Verborgene Wurzeln des Christentums

Verschiedene Philosophien haben zum Teil beträchtlichen Einfluss auf das originale Christentum ausgeübt. In den letzten Jahren haben Autoren wie Elaine Pagels mit The Gnostic Gospels (in Deutsch erschienen als: Versuchung durch Erkenntnis) und in jüngster Zeit Dan Brown mit seinem durchschlagenden Bestseller The Da Vinci Code (deutsch: Sakrileg) den Gnostizismus wieder ins Gespräch gebracht. Welchen Platz nimmt der Gnostizismus in der „Familiengeschichte“ des Christentums ein?

Bis vor wenigen Jahrzehnten wussten wir über den Gnostizismus nur das, was Autoren aus dem 2. bis 4. Jahrhundert überliefert haben. Ihre Worte waren vielleicht nur für Spezialisten der frühen Kirchengeschichte von beiläufigem Interesse. Ab dem späten 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ermöglichten dann Funde von Texten und Artefakten von der Wüste Libyens bis zur Seidenstraße wirkliche Erkenntnisse über die Gnostiker.

Heute können wir das Thema dank der Menge des nun verfügbaren Materials im historischen Kontext betrachten. Doch wie populäre neue Bücher zeigen, ist die Erforschung der Gnostik nicht innerhalb der Grenzen der Geschichtsforschung geblieben. Dan Browns überaus erfolgreicher Roman über die Ursprünge des Christentums und die Suche nach dem heiligen Gral hält sich seit mittlerweile über zwei Jahren auf der Bestsellerliste der New York Times und wird als Kinofilm die Kassen noch mehr klingeln lassen (s. „The Da Vinci Code – Dichtung oder Wahrheit?“).

Der Begriff Gnostik bzw. Gnostizismus wurde wohl im 17. Jahrhundert geprägt (siehe Kastenartikel „Gnostiker und Gnostizismus“). Diese Bewegung scheint den Weg der Urkirche in umgekehrter Richtung gegangen zu sein: Jesus Christus berief seine Jünger – die ursprünglich nicht „Christen“ waren, sondern laut Paulus Nachfolger des „Weges“ – in den kleinen Provinzorten Galiläas und Judäas. Nach seinem Tod und seiner Auferstehung entsandte er sie dann zu den größeren Städten des Römischen Reiches. Der Gnostizismus hingegen kam offenbar in den großen Ballungsräumen auf und zog sich dann in die Randgebiete der Gesellschaft zurück. Dies bedeutet nicht, dass die gebildeten Eliten der Städte die Gnostiker abgelehnt hätten. Ihre scheinbare Marginalisierung ist vielmehr Ausdruck der Neigung von Philosophen, die Stille des Landes oder der Wüste als Ort der Reflexion zu suchen.

Dieser philosophischen Basis verdankt der Gnostizismus viel. Offiziell begann er im 2. Jahrhundert und bestand im Römischen Reich, bis er im 5. Jahrhundert verboten wurde. In Wirklichkeit ist er aber bis zum heutigen Tag lebendig geblieben.

Die wahren Ursprünge der Gnostiker sind schwer zu ermitteln, einfach weil die Bewegung nie versuchte, ihre Geschichte aufzuzeichnen. Vielleicht versuchten sie aus der Annahme, dass sie seit Urzeiten existiert hatten, ihre Legitimität abzuleiten. Andererseits war der geheimnisumwobene Ursprung durchaus im Sinne ihres zentralen Glaubens – dass der Gnostizismus als Religion auf Offenbarung und spirituellem Geheimwissen beruhte, die zu besonderer Erkenntnis führten. Er brauchte keine eigene Geschichte: Damit wären seine Anhänger auf die Stufe aller anderen religiös Bekehrten gesunken. Gnostischen Quellen zufolge wurde das Wissen in den frühesten Zeiten der Menschheitsgeschichte gegeben und sollte den meisten Menschen bis zu den letzten Tagen verborgen bleiben.

Der Gnostizismus brauchte keine eigene Geschichte: Damit wären seine Anhänger auf die Stufe aller anderen religiös Bekehrten gesunken.

DIE ANDEREN HEILIGEN SCHRIFTEN?

Es ist interessant, die Schriften zu studieren, die den Gnostikern als heilig galten. Im Jahr 1945 kam im ägyptischen Nag Hammadi eine große Literatursammlung ans Licht (siehe Kastenartikel „Die verschollene Bibliothek von Luxor“). Bei diesen gnostischen Texten wurde kein Buch der hebräischen Bibel gefunden, doch die Sammlung von Nag Hammadi enthält Werke, die den Schöpfungsbericht der ersten Kapitel der Bibel umformulieren und umdeuten. Außerdem waren offensichtlich Bücher beliebt, die den Namen eines Patriarchen aus der Zeit vor Noah trugen, wie z.B. Seth. Dies dient der Schlussfolgerung, dass der Gnostizismus seit der Erschaffung des Menschen existiert habe.

Der Fund umfasst auch keine Bücher des Neuen Testaments. Zwar enthält er zahlreiche Evangelien, die Personen aus dem Neuen Testament zugeschrieben werden, doch diese Evangelien gehören einer anderen literarischen Gattung an. Sie handeln nicht vom Leben und der Lehre Christi, sondern zitieren angebliche Aussprüche Jesu, die von Menschen aufgezeichnet worden waren, die nach Ansicht der Gnostiker von ihm speziell ihnen offenbartes Wissen besaßen. Statt der Praxisnähe, die die ganze Bibel prägt, herrschen in den gnostischen Schriften mythische Themen vor.

In der Blütezeit der Bewegung glaubten viele Menschen, sie lebten in den letzten Tagen der Zivilisation. Die wachsende Beliebtheit der Gnostiker (die sich selbst als auserwähltes Volk und Empfänger der wahren Erkenntnis sahen) war daher recht verständlich. Unter den Schriften von Nag Hammadi befinden sich mehrere Apokalypsen – Bücher, die Wissen über die Endzeit offenbaren sollten. Diese Texte sind jedoch ganz anders als die Apokalypse des Johannes im Neuen Testament, die allgemein als Offenbarung bezeichnet wird. Dieses Werk von Johannes ist voller Anspielungen, Bezüge und typologischer Verweise auf die prophetischen Bücher des Alten Testaments, die als Anhaltspunkte für das Verständnis der Offenbarung dienen. Dagegen hing das Verständnis der gnostischen Apokalypsen allein von mystischer Erkenntnis ab.

Bemerkenswerterweise wurde in einem bestimmten Kodex der Sammlung von Nag Hammadi eine Abschrift von Platons Der Staat gefunden. Das ist ungewöhnlich, weil diesem Werk des griechischen Philosophen im Unterschied zu den meisten anderen keinerlei Beziehung zu den biblischen Berichten zugeschrieben wurde. Dennoch sollte es offenbar als Bestandteil der Literatur der Gnostiker gelesen werden.

GESCHICHTE UMGESCHRIEBEN

Anhand dieses Materials kann man beginnen, einige Aspekte der gnostischen Weltsicht zu verstehen. Nicht ägyptische, mesopotamische, griechische oder römische Schöpfungsgeschichten wurden von ihnen übernommen, sondern die hebräische Genesis. Doch damit ist die Verbindung zu irgendeiner Form des hebräischen Denkens erschöpft (siehe Kastenartikel „Hebraisten und Hellenisten“). Nachdem sie den Schöpfungsbericht so abgewandelt hatten, dass die Identität des Schöpfers, die Umstände seines Werkes und die Ereignisse im Garten Eden sich anders darstellten, gingen die Gnostiker noch weiter und verneinten die gesamte historische Basis des hebräischen Volkes und des Wirkens des Gottes Israels in der Geschichte. Etliche der gnostischen Schriften enthalten polemische Aussagen über einige, die in der Bibel als Diener des Gottes Israels beschrieben werden – wie Mose, die Propheten oder sogar Johannes der Täufer. Es scheint, als würde versucht, die gesamte hebräische Komponente der Geschichte zu untergraben – eine Komponente, die für das Alte wie das Neue Testament unentbehrlich ist.

Evangelien, die ein judäisches oder galiläisches Umfeld darstellen, spielen keine Rolle mehr.

Das Gleiche ließe sich über die gnostischen Entsprechungen des Neuen Testaments sagen. Evangelien, die ein judäisches oder galiläisches Umfeld darstellen, spielen keine Rolle mehr. Ins Rampenlicht tritt spekulative Philosophie auf der Grundlage des platonisch-dualistischen Denkens. Die Aussagen und Personen aus den Evangelien und anderen neutestamentlichen Schriften „werden spirituell und allegorisch gedeutet, wobei die Kategorien der griechischen, insbesondere der platonischen Philosophie verwendet werden“, schreibt W.H.C. Frend in The Rise of Christianity (1985).

Wie konnte eine so synkretistische Ansammlung von Glaubensinhalten entstehen?

Zwar wurden die Ursprünge der Gnostik oft im Judentum gesucht, doch eine solche Verbindung ist schwerlich nachzuweisen.

Zwar wurden die Ursprünge der Gnostik oft im Judentum gesucht, doch eine solche Verbindung ist schwerlich nachzuweisen. Jeder Jude, der sich an der Herausbildung des Gnostizismus beteiligte oder als Gnostiker gelten wollte, musste eindeutig jeden Anspruch auf sein Erbe oder seine Kultur, ja seine gesamte Erziehung abgelegt und eine radikal andere Identität und Denkweise angenommen haben.

Es gab durchaus Juden, die sich für griechische Philosophie interessierten. Im 1. Jahrhundert beschrieb Philo von Alexandria seinen jüdischen Glauben mit platonischen Begriffen. Er versuchte sogar, den biblischen Schöpfungsbericht mit dem Timaios in Einklang zu bringen – einem Dialog, in dem Platon die Entstehung der Welt zu erklären suchte. Doch für Philo war die Vorstellung, seine Identität und sein Erbe als Jude abzulegen, völlig unmöglich. Er führte eine Diskussion mit einer Gruppe von Juden, die die Beschneidung von Knaben – ein zentrales Element jüdischer Identität – zugunsten einer spirituellen Entsprechung, der so genannten „Beschneidung des Herzens“, aufgegeben hatten. Philo verteidigte die Beschneidung jedes männlichen Juden mit Nachdruck. Dabei waren seine Gegner nicht so weit gegangen wie die Gnostiker, denen Beschneidung, ob körperlich oder geistig, absolut nichts bedeutete. Man stelle sich vor, was er erst den Gnostikern geantwortet hätte.

In jüngerer Zeit wurde postuliert, das Scheitern des Bar-Kochba-Aufstandes im Jahr 135 (und die damit verbundene Judenverfolgung durch die Römer) habe dazu geführt, dass die Juden ihre gesamte Geschichte ablegten und das gnostische Weltbild annahmen. Dies ist allerdings völlig unplausibel. Fachleute haben die gnostische Einstellung gegenüber jeder Form des Judentums mit Begriffen wie „kosmischer Antisemitismus“ beschrieben. Daher ist es kaum nachvollziehbar, wie Juden etwas akzeptiert haben sollen, das alle Identitätsmerkmale und die Geschichte Israels verneinte. Einen so tief greifenden Paradigmenwechsel so rasch zu bewirken, hätte eine derart vollständige Leugnung der eigenen Vergangenheit erfordert, dass es unvorstellbar ist. Das Neue Testament berichtet über den Apostel Paulus, der das herausragende biblische Beispiel einer religiösen „Bekehrung“ ist. Nach seiner Bekehrung wandte Paulus nicht etwa seiner jüdischen Erziehung den Rücken zu, sondern er baute immer auf seiner jüdischen Bildung auf und zog aus ihr Lehren für seine Zuhörer. Für jemanden, der von irgendeiner Form des Judentums zum Gnostizismus hätte konvertieren wollen, wäre dies unmöglich gewesen.

DER FALSCHE SAMARITER

Die einzige Ausnahme in Bezug auf das Fehlen detaillierter gnostischer Geschichtsschreibung bildet Simon Magus aus Samaria. Seine Rolle als tatsächlicher Begründer des Gnostizismus ist umstritten, doch die biblische Apostelgeschichte charakterisiert ihn als Zauberer aus Samaria, der dem Volk mit Erfolg vorgaukelte, er sei die „Große Kraft Gottes“ (Apostelgeschichte 8, 9-11). Das Urteil von Petrus und Johannes über Simon entspricht den Worten in Esra und Nehemia gegen die Vorfahren der häretischen Samariter (Vers 20-23; vgl. Esra 4, 3 und Nehemia 2, 20).

In früheren Zeiten war die Region namens Samaria von zehn der Stämme Israels besetzt worden, die das Nördliche Reich bildeten. (Nach dem Tod des Königs Salomo im 10. Jahrhundert v. Chr. war das alte Volk Israel in zwei Reiche auseinander gefallen.) Im 8. Jahrhundert v. Chr. wurden diese zehn Stämme von den Assyrern verschleppt und durch babylonische Siedler ersetzt. Die Einwanderer vermischten ihre eigene Religion mit der der Israeliten; diese lernten sie von einem israelitischen Priester, der nach Samaria zurückgeschickt wurde, um sie zu unterweisen (vgl. 2. Könige 17, 20-41).

Als die Juden (das Südliche Reich), die danach ebenfalls in babylonische Gefangenschaft geraten waren, im 6. Jahrhundert v. Chr. zurückkehrten, trafen sie auf die inzwischen heimisch gewordenen, synkretistischen Samariter. Die Bibel schildert diese Beziehung als spannungsreich und von Rivalität geprägt. Die Juden verehrten Jerusalem mit dem Tempel; die Samariter hingegen waren überzeugt, der Berg Gerizim sei der bessere Ort, Gott anzubeten, insbesondere da sie behaupteten, die Originalfassung der Thora zu besitzen.

Im späten 2. Jahrhundert v. Chr. zerstörten der jüdische König Hyrkan I. und seine Söhne den Tempel und die Hauptstadt der Samariter. Trotzdem blieben die Samariter ein Ärgernis für die Juden und fremden kulturellen und religiösen Gedanken zugeneigt. Ihre bereitwillige Hellenisierung unter den Seleukiden bewies, dass sie eine Gemeinschaft ohne feste Identität waren. Die Identität der Juden hingegen war durch ihre Geschichte so tief eingeprägt, dass sie den Einfluss der griechischen Kultur zu meiden suchten.

Angesichts der Abneigung Samarias gegen alles Jüdische und dieser weiteren historisch-kulturellen Realitäten hätte ein Mann wie Simon Magus ohne weiteres ein neues Weltbild zurechtzimmern können, das die gesamte Basis des Judentums parodiert hätte. Laut Irenäus und Justin dem Märtyrer, der selbst aus Samaria stammte (zwei katholischen Autoren, die im 2. Jahrhundert n. Chr. schrieben), war Simon recht versiert in der hellenistischen Philosophie, mit deren Begriffen er argumentierte. Diese Autoren berichten, dass Simon nicht nur sich selbst, sondern auch seine Gefährtin Helena in klassischen griechischen Rollen darstellte: Sie war die gefallene Frau, in Platons Sprache die „erste Ursache“ – und er, Simon, die „Große Kraft“, war gekommen, sie zu retten (vgl. Apostelgeschichte 8, 10).

Simons Anhänger, die „Simonianer“, sind unter den häretischen Gruppierungen, die Justin der Märtyrer und Irenäus identifizieren (siehe Kastenartikel „Was Simon sagte“).

ÜBER SAMARIA HINAUS

Petrus’ und Johannes’ totale Ablehnung des Simon Magus schuf den Präzedenzfall dafür, wie der Apostel Johannes gegen Ende des 1. Jahrhunderts auf einen anderen Mann reagierte: Kerinth. Kerinth ist allgemein als führender Gnostiker bekannt und die erste Person, die in rein gnostischen Begriffen beschrieben wurde. Der Bericht steht in den Schriften des Irenäus, der ihn von Polykarp hatte, einem Schüler des Apostels Johannes. Polykarp erzählt, wie Johannes einmal mit anderen in Ephesus in ein Badehaus gehen wollte und dort Kerinth vorfand. Johannes habe ausgerufen: „Lasset uns fliehen! Denn es ist zu fürchten, dass die Badeanstalt einstürze, da Kerinth, der Feind der Wahrheit, darin ist.“ Aus diesem Zeugnis des Polykarp ist ersichtlich, dass vor dem Ende des 1. Jahrhunderts gnostische Ideale als Philosophie etabliert waren und als Widerspruch zu der Wahrheit gesehen wurden, die die Apostel lehrten.

Vor dem Ende des 1. Jahrhunderts waren gnostische Ideale als Philosophie etabliert und wurden als Widerspruch zu der Wahrheit gesehen, die die Apostel lehrten.

Berichten zufolge gab es im 1. Jahrhundert Gnostiker in Rom und Kleinasien, doch im 2. Jahrhundert war offenbar Ägypten ihre intellektuelle Heimat. (Ägypten und Nordafrika zogen während der ersten vier Jahrhunderte weiterhin Gnostiker an. Die Region war ein fruchtbarer Boden für die letzte der großen gnostischen Gruppierungen, die Manichäer, ehe diese aus dem Römischen Reich vertrieben wurden (Vgl. „Der Giftbecher des Augustinus“ in Vision, Frühjahr 2003). W.H.C. Frend bemerkt, dass die Bewegung im Zeitraum 130-180 zu voller Blüte kam: „Gnostiker aus Alexandria und ihre Schulen beherrschten das intellektuelle Leben der Kirche.“ So gründete Basilides, ein Schüler des Menander, in Alexandria um 132 oder 135 eine Schule. Valentin, ein anderer prominenter Gnostiker, lehrte zuerst in Alexandria, ging um 135 oder 140 nach Rom und dann im Jahr 160 nach Zypern. Valentin gilt als der Erfolgreichste unter den gnostischen Lehrern. Seine Schüler gründeten überall im Mittelmeerraum Schulen. Bekannt waren Ptolemäus, Herakleon und Theodotus; sie alle entwickelten das gnostische Gedankengut weiter und brachten zusätzliche Vielfalt in eine bereits komplexe Philosophie. Dieser geschichtliche Überblick hilft erklären, warum es so schwierig ist, gnostische Texte aus verschiedenen Zeiten miteinander zu vergleichen. Autoren des 2. Jahrhunderts beschreiben eine wachsende gnostische Bewegung, die sich mit jeder Generation verändert und entwickelt – eine facettenreiche Philosophie, die Gedanken von den Nachfolgern Christi wie auch aus der Philosophie bezieht. In vielerlei Hinsicht ist der Gnostizismus die konsequenteste Anwendung des platonischen Denkens auf die Lehren Jesu, wobei sowohl Jesus als auch seine Lehren völlig umgedeutet werden. Wie bereits gesehen, waren die Gnostiker insofern antijüdisch, als sie die hebräische heilige Schrift und somit die Legitimation des jüdischen Volkes ablehnten. Die gleiche Abneigung ist in Bezug auf das Neue Testament erkennbar.

EINE PLATONISCHE BEZIEHUNG

Schließlich wurden die Gnostiker aus dem Römischen Reich verbannt, und der Gnostizismus verschwand fast vollständig – doch man sollte ihn nicht als Verlierer im Kampf mit der Orthodoxie (d.h. der „rechten Lehre“), die sich von Rom aus verbreitete, ansehen. Zwar trat der Gnostizismus von der Bühne des Reiches ab, doch die römische Orthodoxie, die zurückblieb, hatte viele Aspekte des gnostischen Denkens und Schriftverständnisses absorbiert. In Wirklichkeit sind beide Geschwister: Ergebnisse derselben Methode, die Schrift auszulegen, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Es trifft zu, dass die gnostische Methode extremer platonisierte als die Methode, die später von römisch orthodoxen Theologen und Autoren angewandt wurde. Doch in Ägypten beeinflusste der Gnostizismus einige unter ihnen, die heute als Säulen der Orthodoxie gelten, z.B. Clemens von Alexandria und Origenes. Arius, der wegen seiner Auffassung von der Präexistenz Christi als Ketzer behandelt wurde, empfand sich selbst als orthodox, war jedoch eindeutig von seinem gnostizistischen Umfeld beeinflusst. Fast ein Jahrhundert später wurde Augustinus von Hippo durch seine Berührung mit den gnostizistischen Manichäern „orthodox“.

Andererseits wurde das, was wir als Neues Testament kennen, von jüdischen Autoren ursprünglich für Juden geschrieben – und für Nichtjuden, die den Gott Israels anerkennen wollten, wie er in den Heiligen Schriften dargestellt war, die wir „Altes Testament“ nennen. Diese Autoren wollten, dass man die apostolischen Schriften durch die Linse der bestehenden heiligen Schriften (das Alte Testament) sieht, die das bestätigten, was später (im Neuen Testament) geschrieben wurde. Die Schriften der Gnostiker hingegen wurden auf rein spekulativer Basis geschrieben.

Eine größere Schwierigkeit liegt darin, dass Jesus von Nazareth, wie ihn die gnostischen Schriften darstellen, nicht als Bedrohung für die religiöse Obrigkeit seiner Zeit gesehen worden wäre. Auch hätte er keine Gefolgschaft unter dem einfachen Volk gefunden. Er wäre einfach unter den Juden seiner Zeit fehl am Platze gewesen.

Außerdem werden die Schriften des Apostels Paulus, der von Forscher und Theologen über Generationen hinweg als Bindeglied zwischen den ersten Jüngern Christi und dem späteren orthodoxen Christentum dargestellt wurde, heute wieder in ihrem ursprünglichen Zusammenhang mit den zeitgenössischen Judaismen verstanden (siehe Artikel „Vom Juden zum Heiden?“). Die einzige Apokalypse, die zum Kanon des Neuen Testaments gehört – die Offenbarung des Johannes –, unterscheidet sich radikal von den Apokalypsen der Gnostiker, weil sie auf der Symbolik und Typologie des Alten Testaments aufbaut.

Das Neue Testament, wie wir es heute sehen, steht also in krassem Gegensatz zum Denken der Gnostiker. Die Entdeckung und Erforschung der gnostischen Dokumente hat tatsächlich zur Folge, dass das gesamte Neue Testament als Produkt des jüdischen Umfeldes neu zu deuten ist. Daraus ergibt sich, dass alle Schriften der Apostel in den Kontext ihrer eigenen Welt zurückgebracht werden müssen statt in den des Hellenismus, in den Generationen von Kommentatoren sie stellen wollten. Es gilt also, die Abstammung dessen, was wir Christentum nennen, vollständig neu zu bewerten.