – ihren Lauf genommen haben und vergehen. Wenn man diese Schleife nicht wieder abspielt, indem man den selben Gedanken wiederholt, der das Gefühl zurück bringt, welches seinerseits wieder die selbe Körperreaktion auslöst – dann vergehen die unangenehmen Gefühle.

DC Glauben Sie, dass wir unseren Kindern diese Fähigkeit aberziehen? Wenn wir klein sind, haben wir anscheinend ein „Gehör“ für diese innere Selbstwahrnehmung und die Verbundenheit mit der Welt, die von der rechten Hirnhälfte kommt. Kinder haben offenbar ein besseres Gespür für ihre Umgebung, aber die Erwachsenen sagen ihnen: „Nein, da ist nichts. Das bildest du dir nur ein.“ Jetzt aber scheinen wir zu dem Schluss zu kommen, dass auf unsere Sinne zu hören von größerem Nutzen sei als wir ursprünglich glaubten, und dass es vor allem großen Einfluss auf unsere mitmenschlichen Beziehungen habe.

JBT Das sehe ich ganz genau so. Unser akademisches System ist so angelegt, dass extrem linkshälftige Begabungen und Verhaltensweisen belohnt werden. Das ist messbar. Nehmen Sie eine Gruppe von Fünfjährigen und fragen Sie sie: „Welchen Sänger oder welche Sängerin magst du am liebsten?“ Sie werden alle sagen: „Mich, mich, mich!“ Dann fragen Sie eine Gruppe von älteren Schülern, und sie werden alle möglichen nennen, nur nicht sich selbst. Da war eine Offenheit, Fröhlichkeit, Unschuld, Verspieltheit, Kreativität und Fantasie – all diese wunderbaren Eigenschaften der rechten Hirnhälfte – aber wohin führt das, und was bringt es Ihnen ein? Wie verdienen sie sich damit ihre Brötchen?

Wenn wir uns dann das Maß an Aggression in der Gesellschaft anschauen, sagt es uns, was in der linken Hirnhälfte vor sich geht. Jeder ist gestresst, hat einen Zeitplan und steht trotzdem beständig unter Zeitdruck, ist immer verspätet und im Rückstand, und das führt zu einer bissigen Einstellung und Handlungsweise. Für die linke Hirnhälfte ist alles entweder richtig oder falsch; wenn ich also etwas tue, und es ist nicht richtig, muss ich mit den Auswirkungen und der Kritik zurechtkommen. Alles dreht sich um Hierarchie, und ich weiß genau, wo in dieser Pyramide ich sitze, weiß was über mir ist und was unter mir, und ich muss mich entsprechend verhalten, um in mein Kästchen hineinzupassen. Na gut, das ist auch eine Art zu leben. Doch wie glücklich sind diese Menschen?

Ich habe nie gesagt, wir sollten alle so aufwachsen, dass wir nur noch von der rechten Hirnhälfte bestimmt werden. Es geht um ein Gleichgewicht und darum, welche Seite wann dominiert. Wir haben die Fähigkeit, das zu wählen.“

Jill Bolte Taylor

Ich habe nie gesagt, wir sollten alle so aufwachsen, dass wir nur noch von der rechten Hirnhälfte bestimmt werden. Es geht um ein Gleichgewicht und darum, welche Seite wann dominiert. Wir haben die Fähigkeit, das zu wählen. Ich bin ganz und gar dafür, die Fähigkeiten beider Hälfen gleichrangig zu entwickeln. Jetzt haben wir durch die Dominanz der linken Hirnhälfte ein Ungleichgewicht; wie sollen wir jetzt lernen, die Begabungen der rechten Hirnhälfte wertzuschätzen ohne uns dabei zu fühlen, als sei dies absolute Zeitverschwendung? Ich denke, wir sollten, unter anderem, einmal bedenken, was das unseren Körper und unsere Seele tatsächlich kostet. Und wenn Sie solches nicht für sich selbst tun können, dann tun Sie es doch ihrer Gesundheit oder Ihrer Familie zuliebe, einfach mal den Nutzen – tja, einer Fahrradtour zu erfassen versuchen.

DC Da sind noch andere, physiologische körperliche Konsequenzen – Stress und Krankheiten, denen man vorbeugen kann, indem man das Denken steuert. Die Seele zu heilen, hilft dem Körper.

JBT Wir sind nur ein großes Etwas. Je mehr wir das bewusste Denken nutzen, um auf die Botschaften und Mitteilungen des Körpers zu achten, desto eher beginnen wir die Sprache des Körpers zu verstehen. Es geht darum, diese Sprache zu lernen. Ich bekomme Tausende von E-Mails, fast alle positiv. Aber die eine negative – die fange ich an zu lesen, und dann spüre ich es – es ist eine Bauchreaktion – und höre auf zu lesen. Meine linke Hirnhälfte will auf „Antworten“ klicken und sich auf eine Konfrontation einlassen, um zu beweisen, dass ich Recht habe. Aber ich bin zu der Entscheidung fähig, diesem Wunsch nicht nachzugeben. Ich habe die Macht, das in diesem Moment zu entscheiden. Lasse ich mich ein, oder beobachte ich und lasse es beiseite? In Aggression mit der Welt zu leben ist nicht gesund.

DC Zum Thema Harvard Brain Bank: Wenn Menschen ihr Gehirn nicht mehr benötigen, also nach deren Ableben, wollen Sie es haben – warum?

JBT Manche Leute haben nie von Gehirnbanken gehört. Sie haben ein wunderschönes Gehirn, und es gibt so viel darüber zu lernen, was auf Zellebene darin vorgeht. Wir müssen wissen, was im Gehirn von Menschen geschieht, die man als normale Kontrollpatienten diagnostizieren würde, um es mit Gehirnen von Menschen mit verschiedenen psychiatrischen Diagnosen zu vergleichen. Die einzige Möglichkeit, solches zu verstehen, ist eine Gewebe- und Zelluntersuchung, um festzustellen, welche Zellen mit welchen anderen Zellen kommunizieren, mit welchen chemischen Stoffen und mit welchen Mengen dieser Stoffe. Erst dann können wir herausfinden, was normal ist und was wir für einen Patienten tun könnten, der an einer Psychose leidet, um ihm auf dem Weg zurück in die Normalität zu helfen.

Je besser wir unser eigenes Gehirn verstehen, umso größer ist unsere Chance, herauszufinden, wie wir glücklich leben können. Und letztlich besteht die psychische Gesundheit unseres Gemeinwesens aus der psychischen Gesundheit der einzelnen Gehirne dieses Gemeinwesens. Ich hoffe, wir entscheiden uns, der Pflege unseres inneren Gartens mehr Zeit zu widmen.