Das Geschäft mit der Krankheit

Am Beginn des Zeitalters des Genetic Engineering entwickelt sich das Wissen in der medizinischen Wissenschaft mit atemberaubendem Umfang und Tempo. Doch unter der Oberfläche dieser ungeheuren Fortschritte gibt es Bereiche, die immer mehr Menschen nicht geheuer sind.

Seit dem Mittelalter besteht im Abendland der Trend, die Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens immer mehr in der Wissenschaft zu suchen. Die Religion, einst die letzte Autorität zum Thema Leben und Tod, geriet nach und nach an den Rand. Heute gilt ausschließlich die wissenschaftliche Forschung als maßgeblich dafür, was wirkliches Wissen ist.

UNSERE MEDIKALISIERTE WELT

Die wissenschaftliche Methodik übt einen enormen Einfluss auf alle Bereiche der Gesellschaft aus, doch nirgendwo verspüren wir das vermutlich mehr als in der Medizin. Die Art und Weise, in der Verhaltensstörungen und Krankheiten definiert werden, hat sich eindeutig geändert: Die moderne Biomedizin ist von der Vorstellung geprägt, dass die meisten Störungen organische Ursachen haben. So werden Probleme rein physiologisch begründet und nicht mit gesellschaftlichen Verhältnissen oder Verhaltensweisen. Diese Methode suggeriert, dass die Art, wie wir denken, und die Entscheidungen, die wir treffen, wenig oder keine Folgen für unser Wohlbefinden haben - dass unsere körperlichen, geistigen und seelischen Beschwerden fast mit Sicherheit Symptome einer zugrunde liegenden organischen Störung sind, die medikamentös behandelt werden kann oder muss. Mit anderen Worten: Was früher als moralische, seelische oder soziale Störung galt, wird heute vielfach als mit Medikamenten behandelbarer Fall angesehen.

Der verstorbene Soziologe Ivan Illich war einer der Ersten, die sich über diesen Umschwung besorgt äußerten. Mitte der 1970er-Jahre sprach er das Thema an, dass Medikamente und sonstige medizinische Mittel in einer Weise eingesetzt wurden, die den Anteil der Eigenverantwortung an menschlichem Leid leugnete. Er argumentierte, die Medikalisierung der Gesellschaft (einschließlich der Annahme, dass Verhaltensstörungen in sich Krankheitswert haben und daher medizinisch behandelt werden müssen) sei in zweierlei Hinsicht schädlich: Sie bringe eine Vielzahl gefährlicher Nebenwirkungen mit sich - dies definierte er als klinische Iatrogenese (Verursachung durch einen Arzt bzw. ärztlichen Eingriff, von griech. iatros - Arzt), und sie schaffe die Eigenverantwortung ab, wodurch Abhängigkeit von der Gesundheitsfürsorge entstehe.

Sowohl die medizinische Wissenschaft als auch die pharmazeutische Industrie haben seit den mittleren 1970er-Jahren eine Schwindel erregende Entwicklung erfahren; wer heute Besorgnis äußert, hat es daher mit einer komplexeren Lage zu tun als Illich. Der Begriff Medikalisierung hat inzwischen die zusätzliche Nebenbedeutung von zu viel und falsch eingesetzten Medikamenten.

David Melzer, Clinical Senior Research Associate des Department of Public Health and Primary Care, und Ron Zimmern, Direktor der Abteilung Public Health Genetics des Strangeways Research Laboratory (beide an der Universität Cambridge) schreiben im Leitartikel des British Medical Journal: „Die Genetik könnte eine neue Welle der Medikalisierung auslösen, wenn Gentests ohne angemessene klinische Auswertung akzeptiert werden.“ Sie fahren fort: „Im Verlauf der Zeit ging der Trend dahin, die Grenzen der Diagnostik und Behandlung auszuweiten und Menschen mit milderen pathologischen Symptomen und geringerem Risiko in die Kategorie ,krank' einzubeziehen.“ Melzer und Zimmern nennen dies ein Beispiel „verfrühter Medikalisierung - das Etikett ,Krankheit' aufzukleben, bevor feststeht, dass Prävention oder Behandlung eindeutig von Nutzen sind.“ Das BMJ schien ihre Sorge zu teilen, denn es widmete die gesamte Ausgabe dem Thema „Zu viel Medizin?“.

EINE DEPRIMIERENDE GESCHICHTE

Auch die Rolle der Pharmakonzerne ist alarmierend. Ray Moynihan ist Medizinjournalist beim New England Journal of Medicine und The Lancet. Er und der kanadische Wissenschaftsautor Alan Cassels behandeln das Thema in ihrem Buch Selling Sickness: „Die Marketingstrategien der größten Pharmakonzerne der Welt zielen jetzt aggressiv auf die Gesunden. Die alltäglichen Höhen und Tiefen sind psychische Störungen geworden, banale Beschwerden werden in Furcht erregende Zustände verwandelt, und immer mehr normale Menschen werden zu Patienten gemacht. . . . die 500 Milliarden Dollar schwere . . . Pharmaindustrie ändert buchstäblich die Bedeutung des Menschseins.“

Ein Beispiel für die Bedenken gegenüber Pharmaunternehmen bezieht sich auf Medikamente gegen Depression. Die australische Pharmakologin und Erziehungswissenschaftlerin Gail Bell erklärt das Problem in ihrem Aufsatz „The Worried Well“ in Australiens zweitem Quarterly Essay (2005) aus einer australischen Perspektive: „Im Jahr 2004 wurden durch das Pharmaceutical Benefits Scheme (PBS) Medikamente dieser Gruppe auf zwölf Millionen Rezepte abgegeben; diese Zahl umfasst sowohl Erstverschreibungen als auch die monatliche Fortsetzung von Dauermedikationen und entspricht deutlich über einer Million Nutzern jährlich. Mehr Menschen als je zuvor in der Geschichte Australiens nehmen Antidepressiva. 1990 waren es fünf Millionen PBS-Rezepte, 1998 waren es 8,2 Millionen, letztes Jahr zwölf Millionen - davon 250 000 für Patienten im Alter von unter 20 Jahren.“ In einem Land mit nur 20 Millionen Einwohnern sind diese Zahlen alarmierend.

Dieser Trend wiederholt sich in zahlreichen anderen Ländern. So bemerken Moynihan und Cassels, dass in den USA eine kleine Armee von Pharmareferenten (Vertretern der Pharmafirmen, die bei Ärzten und Apothekern für neue Produkte werben) „geholfen hat, die Vorstellung einzuführen und zu verstärken, dass Depression eine weit verbreitete psychiatrische Erkrankung ist, die wahrscheinlich auf ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn zurückgeht und am besten mit einer modernen Wirkstoffgruppe namens Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) in Mitteln wie Prozac, Paxil und Zoloft zu reparieren ist. . . . Die Aufwendungen der Pharmaunternehmen für ihre Referenten und Gratisproben ist der größte Posten der rund 25 Milliarden Dollar . . . , die heute in den USA jährlich für die Verkaufsförderung ausgegeben werden. . . . Und bei jeder Gelegenheit werden nicht nur Arzneimittel verkauft, sondern ganz bestimmte Vorstellungen von Krankheit.“

Auf dieses Problem der Medikalisierung gibt es keine einfache Antwort. Psychische Krankheiten und klinische Depressionen sind sehr real und verursachen großes Leid, und für viele Menschen ist die Medikation eine große Hilfe. Die Behandlung sehr realer psychischer Krankheiten ist nicht das Problem, sondern die Beziehung zwischen Pharmaunternehmen, Ärzten und Patienten. Diese Gruppen operieren nicht isoliert; doch die Macht der Pharmariesen ist eine wachsende Sorge.

DIE MACHT DER PHARMAINDUSTRIE

Im Zusammenhang mit den Praktiken der Pharmaindustrie werden drei Themen am häufigsten angesprochen. Das erste ist die Neudefinition von Krankheit zur Gewinnmaximierung. Hierzu schreibt Sarah Ross, eine klinische Forscherin im schottischen Aberdeen: „[Ein] Beispiel der Medikalisierung im Interesse des Gewinns ist Viagra. Die größere Bedeutung von Sex in der Gesellschaft hat zu größeren Erwartungen geführt und verändert, was als normale Sexualität angesehen wird. Daraus hat Viagra Kapital geschlagen. Die medizinische Behandlung eines Zustandes hat u.a. damit zu tun, ob es eine verfügbare Therapie gibt und wie ernst das Problem ist. Pharmaunternehmen produzieren Therapeutika und schaffen oder übertreiben dann die Krankheiten, um sie zu verkaufen“ („Beyond Reasonable Boundaries“).

Moynihan und Cassels stellen fest: „Das Epizentrum dieses Verkaufens sind natürlich die USA, wo viele der größten Pharmakonzerne der Welt ihren Sitz haben. . . . Mit unter 5% der Weltbevölkerung sind die USA schon fast 50% des Weltmarktes für verschreibungspflichtige Arzneimittel.“ Und sie fügen hinzu, dass die Aufwendungen in nur sechs Jahren um nahezu 100% gestiegen sind.

Die zweite Sorge ist, dass die Pharmaindustrie die klinische Forschung beherrscht. Hier ist das Problem das Ausmaß, in dem Pharmaunternehmen wissenschaftliche Forschung finanzieren und diejenigen bezahlen, die die Standards schreiben. Wie Moynihan und Cassels berichten, „werden inzwischen schätzungsweise 60% der biomedizinischen Forschung und Entwicklung in den USA von der Privatwirtschaft finanziert, überwiegend Pharmaunternehmen. . . . Fast alle klinischen Erprobungen der neuen Antidepressiva wurden von ihren Herstellern finanziert statt von der öffentlichen Hand oder nicht gewinnorientierten Organisationen.“ Sie bemerken: „Acht der neun Experten, die die letzten Leitlinien für Cholesterin geschrieben haben, waren gleichzeitig bezahlte Sprecher, Berater oder Forscher der größten Pharmakonzerne der Welt. . . . Ein solcher ,Experte' hatte von zehn von ihnen Geld genommen.“ Dies stellt die Objektivität ernsthaft in Frage.

Der dritte beunruhigende Aspekt des Einflusses von Pharmaunternehmen betrifft die medizinische Ausbildung von Ärzten, die zwischen den Anbietern und den Verbrauchern von Arzneimitteln stehen. Ben Lerner, der in Florida eine Praxis mit Schwerpunkt auf ganzheitlicher Medizin betreibt, spricht von einer „unheiligen Allianz zwischen Pharmaherstellern und Ärzten, die den Leuten klarmachen, dass sie tatsächlich krank sind. Ärzte gehen zur Universität, um helfen zu lernen. Doch angesichts des Tempos, mit dem Informationen auf den Tisch eines Arztes kommen, und angesichts der Arbeitslast eines Arztes können sie sich unmöglich auf dem Laufenden halten. Infolgedessen sind Ärzte gezwungen, sich auf die äußerst einseitigen Meinungen der Pharmareferenten und die voreingenommenen Forscher zu verlassen, die von ihren Firmen für ihre Verschreibungsempfehlungen bezahlt werden.“ („Medikalisation: Disease Mongering“).

Der Auftrag all dieser Pharmareferenten besteht nicht nur darin, Ärzte über die Mittel zu informieren, die ihr jeweiliges Unternehmen produziert, sondern das Wissen der Ärzte über die erweiterte Basis von Krankheiten zu vergrößern, die mit ihren Medikamenten behandelt werden können.

Es gibt noch weitere Aspekte der Rolle der Pharmaindustrie bei der Medikalisierung, doch diese drei sind aufschlussreich genug, um den Ernst des Problems bewusst zu machen. Viele medizinische Zeitschriften waren bereit, ihre eigenen Warnungen innerhalb der Fachwelt zu veröffentlichen. Das New England Journal of Medicine, das Journal of the American Medical Association, das British Medical Journal, die Annals of Internal Medicine und The Lancet haben Artikel über den übertriebenen Einsatz von Medikamenten und die Medikalisierung der normalen Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens gebracht.

ANGEBOT UND NACHFRAGE

Der Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit diesem bedenklichen Trend sollte natürlich der Patient sein. Als Verbraucher ist der Patient am Ende der medizinischen Vertriebskette und entscheidend für den gesamten Prozess. Ohne eine stets wachsende Nachfrage von den Verbrauchern wird der Zyklus von Angebot und Nachfrage durchbrochen.

Zweifellos ist es schwierig, medizinische Hilfe mit Verstand in Anspruch zu nehmen. Ärzte sind Fachleute in ihrem Gebiet, und da wir Patienten nicht all die komplexen Wechselwirkungen zwischen unserem Körper und Medikamenten kennen können, befolgen wir generell ärztliche Anweisungen mit einem gewissen Glauben und Vertrauen auf die anerkannten Experten. Die meisten Ärzte sind aufrichtig bemüht, Patienten zu helfen, doch die oben angesprochenen, subtilen Kräfte sind präsent. Wenn ein Arzt infolge der Anzahl seiner Patienten überarbeitet ist und neue medikamentöse Therapien so schnell auf ihn zukommen, dass er nicht damit Schritt halten kann, ist der Arzt seinerseits darauf angewiesen, ein gewisses Vertrauen zu den Pharmareferenten zu haben. So werden, vielleicht zum Teil ungewollt, Patienten in die Medikalisierungskette gebracht.

Gekoppelt mit diesem Teufelskreis sind die kulturellen Kräfte, die unsere Auffassung vom Leben prägen. Ein machtvoller Faktor in der heutigen Gesellschaft ist die Bereitschaft, der Verantwortung für unser Handeln aus dem Weg zu gehen. Viele Krankheiten sind Folgen unserer Lebensweise. Fettleibigkeit, Rauchen und der Missbrauch von Partydrogen werden generell von Entscheidungen bestimmt, die Menschen treffen. Jede hat Konsequenzen. Als Elise Soukup von Newsweek den US-Gesundheitsminister Michael Leavitt im Dezember 2005 fragte: „Was ist Ihrer Meinung nach das Größte, das Amerikas Gesundheit verbessern könnte?“, antwortete er: „Uns auf Gesundheit zu konzentrieren statt auf Behandlung. Wir haben über Epidemien gesprochen. Wir sehen eine Epidemie chronischer Krankheiten. Fettleibigkeit ist ein Beispiel. Und wir können unsere Angewohnheiten verbessern und uns auf unsere Gesundheit konzentrieren.“ Doch es ist viel einfacher, sich eine Pille verschreiben zu lassen, die die Konsequenzen falscher Entscheidungen mildert, als seine Lebensweise zu ändern.

Viel Besorgnis ist auch darüber laut geworden, wie schnell bei Kindern ein „Aufmerksamkeitsdefizit“ bzw. „Hyperaktivität“ diagnostiziert wird. Sicher ist es einfacher, Kindern Medizin zu geben, um ihr Verhalten zu beruhigen, statt nach anderen möglichen Ursachen des Problems zu suchen.

Natürlich wird vielen Menschen durch die erstaunlichen Fortschritte der Medizin wirklich geholfen. In anderen Fällen jedoch kommt die Medikalisierung eigentlich nur dem Gesundheitswesen und der Pharmaindustrie zugute, und zwar finanziell. Wir müssen unser Leben selbst in die Hand nehmen und das Übel bei der Wurzel packen, statt sofort zur medizinischen Schnellkur zu greifen. Vielleicht brauchen wir gar nicht so viel Medikalisierung, wie uns angeboten wird.

Ein effektiver Weg zu mehr Eigenverantwortung bestünde darin, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es zeitlose Prinzipien gibt - tatsächlich unsichtbare Gesetze -, die, wenn man sie befolgt, Wohlergehen, inneren Frieden und in vielen Fällen auch bessere Gesundheit bewirken. Diese Gesetze wurden zu unserem Wohl gegeben, damit wir ein besseres Leben haben können, und diese Gesetze findet man in einem weltbekannten und doch wenig gelesenen Buch, der Bibel. Als Mose im Sterben lag, erinnerte er die Israeliten: „Dies sind die Gesetze und Gebote und Rechte, die der HERR, euer Gott, geboten hat, dass ihr sie lernen und tun sollt . . . dass du lange lebest. . . . Und der HERR hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu leben . . . auf dass es uns wohlgehe unser Leben lang, so wie es heute ist“ (5. Mose 6, 1-2. 24). Es sind dies dieselben Gesetze, die Jesus Christus sowohl durch sein Beispiel als auch durch seine Lehre hochhielt, solange er auf Erden lebte. Diese Gesetze anzuwenden kann uns helfen, unsere Lebensweise auf der grundlegendsten Ebene zu ändern und dadurch verbesserte Gesundheit und Wohlergehen hervorbringen.

Als Einzelpersonen können wir, realistisch betrachtet, das Verhalten der weit gehend gewinnorientierten Pharmakonzerne nicht ändern. Wir können uns aber entscheiden, Medikamente verantwortungsvoll einzusetzen, und wir können uns selbst dadurch helfen, dass wir eine Lebensweise annehmen, die ein gesundes Leben ausmacht.