Israel wird 70: Vergangenheit und Zukunft

70 Jahre nach der Staatsgründung Israels und dem Krieg, der darauf folgte, scheint der Friede mit Palästinensern und Arabern kein Stück näher gekommen zu sein. Der Politikwissenschaftler Menachem Klein spricht über Erfolge und Misserfolge seines Landes und über seinen Weg in die Zukunft.

Der Staat Israel hatte eine schwere Geburt. Nicht weniger leidvoll und schmerzhaft war sein Weg ins Erwachsenenalter. Zwar konnte er viele Angreifer abwehren, doch gelingt es ihm weiterhin nicht, mit vielen seiner Einwohner und den meisten seiner Nachbarn Frieden zu finden. Gibt es einen Weg, der Israel voranbringt? 

Der israelische Autor, Politikwissenschaftler und Friedensunterhändler Menachem Klein ist seit Langem ein aktiver Verfechter eines israelisch-palästinensischen Friedens; im Jahr 2000 war er Berater der israelischen Regierung. Drei Jahre später war er einer der Unterzeichner des Genfer Abkommens, das detaillierte und umfassende Friedensvereinbarungen enthält. Das US-Politikmagazin New Republic hat sein Buch Lives in Common: Arabs and Jews in Jerusalem, Jaffa and Hebron; Deutsch von Eva-Maria Thimme, Jerusalem geteilt, vereint: Araber und Juden in einer Stadt als eines der besten Sachbücher des Jahres bezeichnet. Klein spricht über 70 Jahre Israel mit Vision-Herausgeber David Hulme.

Menachem Klein ist Professor für Politologie an Israels Bar-Ilan University in Tel Aviv. Darüber hinaus war er Stipendiat am St. Antony’s College der Universität Oxford, Gastprofessor am Massachusetts Institute of Technology, Gastwissenschaftler an der niederländischen Universität Leiden sowie Forschungsstipendiat am King’s College in London.

DH      Der Staat Israel hat seinen 70. Geburtstag begangen. Hat er die Erwartungen seiner Gründer erfüllt?

MK       Israels Gründer wollten, dass er überlebt und sich als mächtiger Staat etabliert. In dieser Hinsicht hat Israel ihre Erwartungen erfüllt.

Aber Ben Gurion sprach von Israel immer wieder als einem „Licht für die anderen Völker“. Für ihn hat Israel eine moralische Mission, die über seine physische Existenz hinausgeht. In dieser Hinsicht erfüllt Israel nicht, was Ben Gurion und seine Kollegen erwartet haben. Nicht nur die Besatzungspolitik gegenüber dem palästinensischen Volk hat einige unerfreuliche Ähnlichkeiten mit der Apartheid, sondern auch die Korruptheit und Kriminalität von im Verhältnis nicht wenigen seiner führenden Politiker. Ein ehemaliger Präsident, ein Premierminister, mehrere Minister, Knesset-Abgeordnete und Stadträte sind zu Haftstrafen verurteilt worden. Auch gegen Netanjahu wird ein Strafprozess erwartet; jedenfalls hat die Polizei empfohlen, dass der Generalstaatsanwalt Klage erhebt.

DH      Man kann sicher leicht den Eindruck bekommen, dass politische Korruption in Israel fast endemisch ist. Wenn diese Wahrnehmung zutrifft, wie erklären Sie dann, dass Israel nicht das Licht geworden ist, das Ben Gurion erhoffte?

MK      Das ist nicht nur ein Eindruck, sondern sind rechtlich untermauerte Fakten. Meine Erklärung dafür ist kulturell: Uns fehlt die Kultur von Dingen, die „nicht gehen“; wenn sie aber getan und aufgedeckt werden, fehlt uns außerdem eine Kultur, wo die Schuldigen ihre Verfehlungen bekennen und ohne Verzug von ihren Ämtern zurücktreten.

DH      Sicher gibt es noch andere wichtige Chancen, die in den letzten 70 Jahren vertan wurden.

MK      Ja. Die fehlende Bereitschaft, mit unseren palästinensischen Nachbarn Frieden zu schließen und vor dem Krieg von 1973 Konzessionen zu erwirken, die zum Frieden mit Ägypten geführt hätten. Wir hätten viele Menschenleben verschonen können – Freunde und Feinde. Leider haben wir uns in die Gebiete verliebt, die wir 1967 besetzt haben. Wir sind Opfer unseres großen Sieges geworden. Außerdem täten wir besser daran, unsere Demokratie zuerst auf Staatsbürgerschaft zu gründen statt grundsätzlich auf jüdische Ethnizität.

Die Palästinenser sind Einheimische wie wir und haben kollektive Rechte und eine kollektive Bindung an das Land. Das sollten wir anerkennen.“

Menachem Klein

DH      Wie würden Sie die Erfahrungen seit 1948– zwei Generationen von Israelis in einem „eigenen Land“ – zusammenfassen?

MK      Es ist noch unklar, wessen „eigenes Land“ es ist. Das der Juden? Der Israelis? Einerseits ist unbestreitbar, dass wir physisch existieren und ein Volk sind. Andererseits tun wir uns schwer, uns darüber zu einigen, dass der Staat zuallererst seinen Bürgern gehört, nicht einem weltweiten Volk. Außerdem tun wir uns schwer, uns darüber zu einigen, dass die Palästinenser Einheimische wie wir sind und kollektive Rechte und eine kollektive Bindung an das Land haben. Das sollten wir anerkennen.

DH      Jerusalem ist wieder international im Gespräch, seit Präsident Trump die Stadt als Israels Hauptstadt anerkannt und zugestimmt hat, die Botschaft der USA dorthin zu verlegen. Was kann man vor Ort von diesen Entscheidungen erwarten?

MK      Erstens ermutigt es Israel, seine politischen Positionen zu verhärten und weiterzumachen mit der Umsetzung einer Politik [gegenüber den Palästinensern], die US-Außenminister Kerry als separat und ungleich bezeichnet hat. Zweitens schadet es dem internationalen Status der USA als ehrlicher Makler.

DH      Was denken Sie über die Machbarkeit der Zwei-Staaten-Lösung angesichts des Zusammenbruchs der Beziehungen zwischen der US-Regierung und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA)?

MK      Wenn die derzeitige US-Regierung ihren internationalen Status retten will, sollte sie eine Koalition von Friedensmaklern bilden, nicht einseitig handeln, um ihre Positionen durchzusetzen. Ich meine nicht, die Führung international zu verlieren, aber ich meine durchaus, mit westeuropäischen Staaten zusammenzuarbeiten, auf der Basis des Völkerrechts und der UN-Resolutionen.

DH      Was bedeutet der Schulterschluss der PA mit der Hamas?

MK      Die innere Entzweiung der Palästinenser schwächt die PA und ist ein Hindernis auf dem Weg zum Frieden. Worüber sich Fatah und Hamas einigen sollten, sind ihre politischen Spielregeln. Die internationale Gemeinschaft sollte die Hamas nicht weiter ausschließen, wenn sie sich mit der Fatah über eine gemeinsame Regierung oder allgemeine Wahlen geeinigt hat. Auf lange Sicht ist politische Manipulation nie erfolgreich.

DH      Was erwarten Sie von dem jüngsten Tauwetter zwischen den Saudis und Israel?

MK      Nicht viel. Kooperation der Geheimdienste gegen den Iran und ein paar Symbole der Normalisierung können ohne Frieden mit der PLO nicht allzu weit führen. Die grundlegende Tatsache, dass Saudi-Arabien ein muslimisches Land ist, limitiert wie weit ein muslimisches Regime gegen die Überzeugungen ihres Volkes gehen kann. Muslime lehnen es weltweit ab, Israel die Hoheit über den Haram asch-Scharif bzw.Tempelberg zu überlassen oder es als Staat anzuerkennen. Die PLO bzw. die Palästinenser haben den Schlüssel zu Israels Beziehungen mit der arabischen Welt, nicht umgekehrt. Die Araber haben nicht den Schlüssel für das palästinensische Problem.

DH      Sie haben in Ihrem Buch über Menschen geschrieben, die Sie „arabische Juden“ nennen. Wer waren bzw. sind sie, und in welcher Weise ist diese Identität hilfreich?

MK      Sie waren diejenigen, die im gesamten Nahen Osten seit dem späten 19. Jahrhundert, als der moderne Nationalismus in der Region aufkam, mit ihren arabischen Nachbarn zusammengelebt haben. Manche Juden waren in nationalistischen Bewegungen und in der Lokalpolitik der Araber aktiv. Nicht jeder Jude war tatsächlich Zionist oder von der lokalen Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen. Als neben den religiösen Juden auch andere Identitäten aufkamen, integrierten sich mehr Juden in ihre Gesellschaften. Mit anderen Worten, die arabischen Juden in Palästina hatten gemeinsam mit ihren nichtjüdischen Landsleuten eine lokale Identität, nämlich eine palästinensische Identität. Lokaler Patriotismus war nicht ausschließlich arabisch oder jüdisch.

Es ist schwer vorstellbar, dass es diese Realität einmal gab, aber wir dürfen sie nicht aus unserem kollektiven Gedächtnis löschen. Es ist eine nützliche Perspektive, denn wenn wir ihr für heute neue Bedeutung geben, kann sie helfen, eine neue Lösung zu finden. Eine zeitgenössische jüdisch-arabische Identität würde enge Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Ländern bedeuten.

DH      Es scheint also, dass für Frieden im Nahen Osten eine ganz neue Herangehensweise nötig ist. Sehen Sie als Friedensunterhändler einen Weg nach vorn?

MK      Wir müssen neue Wege finden, um von dort, wo wir heute sind, dahin zu kommen, und die erforderlichen Korrekturen in unser Modell einbauen. Ich finde das Modell mit einem Staat nicht weniger problematisch als das mit zwei Staaten – im Gegenteil. Aber wir müssen aus den letzten 25 Jahren des Scheiterns mit dem Oslo-Prozess, zu dem alle Seiten beigetragen haben, etwas lernen. Heute ist es viel schwieriger als zuvor, aber nicht unmöglich. Wir müssen anerkennen, dass Oslo kein Friedensvertrag war, sondern ein Übergangsprozess, und dass er hat nicht funktioniert hat. Wir brauchen also nicht noch mehr Zwischenstufen, sondern ein umfassendes Abkommen, um das Apartheid-ähnliche Regime zu ersetzen, das Israel etabliert hat, und dadurch sowohl Israel als auch die Palästinenser zu retten.

Wir können in unserem Heimatland nicht sicher leben, solange die Palästinenser in ihrem Heimatland nicht sicher und mit voller Unabhängigkeit leben. Auf beiden Seiten müssen wir uns von den Infektionen früherer und heutiger Besatzungen erholen und einander helfen, um das zu erreichen.