Paulus und Paula

Paula Fredriksen ist William Goodwin Aurelio Professor of the Appreciation of Scripture an der Boston University. Ihr Spezialgebiet ist die soziale und intellektuelle Geschichte des frühen Christentums, von der Epoche des Zweiten Tempels bis zum Fall des Weströmischen Reiches. Im Jahr 1999 wurde ihr ein amerikanischer jüdischer Buchpreis für Jesus of Nazareth, King of the Jews: A Jewish Life and the Emergence of Christianity verliehen. Derzeit arbeitet Frau Professor Fredriksen an Augustine and the Jews, das 2006 bei Doubleday erscheinen soll. Vor Kurzem sprach sie mit Vision-Herausgeber David Hulme über Leben und Zeit des Apostels Paulus.

 

DH Manche sagen, Paulus sei kein Christ gewesen, weil es zu seiner Zeit keine Christen gab. Was würden Sie darauf antworten?

PF Wir sehen Paulus als Christ, weil wir auf eine zweitausendjährige Entwicklung des Christentums zurückblicken. Doch wird uns aus seinen eigenen Briefen klar, dass er die Welt grob in zwei Gruppen aufteilt: Israel und alle anderen. Innerhalb dieser beiden Gruppen gibt es als eine Art Aussonderung eine neue Untergruppe, die Gemeinschaft in Christus. Aber im Hinblick auf das Volk gibt es Juden und Nichtjuden (Heiden). Und seine Heiden sind durch Christus in der Lage, den Gott Israels anzubeten. Angesichts all dessen würde ich denken, dass Paulus sich als Jude verstand.

DH Hat er sich zum Christentum „bekehrt“?

PF Wir haben uns an den Begriff „Bekehrung des Paulus“ gewöhnt, aber Paulus kehrt sich nicht vom Judentum ab und etwas anderem zu. Er schließt sich einer jüdischen Gruppierung innerhalb des Judentums an. Er ist Pharisäer, und dann wird er Mitglied dieser Gruppe um Jesus, den Messias. Aber deshalb tritt er nicht aus dem Judentum aus.

DH In der Apostelgeschichte lesen wir, dass Paulus mit Menschen zusammenkam, die Lukas als „Gottesfürchtige“ bezeichnet. Welche Stellung hatten diese Leute?

PF Die Juden der Antike, die außerhalb ihres eigenen Landes lebten, organisierten ihre Gemeinschaften in Synagogen. Eine Synagoge kann ein Gebäude sein, aber in erster Linie ist sie eine jüdische Gemeinschaft. Und Juden, die in einer mehrheitlich nichtjüdischen Kultur lebten, luden interessierte Nichtjuden in ihre Gemeinschaften ein. Das wissen wir nicht nur aus der Apostelgeschichte, die diese Gruppe als „Gottesfürchtige“ bezeichnet. Es gibt Berichte, dass Heiden in der Antike Bibellesungen hörten und die Bibel bewunderten. Und sie konnten sie hören, weil sie in die Synagoge gehen und zuhören durften, ebenso wie Juden in den Bädern, im Theater, bei sportlichen Wettkämpfen und Gerichten ein- und ausgehen durften (und das auch taten), wo routinemäßig die Götter dieser anderen Völker angerufen wurden. In der antiken Stadt hatte man „keine Zäune“ und dadurch gute Nachbarn.

DH Das Judentum der Antike ist ein Lebensstil, eine Art, die Dinge zu sehen. Was hätte sich dann für einen Gottesfürchtigen geändert, wenn er oder sie von der Botschaft des Paulus überzeugt wurden?

PF Ich stelle mir vor, dass Paulus in der Diaspora im Rahmen der Versammlung am Sabbat in eine Synagoge geht, und unter seinen Zuhörern sind Nichtjuden, die genug Interesse am Judentum haben, um auch dort zu sein. Was sie hören, ist eine extreme Form des Judentums – dass der Messias gekommen ist und das Ende der Zeit nahe ist. Sie sind in der Lage, zu verstehen, worüber Paulus spricht, weil sie in der Synagoge Bibeltexte gehört haben.

Was ändert sich für ihr Verhalten? Der Unterschied besteht darin, dass Paulus sagt, sie dürfen ihre eigenen Götter nicht mehr anbeten, sie dürfen Fleisch, das ihren ursprünglichen Göttern geopfert wurde, nicht mehr essen, sie dürfen nur noch den Gott Israels anbeten durch die Taufe in seinen Sohn Jesus Christus. Paulus (und andere, die wie er zu diesen „kirchennahen“ Heiden sprachen – Heiden, die bereits in der Synagoge waren) gibt ihnen zu verstehen, dass sie sich in dieser Hinsicht verhalten müssen, als seien sie Juden. Diesen Nichtjuden sagt Paulus, dass sie im Prinzip gegen die Bräuche ihrer Vorfahren verstoßen müssen und die Götter ihrer Vorfahren nicht anbeten dürfen. Sie werden als Nichtjuden der letztendlichen Erlösung teilhaftig werden.

In gewisser Hinsicht ist das normales Judentum. Paulus kommt aus einer jahrhundertelangen Tradition der Erwartung, dass Nichtjuden zum Reich Gottes gehören werden. Israel wird aus dem Exil befreit, und die Nichtjuden werden vom Götzendienst befreit werden. In dieser merkwürdigen Zeitfalte zwischen Auferstehung und Wiederkunft Christi verlangt Paulus, dass diese Nichtjuden aufhören, Götzen anzubeten, ehe das Reich öffentlich etabliert wird. Er stellt an seine Heidenchristen eine viel rigorosere jüdische Forderung, als die normale Synagoge an ihre nichtjüdischen Sympathisanten stellen würde, denn er sagt: „Ihr dürft eure eigenen Götter nicht mehr anbeten.“ Das taten normale Synagogen nie. Es muss viel schwieriger gewesen sein, eine stärkere soziale Destabilisierung, ein Heidenchrist innerhalb der Bewegung des Paulus zu sein als ein nichtjüdischer Gottesfürchtiger in einer konventionellen Synagoge.

DH In Ihrem Buch über Jesus von 1999 erwäh-nen Sie, dass zur Zeit des Passafestes nichtjüdische Touristen in Jerusalem waren. Wer waren diese Leute?

PF Wenn man ein großes Reich hat, hat man inneren Frieden und gewöhnlich ein gutes Kommunikationssystem; in der Antike bedeutete das Straßen. Wenn man also im Inneren Frieden hat, kann man reisen.

Dies wurde in der Antike getan, seit Alexander dem Großen im Jahr 300 v. Chr., aber auch in der römischen Epoche. Im Jerusalem des 1. Jahrhunderts wurde der Herodes-Tempel eigens so gebaut, um die Masse der Besucher zu bewältigen . Der größte Hof dieser schönen Anlage war der Hof der Völker, und er war für große Besucherzahlen ausgelegt. Es gab einen Rundgang zu mehreren Tempeln, den Touristen machen konnten. Oben in Banias ist ein großer, schöner Tempel des heidnischen Gottes Pan, und diesen Tempel besuchten die Leute auch. Die Tempel in Ägypten waren zeitlose Touristenattraktionen – fanden die Völker der Antike. Und wenn man zu einer der Stätten kam, erwies man dem Gott Ehre, dessen Wohnung man besuchte, denn in der Antike wohnten die Götter in ihren Tempeln. Der Gott Israels war an seinem Altar in besonderer Weise gegenwärtig; er wohnte im Tempel. Im Matthäusevangelium sagt Jesus das so: Wer bei dem Tempel schwört, schwört bei dem, der darin wohnt. Wenn man also ein Tourist war, war es ein Gebot der Höflichkeit, dem Gott Ehre zu erweisen, den man besuchte. Wenn Heiden zum jüdischen Pilgerfest nach Jerusalem kamen – und das taten sie (Josephus erwähnt, dass mehrere von ihnen dort festsaßen, als der Krieg mit Rom ausbrach) –, dann erwiesen sie dem jüdischen Gott Ehre. Aber sie waren trotzdem noch Heiden.

DH Das ist ein ganz anderes Bild, als wir es von Filmen oder Videos kennen. Was uns der durchschnittliche Film zeigt, ist, dass Mitglieder der beiden Gruppen die Grenzen nie überschritten. Und doch macht sich der römische Satiriker Juvenal im 2. Jahrhundert darüber lustig, dass sich sein eigenes Volk an den Sabbat, die Speisegesetze usw. hält.

In den Filmen sind die Römer anders angezogen als alle anderen. Die Römer sind die mit dem britischen Akzent, und die guten, freiheitsliebenden Sklaven sprechen mit amerikanischem Akzent.“

Paula Fredriksen

PF Die meisten modernen Menschen beziehen ihre Vorstellungen von antiker Geschichte aus Filmen. In den Filmen sind die Römer anders angezogen als alle anderen. Die Römer sind die mit dem britischen Akzent, und die guten, freiheitsliebenden Sklaven sprechen mit amerikanischem Akzent. Das ist eine sprachliche Kodierung verschiedener Gruppen. Als Herodes Agrippa in Ich, Claudius, Kaiser und Gott auftritt, nachdem er einige Jahre lang zu Hause in Palästina gewesen ist, trägt er Gebetslocken wie ein polnischer Jude im 18. Jahrhundert, weil der Film nur wenige Sekunden hat, um visuell anzuzeigen, wer die Figur ist. Doch der historische Herodes wird natürlich ausgesehen haben wie jeder andere Römer. Und Paulus war übrigens wahrscheinlich auch glatt rasiert. Menschen, die in der gleichen Zeit leben, tragen auch ähnliche Kleidung. Diese Vorstellung deutlich getrennter Volksgruppen kommt von dem Versuch, diese Menschen zu kodieren – historisch, wenn wir zwischen ihnen unterscheiden wollen, und auch visuell, mit Filmen, damit sich die Geschichte leichter erzählen lässt. Im wirklichen Leben schwimmen diese Volksgruppen alle im selben Meer. Die jüdische Bevölkerung im Abendland spricht die große abendländische Volkssprache Griechisch, und es besteht eine normale Tendenz, lokale Gebräuche zu übernehmen.

Einige Römer der Oberschicht nahmen aus einem Gefühl des Patriotismus heraus Anstoß daran, dass die althergebrachten römischen Sitten irgendwie verunreinigt würden, wenn man die althergebrachten Sitten einer anderen Gruppe annahm, und Leuten wie Juvenal oder Tacitus hat das sicher nicht gepasst, weil es unrömisch war. Aber was eigentlich römisch bedeutet, war genau das, worüber sie sich beschwerten: Römer waren an anderen Göttern interessiert.

DH Sah sich die Kirche im 1. Jahrhundert als vom Judentum getrennt?

PF Wenn Paulus an seine Gemeinden schreibt, verwendet er oft ein griechisches Wort, das „die Gruppe“ [Anm. d. Red.: im Sinne von „Versammlung“ bzw. „die zur Versammlung Herausgerufenen“] bedeutet. Das Wort ist ekklesia, und es wird mit „Kirche“ (Gemeinde) übersetzt. Doch wenn wir „Kirche“ hören, denken wir an eine Institution oder etwas Derartiges. Er spricht von einer Versammlung. Es gab keine christliche Kirche in dem Sinne, wie es sie später gab, als Konstantin beschloss, eine bestimmte Institution zu unterstützen – sicher nicht eine christliche Kirche, wie es sie heute gibt. Paulus spricht von einer Versammlung von Menschen, und ich sehe keinen Grund, anzunehmen, dass sie nicht mehr in die Synagoge gingen. Wo sonst sollten sie weiterhin Bibelgeschichten hören? Bücher waren in der Antike zumeist nicht in Privatbesitz. Es gibt keinen Grund, zu denken, dass Paulus’ Heiden-christen aufgehört haben, in die Synagoge zu gehen und die Bibel zu hören, nachdem sie diese unglaubliche Bindung an den Gott Israels eingegangen sind, indem sie ihre eigenen Götter nicht mehr anbeten. Von der Synagoge haben sie das Vokabular und die Vorstellung von Gott in der Geschichte, sodass sie die christliche Botschaft verstehen können. Ich sehe diese Gruppe, die Paulus ekklesia nennt, als eine besondere Untergruppe innerhalb des Halbschattens der Diaspora-Synagoge. Aber ich glaube nicht einmal, dass sie selbst sich als etwas sehen, dass ganz anders ist als das Judentum. Der Gott, den anzubeten sie sich versammeln, ist ja genau der Gott Israels.

DH Es ist gesagt worden, dass Paulus seit rund 2000 Jahren falsch dargestellt wird. Was halten Sie von der Vorstellung, dass wir nicht wirklich erfahren haben, wer er ist?

PF Große Persönlichkeiten der Geschichte werden sehr leicht falsch interpretiert, eben weil sie kulturell so bedeutend sind, dass das Bild der Person gewissermaßen immer einen Sinn für uns haben muss. So kommt es, dass Paulus als Protestant erscheinen kann; Luther dachte, „er mag das ganze pompöse Ritual nicht“. Oder er kann leicht als orthodoxer Christ gesehen werden. Und als Augustinus im 4. Jahrhundert seine Paulus-Kommentare schrieb, sah er ihn mit Sicherheit als eine Art Proto-Augustinus. Was uns wirklich ermöglicht hat, uns nicht mehr um ein historisch korrektes Paulusbild betrügen zu lassen, ist die viele Arbeit, die im letzten halben Jahrhundert über das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels geleistet wurde. Dadurch, dass die Historiker Paulus in seinem jüdischen Kontext sahen, konnten sie verstehen, wie dieser Mann ein leidenschaftlich engagierter Jude und gleichzeitig ein leidenschaftlich engagierter Apostel für die Botschaft der Erlösung in Jesus Christus sein konnte, ohne verwirrt zu sein. Was er tat, war nichts anderes als eine radikale Form des Judentums. Wir wissen heute – mit dem Vorteil der Rückschau –, dass diese Form des Judentums schließlich das Heidenchristentum hervorbrachte. Paulus hatte diesen Vorteil der Rückschau in seinem eigenen Leben nicht.

DH Wir hören immer mehr vom neuen Paulusbild; was war denn das „alte“ Bild?

PF Die alte Vorstellung von Paulus ist, dass er Christ wurde, und dass das etwas anderes bedeutete, als Jude zu sein. Das ist sehr hübsch dargestellt in einem christlichen Cartoon für Kinder, den ich einmal gesehen habe. Da ist Paulus auf der Straße nach Damaskus, und er hat die Kopfbedeckung für männliche Juden auf, die Kippa. Er wird zu Boden geworfen, ein helles Licht scheint auf ihn, Jesus spricht zu ihm, und im restlichen Cartoon trägt er keine Kippa mehr. Fertig. Er ist „Christ“. Man stellt sich das Christentum so leicht als irgendwie gegensätzlich zum Judentum vor, weil das Christentum das Judentum in den Jahrhunderten lange nach Paulus so dargestellt hat. Zu Paulus’ Lebzeiten ist Christentum nur als extreme Form des Judentums verständlich. Und Paulus versteht sich als Jude. Welche Wahl hat er denn? Die einzige andere Option wäre, sich als Heide zu sehen.

DH Sie haben angemerkt, dass die Trennung zwischen Judentum und Christentum durch die Politik innerhalb des Römischen Reiches und Konstantins Entscheidung zugunsten des römischen Christentums entstand. Unter Konstantin wurde der Sabbat offiziell durch den Sonntag abgelöst, und die Christen wurden angewiesen, nicht mit Rabbis über die Datierung des Osterfestes zu konferieren. Was hätte Paulus dazu gesagt, wenn er es erlebt hätte?

Wir beziehen uns gewohnheitsmäßig auf die Bekehrung Konstantins. Ich denke, es ist zutreffender, zu sagen, dass wir unter Konstantin die Bekehrung des Christentums haben.“

Paula Fredriksen

PF Wir beziehen uns gewohnheitsmäßig auf die Bekehrung Konstantins. Ich denke, es ist zutreffender, zu sagen, dass wir unter Konstantin die Bekehrung des Christentums haben. Unter Konstantin wird das Christentum zu einer Form der kaiserlich-römischen Kultur. Eine Gruppierung von Christen genießt seine Gunst. Sie bekommen Steuererleichterungen. Sie bekommen auf Kosten der Allgemeinheit große, schöne Bibelabschriften. Sie dürfen die Reichspost gratis nutzen. Sie bitten Konstantin, die Oberhäupter der anderen christlichen Gruppierungen in der Stadt zu vertreiben. Es sind also andere Christen, die am schlechtesten behandelt werden, nachdem Konstantin zum Patron dieser einen Kirche wird. Nach der Bekehrung Konstantins werden mehr Christen verfolgt als davor, weil ein bestimmter Teil der Kirche es auf sie abgesehen hat. Paulus’ erste Reaktion auf all das wäre gewesen, dass die Art Christentum, die Konstantin begünstigte, ganz anders war als das, was Paulus vertreten hatte. Dass Konstantins Christentum sich als das einzig wahre im Sinne der paulinischen Lehre verstand, hätte den Schock des historischen Paulus über den Unterschied zwischen Konstantins Christentum und seinem eigenen noch verstärkt. Konstantins offizieller Biograf Eusebius sieht das christliche Römische Reich unter dem Kaiser im „Frieden Jesajas“ begründet – dem messianischen Frieden, den unser „Altes Testament“ verheißt. Wenn Paulus an das Reich Gottes dachte, hatte er sicher nicht den römischen Kaiser als seinen Statthalter im Sinn.

DH Gibt es überhaupt eine Kontinuität zwischen dem, was wir im 4. Jahrhundert sehen, und dem, was im 1. Jahrhundert geschehen sein könnte, zu Paulus’ Zeit?

PF Ob sie Heiden waren oder dann Christen: Diese Nichtjuden im Mittelmeerraum hörten nie auf, in die Synagoge zu gehen. Aber als einige Christen eine ideologische Überzeugung von dem trennenden Unterschied zwischen Judentum und Christentum entwickelten, wurde es für sie inakzeptabel, zur Synagoge zu gehen. Wir haben Klagen in Predigten von Bischöfen im ganzen 4. und 5. Jahrhundert. Wir haben Gesetzestexte von Kirchenkonferenzen im 5., 6. und 7. Jahrhundert. Dies bedeutet, dass in jüdischen Synagogen, selbst wenn der Bischof ihrer heidenchristlichen Nachbarn schreckliche Dinge über sie sagte – sie seien „Hurenhäuser“, der Satan wohne in ihnen, alle Juden hätten Christus umgebracht usw. –, weiterhin der Gott Israels angebetet wurde, die Bibel auf Griechisch gelesen wurde und die heidenchristlichen Nachbarn wie auch die nichtjüdischen Heiden willkommen waren. Es hört nie auf. Wir denken so leicht, Paulus hätte die Synagoge verlassen, die Judenchristen seien nicht mehr zur Synagoge gegangen, die Heidenchristen hätten absolut sofort aufgehört, die Kirche und die Synagoge seien von Anfang an zwei völlig verschiedene Institutionen gewesen. Aber dieses Bild ist falsch.

DH Können Sie zum Problem des Anachronismus und seiner Folgen für das Paulus-Verständnis etwas sagen?

PF Ich bin Historikerin, und die schlimmste „Erbsünde“ für Historiker ist der Anachronismus. Was das bedeutet, ist, dass man etwas aus seinem historischen Kontext heraushebt, es in einen anderen historischen Kontext stellt und es somit fehlinterpretiert. Wenn wir darüber hinaus Paulus als orthodoxen Christen sehen, wird die Fehlinterpretation umso schlimmer. Er lebte in einer Zeit, in der man nicht trinitarisch dachte. Der Begriff der Trinität war noch nicht erfunden. Seine Briefe sprechen von Jesus Christus, sie sprechen von Gott, dem Vater, und er schreibt über den Geist Gottes. Das sind die Textquellen, die verwendet wurden, um die Trinitätslehre zu formulieren, aber Paulus dachte nicht trinitarisch.

Viele lesen Paulus mit der Vorstellung, er sei ein Feind des Judentums, weil er das Christentum „gegründet“ habe. Tatsächlich sah er sich weiterhin als Jude und stellte das Christentum in Kontinuität mit dem Judentum dar. Dass Paulus für das Christentum eine so enorme Figur ist, macht es uns fast unmöglich, ihn nicht anachronistisch zu interpretieren, sobald wir ihn ansehen, denn es ist so wichtig, dass seine Botschaft moderne Christen unmittelbar anspricht. Wenn wir wagen, zu sehen, wie stark seine Botschaft tatsächlich mit dem Judentum des 1. Jahrhunderts zusammenhing, müssen wir die Vorstellung einer unmittelbaren Verbindung zwischen ihm und uns, zwischen dieser jüdisch-messianischen Bewegung in der Antike und der modernen Kirche aufgeben.