Viele Wege führen nach Rom

In diesem Vorzeichen und auf Grund seiner zeitweise beeindruckenden Geschichte von Frieden und Zivilisation kam es nach dem Fall des Reiches im Westen ab 476 zu zahlreichen Versuchen, das alte Imperium wieder aufzurichten.

Verschiedene Mächte haben durch die Jahrhunderte mit Nachdruck versucht, das imperiale Modell wiedererstehen zu lassen. Einige trachteten dabei nur danach, der Größe des Reiches nachzueifern. Andere suchten für ihre politischen Ambitionen die Absegnung durch das religiöse Rom, und wieder andere wurden durch päpstliche Autorität und Macht in diese Richtung gezwungen.

Im 6. Jahrhundert unternahm der Byzantinische Kaiser Justinian seine „Imperiale Restauration“, indem er versuchte, die durch die barbarische Invasion auseinander gebrochene westliche und östliche Hälfte des Römischen Reiches wieder zu vereinen. Die Bewohner des östlichen, byzantinischen Reiches hatten sich trotz Spaltung vom alten Rom immer als Römer gesehen. Justinian fasste das römische Recht zusammen und setzte es neu in Kraft und sandte seine Armeen, um Italien und Nordafrika wieder unter römische Herrschaft zu stellen. Seine Restauration war erfolgreich - wenn auch nur für kurze Zeit.

Zurzeit des germanisch-fränkischen Monarchen Karl des Großen (758-814) suchte Papst Leo III., da seine Position in Italien unsicher geworden war, nach politischer und militärischer Unterstützung. Karl schien die logische Wahl zu sein, da er bereits Leos Beschützer als König der Lombardei im nördlichen Italien war. Am 25. Dezember 800 in Rom, anlässlich einer Zeremonie, in der Karls Sohn zum König geweiht werden sollte, setzte der Papst plötzlich und unerwartet eine Krone auf das Haupt Karls und erklärte ihn zu Karl I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Obwohl dies ein illegaler Akt war, wurde dieser Titel Karls des Großen 812 vom Byzantinischen Kaiser in Konstantinopel anerkannt. Karl der Große erhielt das Herzogtum Rom zuerkannt und obwohl seine Wiederbelebung des imperialen Modells nicht lange dauerte, wurde er zu einer Inspiration für nachfolgende christliche Könige in Frankreich und Deutschland. Dieser riskante Schachzug des Papstes sollte sich als bedeutsamer Akt in Bezug auf die nächste Neuauflage des Römischen Reiches erweisen.

Otto I., bekannt auch als Otto der Große, wurde im Jahre 936 in Aachen auf den sächsisch-fränkischen Thron gehoben und war der wahre Nachfolger Karls des Großen. Papst Johannes XII. ernannte ihn 962 in Rom zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, um sich selbst unter den Schutz der fränkischen Monarchie zu stellen. Otto wurde zum Beschützer der römischen Kirche und regierte über Deutschland und Italien. Es war einer von Ottos Nachfolgern, Konrad II. (1024-39), der sein Territorium zum Römischen Reich erklärte.

Ab der Mitte des 11. Jahrhunderts erstarkte die Position der Päpste allmählich; das führte zu Rivalitäten unter den säkularen Beschützern. Im 12. Jahrhundert suchte der Kaiser deshalb nach neuen Argumenten, um seine Vorrangstellung zu behaupten. Friedrich I., genannt Barbarossa (1152-90), bezog sich auf römisches Recht, um seine Position abzustützen, und fügte dem Namen des Reiches das lateinische Wort sacrum hinzu und machte es so zum „Heiligen Reich“. Ab etwa 1440 wurde es „Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation“.

Die Habsburger übernahmen den deutschen Thron im 13. Jahrhundert; es war der Habsburger (und Heilige Römische Kaiser) Karl V. (1519-1556), der 1521 erklärte, dass „das alte Reich nicht viele Herren hatte, nur einen, und es ist unsere Absicht, dieser eine zu sein“. Obwohl die territoriale Größe seines Reiches beeindruckend war, fand Karls Eifer für die römische Denkweise mehr Ausdruck in seiner starken Unterstützung der römisch-katholischen Kirche gegen die protestantische Reformation. Mit der Neudefinition der politischen Landkarte Europas im Westfälischen Frieden von 1648 verschwand das Heilige Römische Reich vorübergehend von der Bildfläche.

Napoleon Bonaparte erweckte die „römische Idee“ wieder zum Leben und setzte an, den lang gehegten französischen Traum von Kaisertitel und Reich zu erfüllen. Der auf Korsika geborene Napoleon stammte aus einem alten toskanischen Adelsgeschlecht. Im Dezember 1804 sollte er von Papst Pius VII. zum französischen Kaiser geweiht werden. Während der Zeremonie ergriff Napoleon die Krone, die der Papst in seinen Händen hielt, und krönte sich selbst. Er war auch Präsident der italienischen Republik und wurde 1805 zum König von Italien gekrönt. Seine enge Beziehung zum Papst führte zu einem lange währenden Konkordat zwischen Frankreich und dem Vatikan. Napoleon wollte Karl dem Großen nacheifern; er versuchte auch, den römischen Kaisertitel vom österreichischen Kaiser der Habsburger, Franz II., zu erlangen, aber dieser kam ihm zuvor, legte den Titel als Römischer Kaiser ab und erklärte das Heilige Römische Reich als erloschen, die deutschen Gebiete fielen in der Folge an Napoleon. Wenngleich seine Herrschaft durch Niederlage und Gefangenschaft abgekürzt wurde, versuchte er doch in seiner Regierungszeit sein Territorium über das ganze Gebiet des alten Römischen Reiches auszudehnen.

Mit Napoleons Tod schien die Idee des mittelalterlichen Römischen Reichs zu verschwinden. Die imperialistischen Bestrebungen nach Weltmacht, die manche der europäischen Mächte mit ihren Kolonialstaaten im 19. Jahrhundert umtrieb, waren vielleicht ein aufflackern der alten Idee. Man hat spekuliert, dass im 20. Jahrhundert Hitler in seinem Weltmachtstreben zusammen mit Benito Mussolinis faschistischem Staat Italien auch von der Erinnerung an Karl den Großen, Otto den Großen und Friedrich II. beflügelt wurde.

Es war Mussolini, der im April 1922, ein paar Monate vor seinem Marsch auf Rom, der ihm zur nationalen Macht verhalf, erklärt hatte: „Wir träumen vom römischen Italien - weise und stark, diszipliniert und kaiserlich. Vieles des unsterblichen Geistes des alten Rom ist wiedergeboren im Faschismus!“ Eine kürzlich veröffentlichte Analyse dieser Rede drückte es so aus: „Mussolini wollte als neuer Augustus, als zweiter Cäsar betrachtet werden“ (Peter Godmann, Hitler and the Vatican, 2004). 1936, als seine Truppen erfolgreich in Äthiopien einmarschiert waren, konnte der Duce erklären, dass Italien wieder sein Reich hatte, „ein Reich des Friedens, ein Reich der Zivilisation und Menschlichkeit“.

Wie so viele vor ihm, die sich als Nachfolger des gefallenen Reiches sahen, währte Mussolinis Versuch nicht lange. Seine „imperiale“ Regierung ist wohl der kürzeste aller Versuche einer Restaurierung des alten Reiches gewesen.

Ist das Bild des Reichs nun wahrhaftig für immer verschwunden? Wenn die Vergangenheit hierzu eine Vorlage ist, wäre es sicher voreilig, so etwas zu behaupten. Das römische imperiale Modell, in Verbindung mit einer klar definierten religiösen Tradition, ist viele Male auferstanden und wieder verschwunden. Es gibt heute manche, die das Europa der 25 (die gegenwärtige Europäische Union) im Licht einer imperialen Erneuerung des alten Reichs sehen. Die Staatsführer dieser Länder trafen sich 2004 in Campidoglio, dem politischen und religiösen Zentrum des alten Rom. Im prunkvollen Orazi- und Curiazi-Saal, wo 1957 die Gründungsdokumente der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Römischen Verträge, unterzeichnet wurden, stimmten die 25 Staatsführer der Verfassung zu. Die Symbolik der Umgebung dürfte den meisten Anwesenden entgangen sein - man befand sich „im Angesicht“ der Statuen der beiden Päpste aus dem 17. Jahrhundert, Urban VIII. und seines Nachfolgers Innocent X. Es waren diese beiden Päpste, die einst die Teilung Europas und das Ende des Heiligen Römischen Reiches erlebt hatten, die Folgen des 30-jährigen Krieges und des Westfälischen Friedens.   

Die Väter der Verfassung vermieden trotz erheblichem Druck von manchen Seiten, inklusive seitens des Vatikans, eine direkte Erwähnung des europäischen christlichen Erbes. Gegenwärtig wird die EU lediglich als säkulare Macht gesehen. Die vor kurzem hart erkämpfte Verfassung wartet noch auf die Ratifizierung in den Mitgliedsstaaten. Die militärische Macht entwickelt sich derzeit nur zögerlich und eine gemeinsame Außenpolitik scheint immer noch schwierig, aber die legislative, ökonomische und gerichtliche Macht über die Vielzahl von Nationen ist bereits beträchtlich gewachsen. Die geographische Ausdehnung Europas erreicht langsam Dimensionen, die an das alte Römische Reich heranreichen.

In Bezug auf Daniels Traum bleibt abzuwarten, ob sich Europa in irgendeiner neuen Form wieder als Wegbereiter einer Neuauflage der Idee und des Bildes des alten Römischen Reichs erweisen wird.