Auf den Mitmenschen achten

ein Lehrstück aus den Kohlegruben

Aus dem Archiv von Vision: Der Bergbau könnte ein Industriezweig sein, in dem man Beispiele für die praktische Umsetzung der Goldenen Regel eher nicht erwartet. (Neuveröffentlicht im Frühjahr 2022, aus unserer Ausgabe vom Herbst 2018)

Der Profi-Kontaktsport ist mit wachsenden Herausforderungen hinsichtlich der kurzfristigen und langfristigen Gesundheit seiner Arbeitnehmer konfrontiert. Aber das ist absolut nichts Neues. Tatsächlich erinnert es an das Problem eines anderen wichtigen (wenn auch entschieden weniger glanzvollen) Wirtschaftszweigs: des Bergbaus.

Die industrielle Revolution erforderte Unmengen an Rohstoffen. Der Bergbau war daher von zentraler Bedeutung, um diesen Bedarf zu decken, und gab Massen von Menschen Arbeit. Doch um das Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Branche schwerwiegende Sicherheitsprobleme. In den USA gab es zahlreiche Unfälle, bei denen Tausende von Bergleuten und andere, die unter Tage arbeiteten, den Tod fanden. Einige dieser Unfälle waren dramatisch; so starben 1907 in West Virginia 362 Menschen bei einer Explosion in einer Kohlegrube. Tatsächlich war 1907 ein besonders tödliches Jahr: Mehr als 3.000 Bergleute kamen um – die höchste je aufgezeichnete Jahresquote in den USA.

Die Verantwortlichen in Regierung und Industrie sahen sich in einem Zwiespalt. Bergbau war enorm profitabel, und trotz der Unfälle versprach er das auch zu bleiben. Nachschub an Arbeitern war kein Problem; ganze Städte waren für Lohn und Brot vom Bergbau abhängig. Doch letztlich sah man ein, dass hohe Unfallzahlen nicht nur dem Ruf der Branche schadeten, sondern auch der Arbeitsmoral und der Personalentwicklung. Man machte sich daran, Änderungen durchzusetzen, und entschied, dass sich die Aufwendungen lohnen würden.

Dank einer Kombination aus strengeren Gesetzen und größerem Augenmerk auf Sicherheit und Gesundheit gingen die jährlichen Todesfälle bis 1976 auf 322 zurück. Dies war ein bedeutender Fortschritt, und so ist es seither weitergegangen, insbesondere unter der Verwaltung der US-Arbeitsschutzbehörde für den Bergbau (Mine Safety and Health Administration, MSHA), die 1978 errichtet wurde. Bis Ende 2017 war die Zahl der jährlichen Todesfälle auf 15 im Kohlebergbau bzw. 13 im übrigen Bergbau (Metall/Nichtmetall, z. B. Steinbrüche etc.) gesunken. Diese Zahlen zeigen beeindruckende Verbesserungen, doch die MSHA will mit ihrer Null-Toleranz-Politik gegenüber Unfällen und Personenschäden noch mehr erreichen: Sie will sicherstellen, dass „jeder Kumpel nach jeder Schicht sicher und gesund heimgeht“.

Dieser Slogan mag wie aus einem Managerhandbuch klingen, zeigt aber dennoch ein erhebliches Umdenken. Die Branche hat von einer einseitigen Konzentration auf Gewinn zu einer umfassenderen Herangehensweise gewechselt, die erkennt, dass es wichtig und sinnvoll ist, sich um seine Mitarbeiter zu kümmern. Das Prinzip dahinter ist nicht neu, und für die weitgehend bibelgläubigen Amerikaner des 19. Jahrhunderts hätte es vertraut geklungen – hätten die Bergbauunternehmen es von Anfang an so zum Ausdruck gebracht.

Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“

Matthäus 7, 12, Luther-Bibel 1984

Die MSHA kümmert sich auch um Spätfolgen lange nach dem Ende der Berufstätigkeit. Zu den häufigsten zählt die Pneumokoniose der Kohlebergleute, besser bekannt als Staublunge – eine unheilbare, aber verhinderbare Erkrankung, die durch Einatmen von Kohlenstaub entsteht. Mit der Zeit kann der Staub zu schwerer Vernarbung von Lungengewebe führen. Das geschädigte Gewebe wird immer unelastischer, sodass die perfekten Voraussetzungen für Atemprobleme geschaffen werden – Husten, Verschleimung, Engegefühl in der Brust und Atemnot. Diese Symptome treten manchmal kombiniert auf und haben dann noch schlimmere Folgen bis hin zu dauerhafter Invalidität und Tod. Laut einem Bericht des US-Instituts für Arbeitssicherheit und -gesundheit von 2014 sind 76.000 Todesfälle seit 1968 auf Staublunge zurückzuführen, und es wurden mehr als 45 Milliarden Dollar an staatlicher Entschädigung gezahlt. Im Jahr 2014 hat die MSHA eine richtungsweisende Feinstaubregel eingeführt, die Kohlebergleuten ein Vielfaches an erhöhtem Schutz gebracht hat. Unter anderem musste die Staubkonzentration in Kohlezechen nach der neuen Regelung von 2 mg/m3 Luft auf 1,5 mg gesenkt werden. Wie sich gezeigt hat, ist eine solche Änderung der Belastungsobergrenze das effektivste Mittel, um Gewebeschäden vorzubeugen.

Die Motivation der Bergbauindustrie war zweifellos vielgestaltig, aber dass sie sich entschied, ihre Arbeitnehmer zu schützen, war ein spektakuläres Beispiel des Achtgebens auf andere Menschen. Diese Haltung ist vielleicht deshalb auffallend, weil sie in vielen anderen Arbeitsumfeldern fehlt – namentlich beim Profisport, wo die häufig abgesonderten Maximen „Es ist ein Business“ und „Auf der Reservebank wartet der Nächste“ allzu kalt und gefühllos wirken.

Die Bergbaubranche beschloss, dem Achtgeben auf ihre Mitarbeiter Priorität vor kurzfristigem Profit einzuräumen, obgleich sie zweifellos mit langfristigen finanziellen Nutzeffekten rechnete. Eine offizielle Erklärung der MSHA bringt dieses schwammige Sowohl-als-Auch zwischen Habgier und Fürsorge perfekt zum Ausdruck. Sie lautet: „Bei der Planung und Ausübung aller Tätigkeiten des Unternehmens wird der Sicherheit primäre Bedeutung gegeben, um Mitarbeiter vor berufsbedingten Verletzungen und Krankheiten zu schützen und um das Unternehmen vor unnötigen finanziellen Lasten und Effizienzverlusten zu schützen.“

Im Recht werden Arbeitsschutzprinzipien international in unterschiedlichem Maße angewandt. Gesetzliche Beschränkungen mögen manche befremden und beruhen oft auf einer finanziell motivierten Aversion gegen strafrechtliche Verfolgung, zeigen aber dennoch ein lobenswertes Augenmerk auf das Wohl des Arbeitnehmers. Das vierte Prinzip des australischen Arbeitsschutzgesetzes von 2004 drückt dies kurz und bündig aus: Arbeitnehmern gebührt „das höchste Maß an Schutz vor Risiken für ihre Gesundheit und Sicherheit, das unter den gegebenen Umständen vernünftigerweise praktikabel ist“. Ferner sind Arbeitgeber „verantwortlich dafür, diese Risiken zu eliminieren oder zu reduzieren, soweit es vernünftigerweise praktikabel ist“.

Wie zuvor erwähnt, klingt in dem zugrunde liegenden Rechtsprinzip eine jahrhundertealte biblische Lehre an, die von der Verantwortung von Eigentümern und Arbeitern spricht. Wer ein Haus baut, soll an das Dach ein Geländer anbringen, damit niemand herunterfallen kann (5. Mose 22, 8). Arbeitgeber sollen ihre Arbeitnehmer gerecht und fair behandeln (Kolosser 4, 1), nicht wie einen bloßen Rohstoff, mit dem sie Gewinn generieren können.

Dies ist Bestandteil einer umfassenderen Lebenseinstellung – einer Verhaltensweise, die sich an den Interessen anderer orientiert, statt sich nur um das „Ich, die Nummer eins“zu kümmern. Ihr geht es nicht um Profit, auch nicht um die Hoffnung auf künftige Vorteile, nicht einmal um den Gedanken do ut des – ich gebe, damit du gibst, eine Hand wäscht die andere usw. Wenn die Motivation Eigennutz ist, wie in dem Prinzip „aufgeklärtes Selbstinteresse“ verkörpert, dann geht es eigentlich gar nicht darum, auf andere Menschen zu achten.

Gewiss gibt es einen Lohn dafür, auf den Mitmenschen zu achten, besonders wenn eine Gemeinschaft von Menschen mit dieser kollektiven Sichtweise handelt. Im Fall der Arbeitsplatzsicherheit schafft die Umsetzung der Prinzipien der Fürsorge nicht nur ein sichereres und angenehmeres Arbeitsumfeld. Die Erfahrung im Bergbau macht nicht zuletzt deutlich, dass dies auch langfristige Vorteile bringt. So zeigte eine Untersuchung 2013 eine umgekehrte Proportionalität zwischen der Zahl von Verletzungen am Arbeitsplatz und der Rentabilität amerikanischer Kohlegruben: Wenn Unternehmen finanziell in die Sicherheit der Bergleute investierten, stiegen ihre Gewinne.

Doch wenn man nur die Verantwortung von Unternehmen im Blick hat, könnte man etwas Größeres übersehen: Unternehmen bestehen aus einzelnen Menschen, und nur wenn diese Menschen darin übereinstimmen, dass es Wert hat, sich um andere zu kümmern, kann sich im Unternehmen etwas ändern. Das Gleiche gilt für die Gesellschaft als Ganzes. Wenn wir die Tatsache aus den Augen verlieren, dass wir alle, jeder von uns als Person, dafür Verantwortung tragen, auf die Menschen um uns zu achten – sie so zu behandeln, wie wir behandelt werden möchten –, dann verlieren wir alle.