Können wir alle Helden sein?

Während die Welt um uns immer stärker polarisiert wird und das Vertrauen in die Regierung auf neue Tiefstwerte sinkt, wird das Reich der Fiktion ein attraktiver Ort.

Laut Peter Biskind ist es „kein Geheimnis, dass das Zeitalter des Extremismus gekommen ist“. Diese Aussage könnte auf alles Mögliche angewendet werden, von Politik über soziale Medien bis zum Sport. Überraschen könnte allerdings, dass Biskind Filmhistoriker und -kritiker ist und dass er in seinem 2018 erschienenen Buch The Sky Is Falling! behauptet, dieses Zeitalter herrsche auch im Kinofilm. Noch mehr überrascht, dass er die Bezeichnung „extremistisch“ auf Mainstream-Produktionen anwendet, in denen die Art Populärkultur vorkommt – Superhelden, Zombies und Geheimagenten –, in der die meisten von uns wenig mehr sehen als harmlose Unterhaltung.

Vor etwas über 50 Jahren, schreibt Biskind, sei das ganz anders gewesen. Das populäre Kino sei entschieden nicht extrem und abgesehen von ein paar Ausnahmen sei alles, von Western mit John Wayne bis Weltraum-Sience-Fiction, nicht radikal und politisch gemäßigt gewesen.

Heute dagegen sei Extremismus angesagt. Fiktive Helden greifen oft zu radikalen Mitteln, um die Menschheit zu retten, entweder überlebenskämpferisch-realistisch (wir müssen unbedingt überleben, denn die Welt wird sich nie ändern) oder techno-optimistisch (fangen wir auf einem anderen Planeten noch einmal von vorn an).

Auch unsere nicht fiktive Welt ist extremer geworden. Die öffentliche Meinung nimmt immer weniger Anstoß am einstigen politischen Rand, von populistischer Phrasendrescherei in Großbritannien und Ungarn bis zu Antizuwanderungsrhetorik in anderen Teilen Europas und den USA. Die Politologen Roger Eatwell und Matthew Goodwin bemerken: „Wir leben jetzt in einer ganz anderen Situation als in der ,klassischen Ära‘ der Massenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anders als damals, als die Loyalität zu Traditionsparteien viel stärker war [...], müssen unsere politischen Systeme heute mit großen Veränderungen fertigwerden“ (National Populism: The Revolt Against Liberal Democracy, 2018). Das 21. Jahrhundert hat den Aufstieg eines radikalen Aktivismus, das Schwinden politischer Bindungen und eine allgemeine Enttäuschung von traditionellen Strukturen erlebt.

Populismus bedeutet, dass Menschen den Institutionen, an die sie nicht mehr glauben, die Autorität aberkennen.“

Richard Edelman im Interview mit Uri Friedman in „Why Trump Is Thriving in an Age of Distrust“, The Atlantic (20. Januar 2017)

Das wirkliche Leben imitiert die Kunst – oder ist es umgekehrt? Es ist bemerkenswert, wie Kino und Politik einander widerspiegeln, und lohnend, darüber nachzudenken, was das bedeutet. Hat es etwas zu sagen, wenn Game of Thrones oder das Franchise Marvel unseren politischen Wandel widerspiegeln? Biskind sieht es so. Wenn er Recht hat, was könnte das für die Zukunft bedeuten? Könnte es sich darauf auswirken, wie wir auf existenzbedrohende Katastrophen der Art reagieren werden, die manche Beobachter am Horizont aufziehen sehen?

Mit ungewöhnlich kritischem Auge nimmt Biskind in den Blick, was einige als Trash-Unterhaltung bezeichnen könnten. Ihm zufolge haben selbst Serien wie Iron Man und True Blood eine ideologische Basis, und er erinnert an George Orwells Ansicht, apolitische Kunst sei unmöglich. (Ein berühmter Ausspruch Orwells war „Die Meinung, Kunst sollte nichts mit Politik zu tun haben, ist selbst eine politische Einstellung.“) Biskind schreibt: „Nicht nur sind Hollywoodfilme und das Fernsehen voller Botschaften, meistens bewusst, aber manchmal auch nicht, sondern genau die Filme, die scheinbar komplett unberührt von Politik sind – Science-Fiction, Western, Thriller –, transportieren politisches Gedankengut am wirksamsten, gerade weil sie es nicht zu transportieren scheinen.“

Dieses Paradoxon – dass wir für Meinungen empfänglicher sind, wenn wir nicht merken, dass sie propagiert werden – ist psychologisch komplex, aber es funktioniert nach einem etablierten und weithin angewandten Prinzip. Im Zusammenhang mit Filmen erhält Biskinds Forschungsansatz für uns als Zuschauer eine zentrale Bedeutung. Ist es möglich, dass die Geschichten, die X-Men und The Lego Movie erzählen, uns mehr beeinflussen, als eine Politiksendung es je könnte?

Die neuen Schurken

Einst agierten die Bösewichte in Filmen außerhalb des Systems, von Hitchcocks Psycho (1960) bis zum Würger von Boston (1968). Heuten stecken die Schurken öfter im System, oder sie sind das System. Viele Filme zeigen jetzt Machthaber und Systeme, die in irgendeiner Weise nicht in Ordnung sind – inkompetent, korrupt oder unverhohlen böse. Dies spricht die Zuschauer an. Ob bewusst oder nicht, was da erzählt wird, spiegelt das Bild wider, das viele vom realen Leben haben: Unsere modernen Schurken sind oft Leute in Führungspositionen, Regierungen und Konzernen.

Man kann schwerlich behaupten, diese Assoziation sei ungerechtfertigt. Von Selbstverherrlichung über preistreibende Pharmafirmen bis zu skandalösen Regierungsausgaben scheint die Liste der Verfehlungen moderner Machthaber unendlich. Diese Verfehlungen der Mächtigen hat es natürlich gegeben, solange die Menschheit existiert; aber in unserer Zeit, wo alle Zugang zu Medien haben, sind sie uns bewusster. In den Jahren direkt nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Regierungen noch die Fähigkeit, ein positives Bild von sich zu vermitteln, und dies verkörperten noch die aufrechten und prinzipientreuen Staatsmänner, die man in den Kinos häufig sah. In den Jahrzehnten danach hat diese positive Wahrnehmung stetig abgenommen. Während Politiker einst generell als nobel, aufrichtig und beständig dargestellt wurden, wäre es eine Herausforderung, in der heutigen Unterhaltung noch viele zu finden, auf die eine solche Beschreibung zutrifft.

Hand in Hand mit diesem Trend geht ein dramatischer Vertrauensschwund in der Öffentlichkeit. Im Jahr 1964, so Eatwell und Goodwin, vertrauten 76 % der Amerikaner ihrer Regierung „fast immer“ oder wenigstens „meistens“. 2012 belief sich dieser Anteil auf 22 %, und 2019 lag er laut einer Pew-Umfrage bei nur noch 17 %. Diese Zerrüttung ist in der Unterhaltung ebenso offensichtlich wie im realen Leben.

Gallups erste Analyse offenbart, dass Menschen in Ländern mit neuen populistischen Bewegungen tendenziell eine Kombination aus geringem Vertrauen zur Regierung und geringen oder statischen Erwartungen an die eigene Zukunft aufweisen.“

Galina Zapryanova und Anders Christiansen, „Hope, Trust Deficits May Help Fuel Populism“ (Gallup, 7. April 2017)

Wir leben in einer „Ära politischer Zersplitterung, Volatilität und Zerrüttung“, schreiben Eatwell und Goodwin. Macht wird eher mit Korruption, Untätigkeit oder Inkompetenz assoziiert. Agent Jack Bauer, der fiktive Held der seit Langem laufenden Fernsehserie 24, hatte es auf sich genommen, gegen eine Vielzahl internationaler Bedrohungen für Amerika zu kämpfen, weil die zur Bekämpfung des Terrorismus errichtete Organisation korrupt und kompromittiert war. Um sein Ziel zu erreichen, wandte er jede Methode an, die er für notwendig hielt, auch Folter. Viele Zuschauer empfanden Abscheu vor seinen Extremen, aber nach den New Yorker Terroranschlägen fanden sie Millionen von Menschen absolut vertretbar.

Tendenz zu den Rändern

Da Institutionen und konventionelle Führungen weitgehend diskreditiert sind, ist es nur natürlich, dass Menschen sich unkonventionelle Helden suchen. Das System ist zerrüttet – so geht die Logik –, deshalb müssen wir Lösungen außerhalb des Systems finden. Neue populäre Phrasen wie „den Sumpf trockenlegen“ oder „anders denken“ sind symptomatisch für diese veränderte Sichtweise. Wie im Film sind politische „Helden“ im realen Leben oft diejenigen, die extrem weit gehen, von Greta Thunberg, Edward Snowden und dem englischen Graffitikünstler Banksy auf der linken Seite bis zu Donald Trump, Geert Wilders und Nigel Farage auf der rechten.

Die Bedingungen, die den Anstieg extremistischer Einstellungen gefördert haben, sind über lange Zeiträume entstanden. Die Wahlergebnisse, die in den USA und Ungarn Staatsoberhäupter mit nicht traditionellen Einstellungen an die Macht gebracht haben, waren keine Produkte des Zufalls oder genereller Ignoranz (wie viele vermutet haben), sondern die Lage war reif für solche Reaktionen. Für viele Menschen ist Extremismus einfach einleuchtend.

Populismus, um ein besonders auffallendes Beispiel für diesen Trend zu den Rändern zu nehmen, ist die kollektive Reaktion von Menschen, die finden, dass ihre demokratischen Regierungen nicht mehr fähig oder willens sind, für sie zu handeln. In ihren Augen ist das System zerrüttet; deshalb setzen sie auf Abhilfe durch alternative Maßnahmen. Ein Beispiel ist das Brexit-Referendum in Großbritannien – eine dramatische Absage an das bestehende System zugunsten einer unbekannten Zukunft (außerdem ein Zeichen nostalgischer Sehnsucht nach einer rosaroten Vergangenheit) und definitiv eine extremistische Aktion. Wie wir gesehen haben, feiern wir ähnlich radikale Tendenzen bei unseren fiktiven Helden.

Dieser Spiegeleffekt zwischen Populärkultur und Politik scheint besonders ins 21. Jahrhundert zu passen, wo Präsidenten über soziale Medien kommunizieren und Fernsehdramen wie The West Wing – im Zentrum der Macht (in Teilen von verschiedenen Politikberatern, Ghostwritern und ehemaligen Mitarbeitern des Weißen Hauses oder mit deren Hilfe geschrieben) politische Manöver direkt inspirieren.

Regierung durch niemanden

Die Überschneidung von Extremismus und Populärkultur ist kein so neues Phänomen. Vor etwas mehr als hundert Jahren sprachen alle über Anarchie. Sie war extrem, und es gab sie sowohl in der Politik als auch in der Unterhaltung. Auch wenn die Umstände heute eindeutig anders sind, lohnt es sich, über Anarchismus als Reaktion auf soziopolitische Probleme nachzudenken und zu überlegen, welche Gestalt er in unserem 21. Jahrhundert annehmen könnte.

Als Ideologie hat Anarchie viele Gemeinsamkeiten mit anderen extremen Denkweisen. Ihre Lehren hatten über Jahrhunderte hinweg Anhänger, von der Französischen und der Amerikanischen Revolution bis zu Gandhi und Tolstoi. Das Wort kommt von dem griechischen anarchia, Herrschaftslosigkeit (oder wie die Politologieprofessorin Ruth Kinna schreibt, „Regierung durch niemanden“).

Im Wesentlichen lehnt Anarchismus organisierte und strukturelle Macht ab und sieht deren Abwesenheit als vorteilhaft. Er plädiert für individuelle Freiheit und zeigt einen beeindruckenden Glauben an die Fähigkeit der Menschheit, sich selbst zu führen.

Anarchie wird oft mit Gewalt und Chaos assoziiert, was als Verallgemeinerung unfair ist. Für dieses schlechte Image gibt es allerdings Gründe. Im späten 19. Jahrhundert kamen in aller Welt anarchistische Bewegungen auf, von Russland über die USA bis Mitteleuropa, und sie waren für die Bevölkerung gleichzeitig beängstigend und aufregend. Zwei besonders schlagzeilenträchtige Ereignisse waren die Ermordung des Zaren Alexander II. in St. Petersburg (1881) und das Haymarket Massacre in Chicago (1886). Das erste war ein Protest gegen eine autokratische Regierung, das zweite ein Bestandteil des Kampfes für Arbeiterrechte. Beide waren beispielhaft für den Versuch, Ungerechtigkeit mit extremistischen Lösungen zu überwinden (wobei es mehr das Ziel war – das bestehende System niederzureißen – als die angewandte Gewalt, das beide Bewegungen als extremistisch charakterisierte).

Es überrascht nicht, dass dieser dramatische Stil des Anarchismus zahlreiche literarische Darstellungen inspiriert hat, vor allem in Romanform. Gewaltsame Anarchie war ein hervorragendes Thema für spannende Erzählungen, von Edward Douglas Fawcetts Hartmann the Anarchist (1892) über Joseph Conrads Der Geheimagent (1907) bis Maxim Gorkis Der Spitzel (1908).

Besonders interessant an diesen Darstellungen ist ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung. Sie waren gleichzeitig Abbildung und Verstärker einer weit verbreiteten Paranoia, einer Tendenz, in jeder dunklen Gasse Terroristen zu sehen. Kinna zufolge galt Anarchismus als eine „sowohl politische als auch soziale Krankheit“. Der nihilistische Bombenwerfer wurde ein populäres Schreckgespenst, eine Verkörperung der Gefahren, denen sich die zeitgenössische Gesellschaft gegenübersah.

In Großbritannien, so merkte der mittlerweile verstorbene Literaturkritiker Robert Giddings an, fürchteten die Menschen „anarchistische Verschwörer, gewöhnlich Ausländer“ (Parallelen zu den aktuellen immigrantenfeindlichen Gefühlen sind nur allzu deutlich). Giddings fuhr fort: „Spätviktorianer fürchteten den Zusammenbruch der Gesellschaft und eine Eruption der Politik auf die Straße.“ US-Präsident Theodore Roosevelt erklärte 1901: „Anarchie ist ein Verbrechen gegen die ganze Menschheit.“

Der Anarchist ist überall nicht nur der Feind des Systems und des Fortschritts, sondern der Todfeind der Freiheit. Wenn die Anarchie jemals triumphiert, wird ihr Triumph nur einen roten Moment dauern, gefolgt von einer unendlich langen, finsteren Nacht des Despotismus.“

US-Präsident Theodore Roosevelt, „Message of the President“ (3. Dezember 1901)

Es ist allerdings klar, dass die Gefahr für die Menschheit in vielen Bereichen weit übertrieben wurde. G. K. Chestertons Roman Der Mann, der Donnerstag war ist eine Satire über dieses Phänomen: Ein Regierungsagent unterwandert eine Anarchistengruppe, nur um festzustellen, dass jedes ihrer Mitglieder tatsächlich ein Regierungsagent mit derselben Mission ist. Chesterton arbeitete heraus, dass Anarchie in Großbritannien gewaltig überzeichnet und durch Ängste der Öffentlichkeit vergrößert wurde, dass diese Ängste aber dennoch real waren und selbst Auswirkungen hatten.

Primat des Individuums

Es lohnt sich durchaus, heute über die Auswirkungen dieser allgemeinen Angst nachzudenken. Wir leben in einem Zeitalter der Angst, heißt es; Einsamkeit und andere psychische Probleme stehen ganz oben auf vielen öffentlichen Agenden. Die Unterhaltung, mit der wir uns identifizieren, ist oft symptomatisch dafür. Dass wir bestimmte Ängste in der Fiktion als aufregend empfinden, liegt oft daran, dass sie dazu passen, wie wir das reale Leben sehen. Was wir in Filmen gern sehen, offenbart viel darüber, wie wir die Welt sehen – und wie wir in bestimmten Situationen reagieren könnten.

Biskind schreibt: „Werte und somit Politik sind untrennbar in unseren Filmen verwoben.“ Wie bewusst ist das Ihnen und mir? Überlegen wir, was wir uns ansehen? Ist uns bewusst, warum wir uns mit bestimmten Figuren identifizieren und andere verachten? Was sagt das über unsere politischen und moralischen Tendenzen aus?

Der Anarchismus feiert das Individuum und impliziert, dass wir durchaus fähig sind, uns selbst zu führen; zerrüttete Systeme und Institutionen sind nur hinderlich. Wenn wir den ganzen Klüngel wegfegen und von vorn anfangen können, so die Logik, dann wird es besser. Mittelpunkt des Geschehens ist weniger das Kollektiv als vielmehr das Individuum: Nur du kannst es anders machen.

Dies fühlt sich heute so aktuell an wie im 19. Jahrhundert, doch es gibt einen Unterschied: Damals waren Anarchisten Außenseiter, aber niemand stellte sich einen Helden so vor wie sie (es sei denn, man war selbst Anarchist). Der amerikanische Polizeichef Michael Schaack, der die Ermittlungen zum Haymarket Massacre leitete, verfasste danach eine Geschichte des Anarchismus und beschrieb eine dieser Gruppen so: „ein kleiner Haufen versoffener, bierseliger, durch Alkohol kühn gewordener, verdreckter, übel riechender, aufgedunsener Whitechapel-Parias, die kreischten und kämpften“ (Anarchy and Anarchists, 1889).

Anarchisten waren eine soziale Krankheit – ähnlich einer Zombieplage –, die es auszumerzen galt. Und die zeitgenössische Fiktion spiegelte diese Ansicht wider. Heute dagegen sind Figuren, die früher als Außenseiter gebrandmarkt worden wären, populäre Helden, z. B. Jack Bauer, Batman und Katniss Everdeen aus Die Tribute von Panem. In einer Welt, wo Institutionen und Regierungen korrupt sind, steckt die Krankheit im System, und das Individuum fühlt sich gezwungen, dagegen zu kämpfen, für das zu kämpfen, was es als das Richtige empfindet. In einigen postapokalyptischen Geschichten ist das Schlimmste bereits eingetreten und Überleben das einzige Ziel. In solchen Situationen „sind wir alle Flüchtlinge“, schreibt Biskind. Nur in diesem Kontext kann ein Lied wie „Lass jetzt los“ aus dem Film Völlig unverfroren eine populäre, massentaugliche Hymne werden: In dem Lied setzt sich Königin Elsa ab und lässt die Welt in einem ewigen Winter zufrieren (was entschieden extremistisch ist), während sie ihre persönliche Macht als Individuum auslotet. In einer anderen Zeit wäre Elsa vielleicht eine Schurkin gewesen, ähnlich wie die Meerhexe Ursula in Die kleine Seejungfrau oder die böse Königin in Schneewittchen. In dem Märchen, das Hans Christian Andersen 1845 schrieb und auf dem der Disney-Film Völlig unverfroren beruht, ist die Schneekönigin tatsächlich eine Schurkin.

Ich lass los, lass jetzt los. / Und ich schlag die Türen zu. / [...] Was ich wohl alles machen kann, / die Kraft in mir treibt mich voran. / Was hinter mir liegt, ist vorbei. / Endlich frei!“

Aus dem Lied „Lass jetzt los“ aus Völlig unverfroren (2013)

Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert leben wir in einer Welt, in der wir den Anarchisten eher verstehen und vielleicht sogar gern nachahmen würden. Diese Protagonisten übernehmen die Verantwortung, zu entscheiden, was das Richtige ist, und sie tun alles, um sicherzustellen, dass sie es durchsetzen.

In einem Film mit erfundener Handlung und einer begrenzten Zahl von Helden ist das theoretisch in Ordnung; aber was geschieht, wenn sehr viele Menschen jeweils für sich entscheiden, nun selbst Helden zu sein? Bei einer solchen Vielfalt an Möglichkeiten, was „das Richtige“ ist (von einem Ende des politischen Spektrums bis zum anderen), ist das Potenzial für Konflikt und Chaos besorgniserregend hoch. Es erinnert an die Französische Revolution, als die Massen die Dinge oft selbst in ihre eigenen Hände nahmen, und sogar an das alte Israel in der prämonarchischen Zeit, als laut dem Buch Richter in der hebräischen Bibel „jeder tat, was ihn recht dünkte“ (Richter 17, 6). Es ist vielleicht nützlich, sich vor Augen zu führen, dass die Folgen solcher Vielfalt von Selbststeuerung – solcher Anarchie – nicht sonderlich positiv waren.

Anarchie und die Zukunft

Die Welt, in der wir leben, bietet modernen Geschichtenerzählern wunderbare Möglichkeiten, aber sie präsentiert auch ein beunruhigendes Bild von unserer Zukunft im realen Leben. Um zu dem bereits zitierten Beispiel zurückzukehren: Die Anarchie, die einen großen Teil der Französischen Revolution prägte, wich letztlich einer stabilen, republikanischen Regierungsform (wenn auch erst nachdem die Folgen der turbulenten napoleonischen Herrschaft abgeklungen waren); dennoch macht wachsender Unmut in Frankreich heute wieder Schlagzeilen, und Populisten finden Gehör. Auch der moderne Staat Israel hat eine Zeit relativer Stabilität genossen, aber die politische und ideologische Polarisierung, also der Trend zu extremen Ansichten, ist eine wachsende Gefahr für diese Stabilität.

Es herrscht generell Einigkeit darüber, dass sich der Anarchismus des späten 19. Jahrhunderts nicht durchgesetzt hat. Kinna schreibt: „Die größten Anstrengungen der Anarchisten, die Zerrüttung und Gewalt staatlicher Systeme bewusst zu machen, wurden weitgehend abgewehrt.“ Letztlich erlahmte er, weil sich die Institutionen der Regierung und der Gesellschaft über ihn hinwegsetzten. Parallel dazu könnte man zu dem Schluss kommen, dass die aktuelle Phase des populären Extremismus mit der Zeit ebenso vorbeigehen wird.

Aus einer anderen Perspektive gesehen, haben Anarchisten die Welt jedoch unwiderruflich verändert. Der Funke, der den Weltenbrand des Ersten Weltkriegs entzündete – das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand im Jahr 1914 – war eine absolut anarchistische Tat, und sie brachte politisch wichtige Staaten auf den Weg der Selbstzerstörung. Innerhalb von drei Jahrzehnten änderte sich die Machtverteilung auf der Welt erheblich, aber nicht so, wie viele Anarchisten es sich gewünscht hatten.

Das Potenzial für ähnlich dramatische Umbrüche ist auch heute vorhanden. Angesichts des Mangels an Vertrauen in der Gesellschaft und der gestiegenen politischen Volatilität ist die unmittelbare Zukunft voller Tücken und Ungewissheit. Die Forschung weiß um die Art von X-Risiken, die das menschliche Leben auf der Erde gefährden und beispiellose Katastrophen auslösen können, wie sie Filme und Fernsehserien zeigen. Wie würden wir in einer solchen Situation reagieren? Werden wir die Unterhaltung, die wir konsumieren, als Vorbild nehmen? Wie könnte eine postapokalyptische Welt aussehen, wenn jeder an beiden Enden des politischen Spektrums „tut, was ihn recht dünkt“ (alle anderen loslässt, à la Elsa in Völlig unverfroren)?

Wie die Anarchie, die eine Zeit in Israels Geschichte prägte, beschreibt die Bibel auch diese Weltuntergangssituation in einer Weise, die als prinzipiell anarchistisch gesehen werden könnte: Die letzten Kapitel des Buches Offenbarung (auch als „Apokalypse“ bezeichnet) verheißen die Vernichtung der Systeme der Welt, weil von ihnen nichts Gutes kommen kann. Aber die Lösung, die sie anbietet, ist eine ganz andere: eine Zukunft auf der Basis eines geeinten Systems, wie es nie zuvor in großem Umfang umgesetzt worden ist. Statt dass alle in voneinander isolierten Blasen handeln und sich ihre Moral selbst aussuchen, wird es Leitlinien und Strukturen bieten, die darauf ausgerichtet sind, Gesundheit und Frieden für alle hervorzubringen – eine gerechte Regierung, der es wirklich um das Wohl jedes Bürgers geht.

Die Schlussfolgerungen, die viele Filme mit extremistischer Basis anbieten, sind generell ungewiss. Auch das spiegelt unsere reale Welt wider. Es ist schwierig, sich ein klares Bild davon zu machen, wie unsere Welt in nur wenigen Jahren aussehen könnte, und das ist für viele sehr beängstigend. Ist in den realen Entsprechungen unserer erfundenen Helden irgendein Trost zu finden? Realistisch betrachtet wohl nicht. Doch was ist, wenn sich zeigt, dass die Bibel recht hat, wenn sie ein anderes Ergebnis für unsere Welt verheißt – eines, für das sich nur wenige die Zeit genommen haben, darüber nachzudenken? In einer Zeit schwindender realer Optionen ist es etwas, das sich in Betracht zu ziehen lohnt.