Der Weg aus der Sackgasse

In den beiden letzten Ausgaben von Vision haben wir untersucht, wie die Juden/Israelis einerseits und die Araber/Palästinenser andererseits zu Jerusalem stehen. Die Zukunft dürfte durch tiefe Überzeugungen und hitzige Auseinandersetzungen über religiöse Symbole wie die Klagemauer und den Haram esch-Scharif oder Tempelberg überschattet bleiben. Gibt es einen Weg aus der Sackgasse?

Was Menschen denken, ist eng damit verbunden, was in der Welt geschieht. Der Historiker James Joll schreibt über die notorisch komplexen Hintergründe für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „Nur durch die Erforschung des Denkens der Menschen werden wir die Ursachen verstehen.“

Aus einer ähnlichen Überlegung heraus untersuchte Robert English im Jahr 2000 den Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus. Er kam zu dem Schluss, der Niedergang des Gegners des Westens im Kalten Krieg sei weitgehend darauf zurückzuführen, dass einige sowjetische Intellektuelle ab den Siebzigerjahren begannen, „das Denken des Westens“ zu akzeptieren. Mit der Zeit triumphierten liberale westliche Ideen, unterstützt durch diese Denker innerhalb der Sowjetgesellschaft, über den Marxismus-Leninismus. Nicht die militärische Überlegenheit der USA oder das wirtschaftliche Scheitern der UdSSR, sondern die Anziehungskraft des westlichen Denkens brachten das todgeweihte System zum Einsturz. Der Liberalismus gewann die Schlacht der Ideologien, und die Identität der Völker beider Machtblöcke wandelte sich tief greifend.

Wie Vorstellungen im Gehirn gespeichert werden und zur persönlichen Identität und Ideologie werden, ist ein wichtiger Aspekt, um die tiefen Wurzeln lang anhaltender Konflikte zu verstehen. Und wie Identitäten und Ideologien sich ändern können, ist von zentraler Bedeutung für die Beilegung solcher Feindschaften.

Was kann die Erforschung des menschlichen Denkens zu einer Lösung des arabisch-israelischen Konflikts beitragen? Könnte es sein, dass man den Ausweg aus der scheinbar ausweglosen arabisch-israelischen Sackgasse und die Lösung für die damit verknüpfte Jerusalem-Frage findet, wenn man das Denken der Männer und Frauen im Nahen Osten untersucht?

Hoffnung kann hier die Verbindung von zwei Sichtweisen bringen, deren Entstehung etwa 40 Jahre auseinander liegt. Die erste ist das bahnbrechende Werk Erik Eriksons über die Entwicklung der persönlichen Identität, die zweite die relativ neue Entdeckung der „Neuroplastizität“ des Gehirns - seiner lebenslangen Fähigkeit, sich durch die Herausbildung neuer neuronaler Verbindungen zu reorganisieren (siehe unseren Sonderbericht „Neuverdrahtung des Gehirns“).

In seinem Buch von 1959 über die Bildung von Identität betont Erikson den dauerhaften Einfluss, den das Beispiel und die Belehrung durch Eltern und/oder anderer Respektspersonen auf Kinder und Heranwachsende haben. In mehreren entscheidenden Entwicklungsphasen werden die wesentlichen Schichten der Identität einer Person festgelegt. Es scheint so, dass jeder Mensch gleichsam mit der Fähigkeit zur Welt kommt, eine eigene Identität zu werden, und Interaktion mit dem sozialen Umfeld ist der dafür notwendige Katalysator.

Obwohl die Identität eines Menschen in den Jahren der Kindheit und des Heranwachsens am formbarsten ist, betont Erikson, dass Veränderungen der Identität während des gesamten Lebens möglich sind, und zwar durch etwas, das man als Rückkopplung bezeichnen könnte: Soziale Interaktion kann ständige Veränderungen fördern. Laut Erikson kann sich auch eine gefestigte Identität radikal ändern. Es ist sogar gerade die innere Stärke einer gefestigten Identität - so paradox dies scheinen mag -, die solche Veränderungen möglich macht.

Eine bedeutende Parallele hat die Rückkopplung in der Identitätsbildung nach Erikson in Forschungsergebnissen der Kognitions- und der Neurowissenschaft gefunden. Das Modell der Hirnfunktionen, das sich nun abzeichnet, ist wie ein Echo seines Modells. Wie Sandra Blakeslee in der New York Times schreibt, „stellen die Neurowissenschaftler derzeit fest, dass die Verschaltung im Präfrontalkortex des Gehirns, der gegen Ende des Heranwachsens zur vollen Reife kommt, ein internes Leitsystem ist, das die Welt jedes Menschen mit Werten, Sinn und emotionaler Färbung füllt und entsprechend seiner Kultur Gestalt annimmt“. Dass die Erfahrungen des Lebens die neuronalen Bahnen des Gehirns bestimmen, ist seit langem bekannt, doch nun kommt man zu der Ansicht, dass diese Bahnen während des ganzen Lebens veränderlich bleiben: Sie zeichnen sich durch „Neuroplastizität“ aus. Diese Eigenschaft ist am Anfang des Lebens am stärksten ausgeprägt, aber auch bei Erwachsenen ist die Verschaltung offen für Veränderungen, schreibt die Kognitionswissenschaftlerin Joan Stiles. Der Psychologieforscher Jeffrey Schwartz, der den Begriff „Selbstgesteuerte Neuroplastizität“ einführte, hat nachgewiesen, dass das Denken durch konzentrierten Einsatz des Willens tatsächlich die Struktur des Gehirns von Patienten mit bestimmten Störungen auf neuronaler Ebene verändern kann.

Hiermit in Zusammenhang steht die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, die gezeigt hat, dass die Beziehung zwischen Vererbung und Umwelt in der menschlichen Entwicklung neu überdacht werden muss. Neue Befunde lassen vermuten, dass Gene die Struktur des Gehirns festlegen, aber auch prägende Erfahrungen aufnehmen, auf soziale Stimuli reagieren und die Tätigkeit des Gedächtnisses bestimmen. Matt Ridley, Autor und Herausgeber naturwissenschaftlicher Texte, glaubt, dass Natur und Kultur nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern in einer vielschichtigen Wechselbeziehung. Auch hier hilft das Bild der Rückkopplung, die Beziehung zwischen Natur und Kultur genauer zu beschreiben: Es heißt nun Natur durch Kultur.

WER UND WAS SIND WIR?

All dies scheint wenig mit einer Lösung der Jerusalem-Frage zu tun zu haben - bis wir bedenken, dass diese verschiedenen Befunde über das Gehirn und das Denken des Menschen für alle Aspekte des menschlichen Handelns von Bedeutung sind. Schwartz schreibt: „In diesem neuen Jahrhundert werden Fragen zur Schnittstelle zwischen Denken und Gehirn immer wichtiger für unser Bestreben, in Disziplinen von Medizin über Volkswirtschaft bis zur Politologie zu verstehen, wie der Mensch funktioniert. Die Erkenntnis, dass das Denken durch Wissen und Wollen neurobiologische Prozesse verändern kann, ist unweigerlich von größter Tragweite für dieses Bestreben.“ Ian McEwan schreibt darüber im Zusammenhang mit dem wachsenden Verständnis der genetischen Aspekte der Hirnfunktionen: „Sie dürfte entscheidend dafür sein, dass sich unsere neue Einsicht über das Wesen des Menschen auf die öffentliche Politik auswirkt.“ Dass sich die Hirnstrukturen bei Erwachsenen noch verändern können, macht diese neuen Befunde so wichtig für den Fall, um den es hier geht - die Jerusalem-Frage.

Wie eine solche neue Verschaltung erreicht werden könnte, wo tief sitzende Konflikte um Identität und Ideologie in die politische Sackgasse geführt haben, deutet der Psychologe Steven Pinker an. Er bemerkt, dass die neuen Entdeckungen der Neurowissenschaft nicht nur erklären, „was uns zu dem macht, was wir sind“, sondern auch ein Appell an uns sind, „darüber nachzudenken, wer wir sein wollen“.

Untersuchungen zur Herausbildung der individuellen Identität stellen und beantworten die Frage „Wer bin ich?“. Doch das Bewusstsein von Identität ist erst der Ausgangspunkt für die Lösung von Konflikten zwischen Gemeinschaften. Weit wichtiger ist das, was Pinker mit „wer wir sein wollen“ anspricht. Die Antwort auf die Frage „Wer sollte ich sein?“ ist unabdingbar für jede Problemlösung, die eine Veränderung von Identität und Ideologie erfordert. Und Schwartz' Befunde über die Wirkungen bewusst gewollten Denkens auf die Verschaltung des Gehirns geben Anlass zur Hoffnung.

Diese Art, sich der Jerusalem-Frage zu nähern, könnte erst einmal idealistisch, unrealistisch oder unpraktisch erscheinen.

Diese Art, sich der Jerusalem-Frage zu nähern, könnte erst einmal idealistisch, unrealistisch oder unpraktisch erscheinen. Doch wie die Politologen Steven Spiegel und David Pervin in Band 2 von Practical Peacemaking in the Middle East (1995) bemerken, sind genau dies die Adjektive, die auch auf die Oslo-Vereinbarung angewandt worden wären, hätte sie jemand im Vorhinein als reale Möglichkeit vorgeschlagen.

Dass das, was Menschen denken, positive Auswirkungen für die Gegner in einem lang anhaltenden Konflikt haben kann, zeigte der Beschluss der PLO im Jahr 1988, eine Strategie der Verhandlung zu verfolgen, auf Gewalt als Mittel zur Befreiung zu verzichten und Israels Existenzrecht anzuerkennen. Nach Jahrzehnten gegenseitiger Unversöhnlichkeit wurde es möglich, dass beide Parteien einander anerkannten und sich aktiv um Frieden bemühten. In der Folge begannen Expertenteams auf beiden Seiten zu untersuchen, wie man bei den schwierigsten Fragen vorankommen könnte. Dialog und Kompromiss wurden machbar, selbst wenn die Lösung bis zu Verhandlungen über den endgültigen Status vertagt wurde.

Zwar wurde die Aufrichtigkeit des Gewaltverzichts der PLO angezweifelt und der Oslo-Prozess nach der zweiten Intifada schließlich für tot erklärt, doch die Tatsache, dass beide Seiten so viel auf den Tisch brachten, bedeutete, dass eine Basis für Vereinbarungen geschaffen war. Jede Seite erkannte an, was Forscher bereits entdeckt hatten: dass Jerusalem für jede Gemeinschaft etwas anderes bedeutete. Infolgedessen wurden die bisher unversöhnlichen Standpunkte im Hinblick auf Jerusalems Unverletzlichkeit etwas abgemildert.

IDENTITÄTEN IM KONFLIKT

Im Jahr 2004 ist die Jerusalem-Frage noch immer Anlass zu endlosen Kommentaren und ergebnislosem Kopfzerbrechen, während der arabisch-israelische Konflikt weiterhin die Regierenden und Diplomaten der Welt herausfordert und einfache Männer, Frauen und Kinder tötet, die in den umkämpften Gebieten ihr Alltagsleben führen. Manche Verantwortlichen wie etwa der frühere Vizebürgermeister von Jerusalem, Meron Benvenisti, sind zu dem Schluss gekommen, der Konflikt sei „unlösbar, aber handhabbar“, weil es um „Fragen der Identität, absolute Gerechtigkeit, unvereinbare Bindungen an dasselbe Heimatland und unvereinbare Mythen“ gehe. Diese Auffassung berücksichtigt allerdings nicht die Erkenntnisse, dass sogar gefestigte Identitäten und Ideologien sich ändern können.

Die Jerusalem-Frage ist noch immer Anlass zu endlosen Kommentaren und ergebnislosem Kopfzerbrechen.

Für die Jerusalem-Frage geben die Ergebnisse zweier im Jahr 2000 veröffentlichter Untersuchungen Anlass zur Hoffnung. Jerome Segal und seine Kollegen stellten fest, dass Israelis und Palästinenser auf Fragen nach der Verhandelbarkeit Jerusalems als Ganzes gleichermaßen kompromisslos reagierten, während sich ein anderes Bild ergab, wenn danach gefragt wurde, welche Teile Jerusalems den verschiedenen Bevölkerungsgruppen am wichtigsten seien. 45% der Juden in Israel „würden eine palästinensische Hoheit über arabische Siedlungen und Dörfer, die früher im Westjordanland lagen und jetzt innerhalb der Stadtgrenzen Jerusalems liegen, ernsthaft in Betracht ziehen“. Die meisten Palästinenser würden ihrerseits einen Vorschlag, „bei dem Westjerusalem unter israelischer und Ostjerusalem unter palästinensischer Hoheit stünde, mit einer Sonderregelung für eine israelische Kontrolle über die jüdischen Wohnviertel in Ostjerusalem, ernsthaft in Betracht ziehen“. Die Altstadt war aus diesen Fragestellungen ausgeklammert, doch die Ergebnisse der Umfragen legen nahe, dass für weniger zentrale Teile der Stadt Kompromisse möglich sein könnten, weil Jerusalem verschiedenen Bevölkerungsgruppen Unterschiedliches bedeutet.

Weit weniger flexibel waren die Meinungen, wenn es um die Altstadt und ihre heiligen Stätten ging. Am wichtigsten „als Teil Jerusalems“ waren beiden Völkern der Tempelberg/Haram, der Ölberg und die Altstadt selbst, solange sie nicht geteilt wird. Die Westmauer war für 99% der Israelis „sehr wichtig“ oder „wichtig“; die al-Aksa-Moschee und der Felsendom waren für 100% der Palästinenser„sehr wichtig“ oder „wichtig“.

Hier liegt der Kern des Identitäts- und Ideologiekonflikts um Jerusalem. In diesen Gebieten Hoheitsrechte abzutreten scheint derzeit unmöglich. Wie kommt man aus dieser Sackgasse heraus?

DIE ROLLE DER RELIGION

Der politische Zionismus machte sich einige Elemente der jüdischen Religion als zentrale Symbole zu Eigen, darunter natürlich das Substantiv Zion (sowohl Land als auch Stadt). Wie der israelische Politologe Baruch Kimmerling schreibt: „Trotz Israels Image als s ä kularer Staat sind die meisten Einwohner nicht religionslos, selbst wenn sie sich als ,nicht-religiös' definieren.“ Gemeinsame Identitätsaspekte des Judentums und der Geschichte des jüdischen Staates sorgen weiterhin für Einigkeit gegenüber dem arabischen Gegner. Daher die Gefühlsaufwallung im gesamten Spektrum Israels und der Juden, von den Strenggläubigen bis zu den Atheisten, als die Israelis im Jahr 1967 die Westmauer eroberten.

Auch auf der Seite der Palästinenser, ob sie nun Muslime oder Christen sind (die meisten sind natürlich Muslime), spielt die Religion eine Rolle. Obwohl sich ihre religiöse Zugehörigkeit nicht mit der nationalen Identität deckt, zeigen die Umfragen Segals und seiner Kollegen das tiefe religiöse Gefühl der Palästinenser für nichtjüdische Stätten in der Altstadt: 96% der „sehr Religiösen“ bezeichneten Jerusalem als „sehr wichtig für mich persönlich“, doch auch von den „Nichtreligiösen“ empfinden noch 78% so.

Im Kontext von Identität und Ideologie erfordert der Ausweg aus der Sackgasse der Jerusalem-Frage von den Regierenden wie von der Öffentlichkeit eine neue Tiefe des Verständnisses für mindestens zwei zentrale Fragen: die religiösen Wurzeln und die Veränderung von Ideologie und Identität.

Wenn man dies bedenkt, ist es unvernünftig, davon auszugehen, dass Identitäten und Ideologien dazu bestimmt seien, immer wieder aufeinander zu prallen, und dass der Konflikt deshalb nur handhabbar, aber nie lösbar sei.

Wie English am Fall der Sowjetunion dargelegt hat, beginnt der Prozess der Identitätsveränderung oft bei den Intellektuellen. Ein erster Schritt zur Lösung der Jerusalem-Frage könnte also darin bestehen, eine internationale Gruppe von Experten für Identitätsbildung und -veränderung mit Neurowissenschaftlern, Psychologen und Kognitionstheoretikern zusammenzustellen. Sie würden mit Regierenden und Konfliktlösungsteams der palästinensischen wie auch der israelischen Seite interagieren, unterstützt durch außenstehende Vermittler (wahrscheinlich Vertreter der USA und der Europäischen Union). Ihre Aufgabe wäre es, den Verhandlungspartnern beider Seiten dazu zu verhelfen, dass sie selbst verstehen, welche Rolle Identität und Ideologie im Konflikt um Jerusalem gespielt haben und noch spielen. Diese Weiterbildung und Introspektion muss an der Führungsebene ansetzen.

DAS STREBEN NACH EINHEIT

Betrachten wir drei Intellektuelle - einen Israeli und zwei Palästinenser - als Beispiele dafür, was man erreichen kann, wenn der Wille vorhanden ist, die bestehende Identität und Ideologie zu verändern. Sie zählen zu den wenigen in ihren Gemeinschaften, die in ihrem Streben nach Versöhnung und Identitätsveränderung die üblichen Beschränkungen überwunden haben.

Identitätsveränderung ist eines der Ziele der israelischen Organisation Peace Now. Laut dem Politologen und Friedensaktivisten Menachem Klein will die Organisation die Wortführer beider Seiten des Konflikts überzeugen, ihre Identität zu verändern, sodass u.a. die Jerusalem-Frage gelöst werden kann.

Auf der palästinensischen Seite bietet der Präsident der Al-Kuds-Universität, Sari Nuseibeh, einen Weg an, den Dialog über das Dilemma des Tempelbergs/Haram esch-Scharif und die religiösen Wurzeln zu eröffnen. Er erklärt, dass es für den Propheten Mohammed nur einen Glauben gab, nicht drei monotheistische Systeme. So waren für ihn Judentum, Christentum und Islam einfach Manifestationen dieser Urreligion, jedes in seiner Zeit. Diese Gemeinsamkeit zu suchen wäre ein sehr bedeutsamer Anfang für beide Seiten.

Nuseibeh schreibt: „Je mehr wir uns als Anhänger verschiedener Religionen sehen - je mehr der Monotheismus ein Tritheismus ist -, desto schlechter stehen die Chancen für eine Versöhnung, und desto mehr wird Jerusalem eine potenzielle Ursache der Zerstreuung und Vernichtung. . . . Eine Ursache der Einheit würde es hingegen sein und leuchten wie das wahre Juwel, das es ist, wenn es uns die Einheit unseres Glaubens bewusst machte. Wenn die Einheit unseres Glaubens richtig wahrgenommen wird wie beschrieben, dann können unsere jeweiligen Ansprüche auf Jerusalem als unsere politische Hauptstadt als Bestätigung dieser Einheit gesehen werden statt als egoistischer Zank zwischen zwei ethnozentrischen Stämmen.“

Der inzwischen verstorbene palästinensische Schriftsteller Edward Said führte seinerseits das „andalusische Modell“ ein, so benannt nach dem Standort seines kulturellen Gemeinschaftsprojekts mit dem israelischen Pianisten Daniel Barenboim, dem West-Eastern Divan Orchestra. Wie Barenboim erklärt, waren er und Said der Ansicht, „dass es keine militärische Lösung im Nahen Osten gibt, weder strategisch noch moralisch“. Stattdessen brachten sie junge Menschen durch Musik zusammen und gründeten Orchester, in denen Musiker aus Palästina, Israel, Syrien, dem Libanon, Ägypten und anderen Ländern in Workshops zusammen spielten. Ihre Beziehung motivierte sie, alternative Wege zum Frieden und zu gegenseitigem Verständnis zu finden. Das Projekt hat seinen Standort derzeit im andalusischen Sevilla, das mit seiner Geschichte gegenseitiger Toleranz unter Juden, Christen und Muslimen als Inspiration dafür dient, was die Gründer als Hoffnung für den israelisch-palästinensischen Konflikt sahen.

Das Orchester ist eine Art Metapher für Frieden im Nahen Osten. Bei einem der Workshops sagte ein ägyptischer Teilnehmer, der neben einem israelischen Musiker saß: „Bilder können sehr irreführend sein. Der Selbstmordbomber bringt ein bestimmtes Bild ins Bewusstsein; die militärische Operation tut das Gleiche. Doch diese dürfen sich nicht im Gehirn festsetzen.“

Dies ist der Anfang einer Erkenntnis, dass Umdenken bei jedem Einzelnen beginnt - eine Neuverschaltung des Gehirns und seiner Bilder. Es ist ein kleiner Anfang, aber Said fand trotz seines lebenslangen Strebens nach Gerechtigkeit für das enteignete palästinensische Volk keine andere Möglichkeit.

Tatsächlich zeigte Said im Februar 2003 nach einer Vorlesung an einer Universität in Kalifornien, dass auch er dieser Heilung bedurfte: Nachdem er sein andalusisches Modell erläutert hatte, ließ er sich in ein scharfes Wortgefecht mit israelfreundlichen Zuhörern verwickeln. So zeigte er sich scheinbar unfähig, seine eigene, tief sitzende Identität und Ideologie zu überwinden - trotz seines offensichtlichen Wunsches, einen Weg zum Frieden zu finden. Wenn genau solche Ambivalenzen auf nationale Größenordnungen verstärkt sind, liegt die Vermutung nahe, dass ein gangbarer Ausweg aus der Sackgasse nicht zu finden sein wird, ehe Programme zum Identitätsbewusstsein eingerichtet werden.

ÄNDERN, WER WIR SIND

Wenn Identität und Ideologie auf nationaler Ebene veränderbar sind, beginnend mit der Führung beider Konfliktparteien, kann es eine realistische Hoffnung auf einen Wandel geben. Doch dies wird nicht einfach sein. Ein Beispiel ist Yasser Arafat, der sich laut dem amerikanischen Sonderberater für den Friedensprozess, Dennis Ross, mit Verhandlungen schwer tat: „Hier ist ein Mann, der nicht imstande ist, die Vorstellung des Konflikts aufzugeben, weil Kampf ein so wesentlicher Teil der Definition seines Lebens ist.“ Anders gesagt: Arafats Identität ist durch Kampf definiert. Wenn es für ihn keinen Kampf gibt, kommt es zu einer Störung seiner personalen Identität. Er schafft deshalb eine Kampfsituation, um die Identitätskrise zu lösen, die er erlebt, wenn es nichts zu bekämpfen gibt.

Ross versuchte - übrigens erfolglos -, „ein Ziel zu finden, das weniger als die vollständige Konfliktlösung war“. Doch die Antwort auf derartige Konfliktlösungsschwierigkeiten ist nicht Gradualismus - der Versuch, jemanden schrittweise gegen seinen Willen zu überreden -, sondern die Souveränität von Verhandlungsführern, die begreifen, wie Identität durch persönlichen Willen verändert werden kann.

Identitätsbildung ist ein heikler und sehr persönlicher Vorgang. Wir verteidigen, wer wir geworden sind.

Sinnvolle Veränderung der Identität, wie sie im Fall Jerusalems notwendig ist, kann nur beim Individuum beginnen und dann auf das Kollektiv übergehen. Identitätsbildung ist ein heikler und sehr persönlicher Vorgang. Wir verteidigen, wer wir geworden sind. Die Frage „Wer bin ich?“ mit Hilfe qualifizierter Trainer und Verhandlungsführer zu stellen und zu beantworten, wäre ein erster Schritt zum Verstehen der Grenzen und Einschränkungen der individuellen Identität. Diese Anleitung könnte zu einer größeren Bereitschaft führen, diejenigen Aspekte der Identität zu prüfen und zu verändern, die Konflikte wie den zwischen Israelis und Palästinensern schon viel zu lange perpetuiert haben.

Doch wie Pinker bemerkt, ist die Frage „Wer bin ich?“ in Wirklichkeit erst der Anfang des Dialogs. Wenn es für irgendeinen der auf Identität beruhenden Konflikte der Welt Hoffnung auf Versöhnung und Lösung geben soll, muss „Wer bin ich?“ zu der weit wichtigeren Frage führen: „Wer sollte ich sein?“ Hier geht es darum, einen Prozess in Gang zu bringen, durch den Regierungen und Öffentlichkeiten die Rolle von Identität und Ideologie in ihrem Leben verstehen lernen.

Weil man die Beziehung zwischen der eigenen Identität und Ideologie nicht leicht versteht, ist ein Prozess des Lernens und der Introspektion erforderlich, um ihre Realität und ihre Folgen an die Oberfläche zu bringen. Das Umdenken, das daraus folgen kann, ist der erste notwendige Schritt zu einem großen politischen Wandel.