Über sich selbst hinauswachsen

Das Beste aus sich machen

Aus dem Archiv von Vision: Fragen Sie sich regelmäßig, welche Auswirkungen Ihre Worte und Taten auf Ihre Mitmenschen haben? Für gesunde Beziehungen sollte man jedoch genau das tun. Neuveröffentlicht im Frühjahr 2022, aus unserer Ausgabe vom Sommer 2017)

Wir alle haben schon egozentrisches Verhalten gesehen: das Paar, das am Flughafen mit seinem Gepäck mitten auf dem Laufband steht und sich nicht darum kümmert, ob von hinten jemand vorbeimuss. Den Autofahrer, der alles aus seiner Hupe herausholt, weil jemand vor ihm bei Grün nicht sofort losfährt – um einen Fußgänger noch auf die andere Straßenseite zu lassen. Den Politiker, der alle scheinbaren Erfolge sich selbst und alle Misserfolge seinen Gegnern zuschreibt.

Wir haben solche Situationen nicht nur gesehen; wir selbst waren fast mit Sicherheit manchmal die Schuldigen. In Egozentrikfallen zu tappen – manche Forscher nennen so etwas „egozentrische Verzerrung“ – ist eine universale Tendenz. Ob es uns gefällt oder nicht, wir alle sind ein wenig egozentrisch, einfach weil wir Menschen sind. Man könnte allerdings den Eindruck bekommen, dass die heutige Gesellschaft Egozentrik begünstigt oder zumindest nicht dazu anhält, etwas gegen diese automatische Verhaltensweise zu tun. Wie können wir über uns selbst hinausgehen und nicht nur die Bedürfnisse anderer Menschen berücksichtigen, sondern auch die Auswirkungen unseres Handelns auf ihr Wohlergehen? Warum ist es so schwer, unseren eigenen Blickwinkel lange genug zu verlassen, um die Welt aus den Augen eines anderen zu sehen?

Menschlich, allzu menschlich

Wir sind von Natur aus der Mittelpunkt unserer Welt. Als Babys und Kleinkinder sind wir nicht nur unfähig, die Dinge aus der Sicht anderer zu sehen, sondern wissen auch noch nicht, dass andere eine eigene Sicht haben, geschweige denn Gefühle, Meinungen oder Erfahrungen, die sich von unseren eigenen unterscheiden.

Doch wenn wir größer werden, entwickeln wir (in der Regel) eine sogenannte „Bewusstseinstheorie“: die Fähigkeit, über das Ich hinaus anderen Menschen Befindlichkeiten zuzuordnen. Wenn wir erwachsen sind, sollten wir – vorausgesetzt, wir hatten engagierte Bezugspersonen und die erforderlichen psychischen Ressourcen – ziemlich gut darin sein, die Welt durch die Augen anderer Menschen zu sehen, wenn wir uns selbst dazu anhalten, dies zu tun.

Die Herausforderung besteht darin, dass wir uns bewusst dazu anhalten müssen: Wir mögen den Übergang von der normalen kindlichen Egozentrik zur Erwachsenenvariante noch so erfolgreich bewältigt haben – aus seiner Neigung zu egozentrischen Verzerrungen, die außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung wirken, wächst das menschliche Gehirn nie heraus. Es könnte eine Tendenz sein, Indizien und Informationen, die nicht zu unserem Denken passen, zu ignorieren. Vielleicht besteht die Tendenz aber auch darin, komplexe Zusammenhänge zu übersehen und vereinfachende Vorstellungen vorzuziehen, die eine schnelle und leichte Meinungsbildung erlauben. Außerdem neigen wir dazu, unsere eigenen Charakterzüge und Fähigkeiten egozentrisch zu bewerten. Dabei ist Selbstgerechtigkeit nicht nur für religiöse Fanatiker eine potenzielle Falle; Menschen neigen allgemein zu der Ansicht, sie selbst würden mit geringerer Wahrscheinlichkeit etwas Unmoralisches tun als andere, sowie zu einer großzügigeren Bewertung ihrer eigenen Führungsqualitäten.

Egozentrische Selbstgerechtigkeit: die natürliche Tendenz, sich in Gewissheit, im Besitz der Wahrheit zu sein, überlegen zu fühlen.“

Linda Elder und Richard Paul, „Natural Egocentric Dispositions”

Diese Verzerrungen wirken im Hintergrund, selbst wenn (oder vielleicht gerade wenn) wir absolut davon überzeugt sind, nur das Beste für jemanden zu wollen. In einem Liebeslied oder einem Schlaflied mag es großartig klingen, aber in Wahrheit kann „Du bist alles für mich“ niemals in der gleichen Weise möglich sein wie „Ich bin alles für mich“. Wie sehr wir jemanden auch lieben oder wie selbstlos wir glauben, sein zu können: Es ist nicht leicht, sich in das Erleben anderer einzufühlen und ihre Gefühle, Überzeugungen und Reaktionen genau richtig vorauszusehen und zu beantworten. Doch diese Fähigkeit nach besten Kräften zu erlernen ist entscheidend dafür, Konflikte zu vermeiden und zu heilen und gesunde Beziehungen aufzubauen. Dieses „perspektivische Denken“, wie es bisweilen genannt wird, erfordert Empathie und oft eine ausgeprägte Fantasie.

Menschen, die ohne diese Fähigkeit erwachsen geworden sind, zeigen einen deutlichen Mangel an Aufmerksamkeit oder Rücksicht auf andere Menschen und deren Bedürfnisse sowie dafür, wie sich ihr eigenes Handeln auf andere auswirkt. Das könnte man als „egozentrische“ Mentalität bezeichnen.

Egozentriker oder Narzisst?

Egozentrische und narzisstische Züge werden oft miteinander verwechselt, doch obwohl sie sich überschneiden können, sind sie doch verschieden. Ein Narzisst liebt und bewundert sich selbst, empfindet sich als etwas Besonderes und meint, zu besonderen Ansprüchen berechtigt zu sein. Ein Egozentriker neigt dazu, seine eigene Realität mit der Realität anderer Menschen zu verwechseln. Anders gesagt: Er geht davon aus, dass seine eigene Sicht bereits alle relevanten Informationen berücksichtigt. Man kann Narzisst sein, ohne egozentrischer zu sein als jeder andere; man sieht die Perspektive eines anderen Menschen, kümmert sich aber nicht darum. Die eigene Perspektive ist wichtiger. Man kann auch Egozentriker sein, ohne Narzisst zu sein. Vielleicht liegt einem das Wohl der Mitmenschen aufrichtig am Herzen, aber man denkt, die eigene Vorstellung davon, was das Beste für sie ist, sei relevanter als ihre – für den unwahrscheinlichen Fall, dass man überhaupt auf die Idee gekommen ist, ihre Bedürfnisse und Wünsche könnten von den eigenen abweichen.

Egozentrische Verzerrungen sind nicht harmlos, auch nicht für den Egozentriker selbst. So kann zum Beispiel einerseits die Annahme, die Handlungen und das Verhalten einer anderen Person (die ihn tatsächlich gar nicht wahrnimmt) seien negativ auf ihn gerichtet, Depressionen, Ängste, ein geringes Selbstwertgefühl und zahlreiche weitere psychische Störungen auslösen.

Andererseits kann eine unrealistische Vorstellung von der Wertschätzung durch andere die Gefahr des Narzissmus mit sich bringen, während sie scheinbar vor Depressionen und Ängsten schützt. Dies stellte eine Gruppe von Forschern in einer Studie aus dem Jahr 1988 fest. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass viele nicht depressive Menschen zu einer unrealistisch positiven Selbsteinschätzung neigen und meinen, sie hätten mehr Kontrolle über ihr Leben, als es tatsächlich der Fall ist. Dieser „illusorische Glanz“ ist bei Depressiven oft nicht vorhanden; sie unterschätzen möglicherweise ihre Kontrolle und bewerten sich selbst negativ. Zunächst schien das eine gute Nachricht zu sein. Vielleicht, so dachten einige, sollten wir alle unsere egozentrischen Illusionen willkommen heißen, um die Depression zu besiegen. Doch dann stellten andere Forscher fest, dass illusorische Verzerrungen uns nach beiden Seiten der Realität nicht guttun. Wir sind psychisch gesünder, wenn unser Selbstbild der Realität so nahe kommt wie möglich.

Es mag wie eine Ironie wirken, als Erstes zu betrachten, wie wir selbst von der Bekämpfung unserer egozentrischen Tendenzen profitieren können, aber irgendwo muss der Anfang ja gemacht werden. Als soziale Wesen sind wir abhängig von sozialer Einbindung, um psychisch gesund zu bleiben und lange zu leben. Diese soziale Einbindung kann jedoch nicht gelingen, wenn wir nicht regelmäßig die Sicht unserer Mitmenschen berücksichtigen. Tatsächlich ist dies ein zentraler Aspekt der emotionalen Intelligenz, die dazu beiträgt, daheim, in der Schule und bei der Arbeit erfolgreich zu sein.

Vom Ich zum Mitmenschen

Wegen der breiten Popularität seiner Bücher über soziale und emotionale Intelligenz ist der Psychologe Daniel Goleman bekannt dafür, dass er die Bedeutung der Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung anderer in unseren Emotionen und Beziehungen aufzeigt. Sein Interesse an diesem Thema wurde 1990 geweckt, als er in einer Fachzeitschrift einen Artikel der Psychologen John Mayer und Peter Salovey las, der emotionale Intelligenz als messbare menschliche Eigenschaft einführte.

Seither hat dieser Begriff ein Eigenleben entwickelt. In der populären Kultur wird er oft mit einfacher Empathie verwechselt, aber die Definition von emotionaler Intelligenz, die Mayer und Salovey vorschlugen, ist komplexer als die populäre Version. Sie umfasst „die Fähigkeit, Emotion wahrzunehmen und auszudrücken, Emotion im Denken zu assimilieren, mit Emotion zu verstehen und zu argumentieren und Emotion bei sich selbst und anderen zu regulieren.“

Empathie ist natürlich eine Voraussetzung für emotionale Intelligenz, aber das gilt auch für die Fähigkeit, unser Denken und Handeln so zu regulieren, dass es sich positiv auf unser eigenes Leben und unsere Beziehungen mit anderen Menschen auswirkt. Der Psychologe Sam Alibrando bezeichnet diese Eigenschaften in seinem Buch The 3 Dimensions of Emotions (2016) als Stärke, Herz und Achtsamkeit. Andere haben alternative, ebenfalls vertraute Begriffe geprägt. Als Beispiel nennt er die bei Physiologen übliche Bezeichnung von drei emotionalen Reaktionen auf Konflikt und Furcht: „fight or flight“, auch im Deutschen gebräuchlich für „Kampf oder Flucht“, sowie „freeze/appease“ (Bewegungslosigkeit bei erhöhter Aufmerksamkeit/Besänftigen). Die Psychoanalytikerin Karen Horney beschreibt sie als Bewegung gegen den Auslöser (fight), Bewegung vom Auslöser weg (flight) und Bewegung auf den Auslöser zu (freeze/appease).

Allerdings ist diese Dynamik schon wesentlich länger bekannt. Wie Alibrando schreibt, bezeichnet Paulus von Tarsus ähnliche Eigenschaften als Kraft, Liebe und Besonnenheit. Für den Apostel Paulus, der im 1. Jahrhundert lebte, sind dies Aspekte des heiligen Geistes, der im Inneren der Menschen wirkt und ihnen das Gegenmittel zu Angstreaktionen gibt.

Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“

2. Timotheus 1, 7

In Alibrandos Modell kann jede der drei Reaktionen positiv oder negativ geladen sein, doch um emotionale Intelligenz zu reflektieren, müssen alle drei ausgeglichen sein und im positiven Modus feuern. Wir alle können negative Ausdrucksformen von Stärke erkennen: Dominanz, Arroganz, Gewalt. Aber kann es auch negative Ausdrucksformen von Liebe geben? Vielleicht ist es hilfreich, sie sich als das Fehlen emotionaler Grenzen vorzustellen: emotionale Abhängigkeit, passive Aggression, emotionale Manipulation, falsche Demut, Permissivität, Koabhängigkeit. Negative Formen von Achtsamkeit wären Distanziertheit, Unnahbarkeit, Meiden, fehlende Verbundenheit, Isolation. Es ist leicht zu erkennen, dass jede dieser negativen Ausdrucksformen als reflexartige Angstreaktion auftreten kann.

Wenn man dies bedenkt, ist klar, dass Paulus die positive Ladung jeder Dimension gemeint haben muss. Zum Beispiel die göttliche Kraft, welche eingesetzt wird, um Mitmenschen zu helfen, statt sie zu kontrollieren. Die Art göttliche Liebe, die auf entgegenkommender Fürsorge und Achtung beruht statt darauf, was man selbst von einer Beziehung bekommt. Und die göttliche Besonnenheit, die eine Situation mit Wahrhaftigkeit, Klugheit und Selbstkontrolle einordnet, all dies in einem Kontext stimmiger Wahrnehmung der eigenen und anderer Personen, statt sich zurückzuziehen und über vermeintlich erlittene Missachtung zu grübeln.

In diesem Licht betrachtet wäre Paulus zufolge das geistliche Gegenmittel zu Furcht gleichzeitig auch das Gegenmittel zu Egozentrik. Soweit wir fähig werden, Stärke in einer positiven Weise einzusetzen, die entgegenkommende Liebe und Fürsorge für Mitmenschen ausdrückt, verankert in gottergebener Klugheit, mit achtsamer Wahrnehmung ihrer wirklichen Bedürfnisse und unserer eigenen Motivationen, verringern wir unsere Tendenz, in die Falle unserer natürlichen egozentrischen Veranlagung zu tappen.

Menschen, die fähig sind, diese emotionalen Reaktionen zu kontrollieren und im Gleichgewicht zu halten, sind nicht nur gut in perspektivischem Denken – die Emotionen anderer Menschen wahrzunehmen und zu verstehen –, sondern auch darin, ihre eigenen Emotionen und Verhaltensweisen im Licht dieses Verstehens zu regeln. Anders gesagt: Sie sind in dem Maß fähig zur Selbstwahrnehmung, um ihre eigenen Gefühle zu erkennen, dass sie die gleichen Gefühle und Perspektiven auch bei anderen identifizieren können. Aber sie nehmen auch andere Menschen gut genug wahr, um zu begreifen, dass deren Gefühle und Perspektiven sich von ihren eigenen unterscheiden könnten. Dann können sie kritisch darüber nachdenken, wie sie ihre eigene Reaktion angemessen ausrichten sollten.

Menschen mit der richtigen Art von Stärke, Liebe und Besonnenheit zu begegnen ist mehr als der bloße Versuch, jemandes Ausdrucksweise oder Körpersprache zu lesen oder Schlüsse aus seinem Verhalten zu ziehen. Die besten perspektivischen Denker bemühen sich aktiv um Informationen über das Erleben eines Mitmenschen, entweder indem sie sich empathisch in ihn einfühlen oder indem sie ihn einfach fragen.

Es dürfte kaum überraschen, dass es dabei sehr hilfreich sein kann, zu verstehen, warum andere Menschen so empfinden und handeln, wie sie es tun. Man entwickelt mehr Mitgefühl für sie, aber auch für Menschen in ähnlichen Situationen. Man ist eher bereit, ihre Freuden und Leiden mit ihnen zu teilen und sie sowohl materiell als auch sozial zu unterstützen. Was allerdings überraschen kann, ist, dass diese Wirkung auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn andere wahrnehmen, dass wir uns die Mühe gemacht haben, sie verstehen zu wollen, verstärkt das auch ihr Mitgefühl und ihre Affinität uns gegenüber, wodurch die Hindernisse für emotionale Verbundenheit einzustürzen beginnen; die egozentrischen Verzerrungen werden auf beiden Seiten verringert.

Die direkte Folge ist, dass wir weniger Konflikte erleben; wenn es aber doch dazu kommt, können wir sie fast sicher lösen und danach mehr gegenseitiges Verständnis und eine stärkere Beziehung haben.

Wie könnte das in einem unserer Eröffnungsszenarien aussehen? Nehmen wir das Paar auf dem Laufband: Aufgrund von Selbstwahrnehmung würden die beiden merken, dass sie die ganze Breite des Laufbands einnehmen und anderen nicht genügend Platz lassen, um an ihnen vorbeizugehen. Durch die Wahrnehmung anderer Menschen würden sie bedenken, dass – auch wenn sie selbst noch viel Zeit haben – andere Reisende vielleicht an ihnen vorbeimüssen, um ihren Flug nicht zu verpassen. Liebe, Empathie oder entgegenkommende Fürsorge würden sie motivieren, mit ihrem Gepäck auf eine Seite des Laufbands zu rücken.

Um Egozentrik zu überwinden, müssen alle drei Dynamiken zusammenwirken. Stärke und Bewusstheit ohne Kümmern manifestieren sich im Wesentlichen als Narzissmus. Gleichzeitig könnten wir uns um jemanden kümmern und sogar unsere Stärke einsetzen, um etwas für ihn zu erreichen – doch ohne die tatsächlichen Bedürfnisse des Betreffenden wahrzunehmen, könnte unser Versuch, selbstlos zu sein, mehr schaden als nutzen. Oder wir nehmen die Bedürfnisse anderer wahr und kümmern uns um sie, doch wenn wir uns nicht für sie stark machen, sind unsere guten Absichten nutzlos.

Wenn wir aber aus allen drei Zylindern effektiv feuern – gesunde Stärke, Liebe und Besonnenheit zum Einsatz bringen –, wachsen wir in unseren Interaktionen über uns selbst hinaus. Egozentrik wird zurückgedrängt und wir können unsere Beziehungen mit einer einzigartigen Form von Klugheit leben. Egal, ob man es emotionale Intelligenz oder anders nennt, es ist eine Qualität, die möglicherweise niemals seltener war als heute; sie ist tatsächlich, wie Paulus lehrte, in ihrer reinsten Form eine Gabe Gottes. Wie man diese Gabe allmählich erlangen kann, ist ein Herzstück von Paulus’ Lehre über wahre Wandlung.