Wer bin ich? Die Frage der Jugendgewalt

In der Gewalt vergessen wir, wer wir sind“, schrieb die amerikanische Romanautorin und Literaturkritikerin Mary McCarthy im Jahr 1961. Ihr Vorwurf galt damals Autoren, die auf „Sensation“ setzten und „das Interesse am Sozialen verloren“ hätten; doch in einer Welt, in der die zentrale Rolle des Sensationellen sich nicht mehr auf die Fiktion beschränkt, sondern das reale Leben durchdringt, ist er umso gültiger. Und leider ist die Sorge um den Selbstverlust in Gewalt heute für Kinder ebenso relevant, wie sie es für Erwachsene schon immer war. Fast ein halbes Jahrhundert nach McCarthys Feststellung gibt es Grund zu der Annahme, dass viel zu viele junge Menschen – so viele Seiten ihr Profil in Onlinesozialnetzen wie Facebook, MySpace oder Bebo auch haben mag – sich ihrer Identität vielleicht nicht ganz sicher sind. 

Kinder sind aggressiver und haben als Erwachsene wahrscheinlicher mit Gewalt zu tun – entweder als Täter oder als Opfer –, wenn sie gewaltsames Verhalten miterleben. Das Zuhause ist die fruchtbarste Brutstätte für diese Situation.“

American Psychological Association, “Is Youth Violence Just Another Fact of Life?” (1996)

Zwar ist es riskant, aus Statistiken über Gewalt bei Jugendlichen einfach zu extrapolieren, doch zeichnen die Nachrichten allein der vergangenen beiden Jahre weltweit ein Bild, das viele beunruhigt. Auch wenn die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2008 in Deutschland einen leichten Rückgang der Gewalt unter Jugendlichen aufweist, sind die Menschen besorgt.

Man könnte zahllose Berichte aus aller Welt zitieren – hier nur einige Beispiele:

16. Januar 2008: Ein britisches Gericht verurteilt drei Teenager wegen Mordes an Garry Newlove (47), einem Vater von drei Kindern. Dieser war aus seinem Haus gekommen, um mit einer Gruppe von Jugendlichen zu sprechen, die seiner Meinung nach das Auto seiner Frau demoliert hatten. Die Jugendlichen traten ihn tot.

19. April 2008: Drei junge Männer (davon zwei noch nicht 20 Jahre alt) werden in Großbritannien zu lebenslanger Haft verurteilt, weil sie Mark Witherall – ebenfalls 47 und dreifacher Vater – zu Tode getreten haben, nachdem sie in sein Haus in Whitstable (Kent) eingebrochen sind.

21. Mai 2009: Ein 16-jähriger Engländer wird für schuldig befunden, George Thornley (68) bei einem missglückten Einbruch in dessen Haus getötet zu haben. Der Jugendliche attackierte Thornley mit einem Gummihammer und einem Messer.

In Deutschland schockierte der Amoklauf von Winnenden am 11. März 2009 die Nation, als ein 17-Jähriger insge-samt 15 Menschen und sich selbst tötete.

Eine junge Mutter, 36, wird am 7. April 2009 im baden-württembergischen Bad Buchau gefesselt, geknebelt und mit einem Brecheisen erschlagen. Zwei Jungen (15 und 17) gestehen den Mord. Sie stehen derzeit vor Gericht. Mehrere Freunde aus ihrer Clique wussten von der Tat, wurden darum bereits zu Bewährungsstrafen verurteilt.

Drei junge Schweizer, polizeibekannt und vorbestraft, schlagen im Juli 2009 in der Münchner Innenstadt wahllos auf Passanten ein. Einen 46-jährigen Versicherungsvertreter aus Nord-rhein-Westfalen verletzen sie schwer. In Vernehmungen sagen die Täter aus, sie wollten „Leute klatschen“, versprachen sich einen „Kick“.

Am 15. September 2009 wird Dominik Brunner an einer Münchner S-Bahn-Station von Jugendlichen zu Tode geprügelt, als er versucht, vier Jugendliche vor den jungen Gewalttätern zu schützen.

Im mittelfränkischen Ansbach verletzt ein 18-jähriger Gymnasiast mit einem Beil, Messern und Molotow-Cocktails am 17. September 2009 neun Mitschüler und einen Lehrer. Monatelang soll die Tat geplant gewesen sein – getragen von Hass auf die Schule und Angst vor der Zukunft.

GEWALT VON MÄDCHEN

Natürlich sind England und Deutschland nicht die einzigen Länder, wo regelmäßig über Jugendgewalt berichtet wird – die gewalttätigen Krawalle 2009 in Frankreich sind noch in guter Erinnerung. Es überrascht manche, dass zunehmend auch Mädchen unter den jugendlichen Gewalttätern zu finden sind. 1996 waren in den USA 15 % aller festgenommenen jugendlichen Gewalttäter Mädchen, wie aus Zahlen des FBI hervorgeht. Und 2002 waren dort unter den Jugendlichen, die wegen schwerer Körperverletzung festgenommen wurden, 24 % Mädchen, bei minder schwerer Körperverletzung waren es 32 %.

Die Zahlen zur weiblichen Jugendgewalt in Deutschland stützen sich auf die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik. Sie gibt Aufschluss über die Zahl der Tatverdächtigen, bezieht sich allerdings nur auf die Fälle, die angezeigt worden sind. Erhöhte Fallzahlen können natürlich auch auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft der Bevölkerung zurückzuführen sein. Trotzdem ist es ernüchternd festzustellen, dass sich zwischen 1993 und 2005 bei den unter 21-jährigen jungen Frauen bei der schweren und der leichten Körperverletzung ein Anstieg um mehr als das Doppelte zeigt.

Heißt dies, dass sich die weibliche Natur ändert? Werden Mädchen so gewalttätig wie Jungen? In ihrer Studie „Patriarchy Matters“ von 2007 schreiben die Forscherinnen Lyn Mikel Brown, Meda Chesney-Lind und Nan Stein: „Der steile Anstieg der Verhaftungen von Mädchen liegt nicht daran, dass Mädchen mehr wie Jungen werden. Vielmehr wurden minder schwere Formen der Gewalt bei Mädchen früher ignoriert, und heute werden sie kriminalisiert.“

Vielleicht lassen Mädchen nicht vollkommen ihre Natur hinter sich – was auch immer man sich darunter vorstellt –, doch fällt es schwer zu glauben, dass der gesamte Anstieg der Festnahmen weiblicher Jugendlicher allein auf die Kriminalisierung „minder schwerer Gewalt“ zurückzuführen ist.

Wann in der Vergangenheit hätten die folgenden Tatbestände als minder schwere Gewalt gegolten (oder gelten sollen)?

14. Januar 2008: In West-Philadelphia attackieren zehn Mädchen zwei andere Mädchen, die auf einen Schulbus warten. Mit einem Teppich- oder Rasiermesser fügen die Angreiferinnen der 15-jährigen Shakia West schwere Schnittwunden im Gesicht zu.

4. Februar 2008: In Halifax (Nova Scotia) werden zwei weibliche Teenager für ein Verbrechen verurteilt, das sie im Sommer zuvor begangen haben. Offenbar haben die Mädchen, mit Tischbeinen aus Metall bewaffnet, einer 66-jährigen Frau aufgelauert, die über den Halifax Common ging, mehrfach auf sie eingeschlagen und sie mit einer gebrochenen Rippe und schweren Prellungen zurückgelassen.

30. März 2008: Sechs Mädchen prügeln die 16-jährige Victoria Lindsay bewusstlos und filmen die Szene, um sie auf YouTube einzustellen. Lindsay muss stationär behandelt werden und leidet unter unscharfem Sehen, Gehörverlust und anderen Verletzungen.

14. Juli 2009: Eine Mädchenbande in Wa-shington (D. C.) verletzt ein Mädchen aus einer rivalisierenden Bande schwer, um sich für angebliche Postings auf MySpace zu rächen. Hämmer, Stöcke und andere Waffen schwingend fallen die Angreiferinnen über das Opfer her, das später mit zahlreichen Stichverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wird.

29. Juli 2009: Die 17-jährige Alexis Harris wird von einem anderen Mädchen bei einem Streit auf einem Baseballplatz in Cleveland (Ohio) erstochen.

Wenn die Autorinnen Brown, Chesney-Lind und Stein recht haben und derlei Gewalt unter Mädchen schon immer üblich war, kann man nur denken, dass es allmählich Zeit wurde, ein solches Verhalten zu kriminalisieren. Wenn solche Akte von Gewalt aber früher nicht so üblich waren wie heute, was hat sich dann verändert? Vielleicht vergessen die Gewalttätigen einfach, wer sie sind, wie Mary McCarthy schrieb. Aber warum haben so viele Jugendliche vergessen, wer sie sind? Werden manche Kinder einfach mit mehr Aggressivität geboren?

Es gibt kein Gen für Gewalt“, steht auf der Website der American Psychological Association; „Gewalt ist ein erlerntes Verhalten, und sie wird oft zuhause oder im persönlichen Umfeld von Eltern, Familienmitgliedern oder Freunden gelernt.“

RISIKOFAKTOREN

Wie Forscher festgestellt haben, sind die Faktoren, die zu Gewalt bei Jugendlichen führen, so komplex, dass zur Erklärung ihrer vielen Erscheinungsformen mehrere Theorien nötig sind. Muster, die zu Schießereien in Schulen führen, weichen z. B. erheblich von Mustern ab, die zu Gewalt in Banden führen; vorbeugende Maßnahmen müssten also eine breite Palette an Verhaltensmustern abdecken. Auf der negativen Seite der Gleichung stehen Faktoren, die als aggressionsfördernd gelten: die Erfahrung von Gewalt, ob vom Umfeld, in Medien oder in der Familie; schlechte Beziehungen innerhalb der Familie, der Gruppe der Gleichaltrigen und dem Umfeld sowie geringere Fähigkeiten zu moralischem und abstraktem Denken. Auch psychische Störungen und biologische Faktoren (wie Hirnschäden und sonstige Anomalitäten) spielen eine Rolle.

Eine Familiengeschichte mit kriminellem Verhalten und Suchtverhalten, Problemen im Familienmanagement, Familienkonflikten und positiven elterlichen Einstellungen zu Kriminalität und Sucht steht in Zusammenhang mit Jugendgewalt.“ 

Javad H. Kashani et al., „Youth Violence: Psychosocial Risk Factors, Treatment, Prevention, and Recommendations“ in Journal of Emotional and Behavioral Disorders (Winter 1999)

Wichtig ist allerdings die Feststellung, dass von den vielen Jugendlichen, die möglicherweise allen diesen Faktoren oder verschiedenen Kombinationen von ihnen ausgesetzt sind, nicht alle gewalttätig werden. Laut Vincent Ramos, dem ehemaligen Chefpsychologen und Leiter der klinischen Dienste einer Einrichtung für straffällige Jugendliche im Südosten der USA, sind manche widerstandsfähiger gegenüber diesen Faktoren als andere. „Tatsache ist, dass wir das Risiko mit keiner nennenswerten Zuverlässigkeit bestimmen können“, sagte er Vision. „Die Mehrheit der Jugendlichen ist widerstandsfähig und in der Lage, die schlimmsten Bedingungen zu überleben, ohne kriminell oder gewalttätig zu werden. Dass z. B. die meisten Schul-Amokläufer Einzelgänger und nicht in eine Gemeinschaft eingebunden waren, bedeutet nicht, dass alle Schüler mit den gleichen Eigenschaften Gewalttäter werden. Die meisten werden es nicht. Tatsächlich kommt es selten vor.“

Ramos stellt die Widerstandsfähigkeit in den Vordergrund, was auch der „auf Stärken zentrierten“ Herangehensweise an das Problem Jugendgewalt im Gegensatz zu einer „risikozentrierten“ Herangehensweise entspricht. In einem Bericht von 2008, den die U.S. Centers for Disease Control and Prevention (CDC) finanzierten, erklären Nancy Guerra und Catherine Bradshaw: „Aus [einer auf Stärken zentrierten] Perspektive wird erfolgreiche Entwicklung nicht als Fehlen von Risikoverhalten gesehen, sondern als Existenz positiver Merkmale, die Jugendliche befähigen, ihr volles Potenzial als produktive und engagierte Erwachsene zu entfalten.“

Anhand der vorliegenden Forschungsergebnisse über diese positiven Merkmale identifizieren die Autorinnen fünf „Kernkompetenzen“, die die positive Entwicklung von Jugendlichen beeinflussen. Ihren Kolleginnen Terri Sullivan, Albert Farrell, Amie Bettencourt und Sarah Helms zufolge „spielen diese Kompetenzen auch eine zentrale Rolle in vielen Theorien über kindliche Aggression und Jugendgewalt.“

Zu diesen schützenden Kernkompetenzen zählen ein positives Selbstgefühl, Selbstbeherrschung, Entscheidungsfähigkeit, ein System moralischer Überzeugungen und prosoziale Verbundenheit. „Diese Kompetenzen stehen eindeutig in Beziehung zueinander“, erkennen die Forscherinnen an, „doch hat jede für sich erhebliche Aufmerksamkeit gefunden.“ Das haben sie in der Tat. Jeder, der mit der Forschung über Widerstandsfähigkeit vertraut ist, bemerkt sofort, dass die Kernkompetenzen, die vor kindlicher Aggression und Jugendgewalt schützen, den Merkmalen sehr ähnlich sind, die vor den Wirkungen traumatischer Erfahrungen schützen.

Guerra und Bradshaw gehen bei ihrer Forschung von der folgenden zentralen Prämisse aus: „Ein hohes Niveau dieser Kompetenzen ist ein Marker für die positive Entwicklung von Jugendlichen, und ein niedriges Niveau dieser Kompetenzen erhöht die Wahrscheinlichkeit von Risikoverhalten bei Jugendlichen.“ Natürlich sind Eltern in der besten Position, um die Entwicklung von Kernkompetenzen von frühester Kindheit an zu fördern. Um dies erfolgreich zu tun, müssen Eltern jedoch verstehen, wie sich Kompetenz in diesen Bereichen äußert. Darüber hinaus müsse sie eine aktive, zielgerichtete Rolle dabei spielen, ihren Kindern die damit verbundenen Fähigkeiten zu vermitteln. Doch welches sind diese Fähigkeiten, und wie können Eltern sie in der Praxis vermitteln?

ERKENNE DICH SELBST

Die erste Kompetenz, ein positives Selbstgefühl, beinhaltet eine realistische Selbstwahrnehmung, d. h. die Fähigkeit, die eigenen Stärken und Schwächen richtig einzuschätzen, aber auch, so Guerra und Bradshaw, „ein feiner ausgeprägtes, integriertes Selbstbild, das die Basis für den weiteren Lauf des Lebens bildet. Wer ich bin ist die Voraussetzung für Wer ich werden könnte – es gibt Hoffnung, Orientierung und das Gefühl, ein Ziel zu haben.“ Dies erinnert daran, was Mary McCarthy 1961 schrieb: „In der Gewalt vergessen wir, wer wir sind.“

Selbstkontrolle ist eine Fähigkeit, die zu lernen für alle Kinder wichtig ist. Sie bedeutet, Macht oder Kontrolle über das eigene Handeln zu haben. Und sie bedeutet, dass ein Mensch Gut und Böse unterscheiden kann.“

National Association of School Psychologists, „Teachintg Young Children Self-Control Skills“ (2002)

Wie entwickeln Kinder eine realistische Selbstwahrnehmung? Die Grundlagen dafür erhalten sie schon als Babys, wenn die Menschen, die für sie sorgen, mit Wärme und Zuneigung auf die körperlichen und emotionalen Grundbedürfnisse ihres Kindes eingehen. Sie wächst beim Kleinkind, wenn die Eltern ihm den Zusammenhang zwischen dem, was es tut, und dessen Folgen klarmachen. Natürlich müssen Eltern ein Kind auf negative Folgen seines Handelns hinweisen. Doch es ist wichtig, dass sie positive Handlungen verstärken, indem sie auch auf deren positive Folgen aufmerksam machen. Aus dem Gefühl, sich selbst zu meistern, das Kinder gewinnen, wenn sie für gutes Verhalten belohnt werden, entsteht auch echte Selbstachtung.

Selbstwahrnehmung ist eng mit den Fähigkeiten der Selbstregulierung verbunden, die der Entwicklung der nächsten Kernkompetenz vorausgehen: der Selbstkontrolle. Zwar sind schon kleine Kinder fähig, bestimmte Aspekte ihres Verhaltens zu regulieren, besonders als Reaktion auf Belohnung und Tadel; doch die persönliche Steuerung dieser Fähigkeit wächst mit der Zeit, während sie die Standards verinnerlichen, die ihnen vermittelt werden. Selbstkontrolle – die Fähigkeit, sein Verhalten und seine Emotionen angemessen zu steuern – ist ein zentraler Indikator für die positive Anpassung eines Kindes, denn von ihr hängt es ab, wie sich ein Mensch sein ganzes Leben lang Ziele setzen und sie auch erreichen kann.

Wenn Eltern sozial mit Babys interagieren und auf deren Bedürfnisse konsistent reagieren, lernen Babys, zwischen wichtigen und unwichtigen Impulsen zu unterscheiden. Hieraus entwickelt sich die Fähigkeit vorauszusehen, was nach einem bestimmten Verhalten wahrscheinlich geschehen wird.

Wenn dies erlernt ist, sind die Voraussetzungen für die Entwicklung von Fähigkeiten zur Bewältigung von Aufgaben geschaffen. Ein Kleinkind entdeckt, dass ein rundes Klötzchen nicht in ein dreieckiges Loch hineingeht, wohl aber in ein rundes Loch. Wenn es sich aufrichtet und auf den Füßen steht, kommt es an interessante Dinge heran, die es nicht erreichen konnte, als es krabbelte. In diesem Stadium können Kinder auch beginnen, sozial inakzeptable Formen der Problemlösung auszuprobieren. Um zu bekommen, was sie haben wollen, können sie es einem anderen Kind mit Gewalt wegnehmen. „Ich will es haben – er hat es – ich nehme es mir – Problem gelöst!“

An diesem Punkt sollten Erwachsene, die im Idealfall anwesend und engagiert sind, dem Kind aktiv vermitteln, dass bestimmte Handlungsweisen nicht akzeptabel sind. Zu diesem entscheidenden Lernschritt gehört es, dem Kind zu zeigen, wie es die Gefühle erkennt, die inakzeptablem Verhalten vorausgehen (in diesem Fall etwas haben wollen, das jemand anderer hat), um dann automatisches Handeln durch weniger automatisches zu ersetzen (statt mir das Spielzeug zu nehmen, finde ich etwas anderes, mit dem ich spielen kann, bis das andere Kind mit diesem Spielzeug fertig ist). Es dauert seine Zeit, bis sich diese Fähigkeiten der Selbstregulierung zu reifer Selbstkontrolle entwickelt haben, und Kinder verinnerlichen sie nicht automatisch. Sie brauchen den aktiven Einfluss erwachsener Bezugspersonen – im Idealfall ihrer Eltern.

ENTSCHEIDUNGEN TREFFEN

Auch die dritte Kompetenz – die Fähigkeit, effektive Entscheidungen zu treffen – entwickelt sich mit der Zeit und der Übung und muss aktiv gelehrt werden. Wenn das Kind zum Jugendlichen wird, sollte seine Fähigkeit zu abstraktem Denken so weit fortgeschritten sein, dass es in angemessener Weise Ergebnisse voraussehen und sich Konsequenzen vorstellen kann. Da Heranwachsende aber weniger Erfahrung darin haben, den wirklichen Schaden negativer Konsequenzen einzuschätzen, müssen Eltern noch immer regelmäßig mit ihnen über Entscheidungen sprechen und ihnen helfen, potenzielle Risiken und Ergebnisse einzuschätzen.

Im Vergleich mit Erwachsenen überschätzen Heranwachsende generell das Risiko“, erklären Guerra und Bradshaw. Doch „die treibenden Kräfte bei ihren Entscheidungen sind eher die wahrgenommenen Vorteile als die Risiken“. Diejenigen, die mit ihren Entscheidungen am erfolgreichsten sind, ziehen es vor, gefährliche Risiken ganz zu meiden, statt Entscheidungen zu treffen, bei denen sie erhebliche Risiken gegen Vorteile abwägen müssen; doch die meisten Jugendlichen brauchen noch immer elterliche Hilfe bei Entscheidungen, bis klar erwiesen ist, dass es ihnen gelungen ist, eine reife Urteilskraft zu entwickeln.

Sullivan, Farrell, Bettencourt und Helms merken weiter an, dass es zwischen den Entscheidungsprozessen aggressiver und nicht aggressiver Jugendlicher enorme Unterschiede gibt. Aggressive Jugendliche treffen ihre Entscheidungen aufgrund anderer Informationen und Ziele und werden von anderen vorgefassten Meinungen beeinflusst. „Sie achten u. a. selektiv auf negative soziale Signale, unterstellen diesen feindselige Absichten und geben im Umgang mit diesen Situationen eher auf Rache basierenden als prosozialen Zielen Vorrang.“

Nicht aggressive Jugendliche waren dagegen in der Lage, soziale Fähigkeiten einzusetzen, um Konflikte zu bewältigen, und weniger geneigt anzunehmen, dass hinter negativen sozialen Signalen gezielt feindselige Absichten standen. Solche positiven Denkmuster können Kindern allmählich anerzogen werden, wenn Eltern und Kinder sich über ihre alltäglichen Erfahrungen austauschen und ihre sozialen Interaktionen besprechen, sodass gesündere Sichtweisen und Reaktionen auf Konflikte gefördert werden.

Gesündere Sichtweisen und Reaktionen würden natürlich auf der vierten Kernkompetenz beruhen, einem System moralischer Überzeugungen. Aus der Sicht der Forschung gehört es zu einem System moralischer Überzeugungen, mit Empathie und Perspektivenübernahme tiefe Überzeugungen zu Fragen wie Schaden, Fairness und Integrität zu entwickeln. Selbst Babys zeigen ein gewisses Maß an moralischer Bewusstheit, z. B. empathisches Leid und Vergnügen als Reaktion auf die Gefühle anderer. Ein konkreteres System von Überzeugungen entsteht jedoch allmählich mithilfe der sozialen Interaktion, die Kinder während ihrer Entwicklung unbedingt erfahren müssen. Und wieder sollten es im Idealfall vor allem die Eltern sein, die diese Interaktion leisten – durch Gespräche, aber auch durch ihr Beispiel.

Spiegeln“ ist tatsächlich eine der ersten Lerntechniken, die Kindern zur Verfügung stehen. Babys ahmen Bezugspersonen in der Familie und in der Kultur ihres Umfeldes nach, und jede Episode des Spiegelns verstärkt die betreffende neuronale Verbindung. Wenn die Rollenvorbilder eines Kindes – insbesondere diejenigen, mit denen es sich am stärksten identifiziert – mitfühlend für das Kind sorgen und Integrität beweisen, bilden die Standards, die sie vorleben und lehren, die Basis für die moralischen Überzeugungen des Kindes. Leben die Menschen, die ein Kind versorgen, dagegen Vernachlässigung, Zorn oder Gewalt vor, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es aggressiv wird und Gewalt für eine angemessene Reaktion hält, wenn es zornig ist.

DIE RICHTIGEN BINDUNGEN

All dies unterstreicht die Bedeutung der letzten Kompetenz, die Guerra und Bradshaw nennen: der prosozialen Verbundenheit, die man als Grundlage der vier vorausgehenden ansehen könnte. „Prosoziale Verbundenheit“ bezeichnet positive Bindungen zwischen einem Kind und Bezugspersonen in mehreren sozialen Zusammenhängen. Insbesondere ist bekannt, das sichere Bindungen und Unterstützung in der Familie einen schützenden Einfluss gegen die Entwicklung von Aggressivität bei Kindern ausüben.

Es dürfte nicht überraschen, dass Kinder am besten von denen lernen, zu denen sie sichere emotionale Bindungen pflegen. Neurowissenschaftler haben nachgewiesen, was Psychologen, Eltern, Theologen und Lehrer schon immer wuss-ten: Starke familiäre Beziehungen und gute Rollenvorbilder tragen zur Bildung des Gehirns, des Denkens, der Persönlichkeit und des Charakters bei. Sullivan und ihre Kolleginnen unterstreichen, dass sichere Bindung „vom Säuglings- bis zum Erwachsenenalter“ mit Selbstregulierung, Empathie und moralischer wie emotionaler Entwicklung zusammenhängt. Genetisch sind Menschen soziale Wesen; und von den ersten Bindungen an, die zwischen Babys und ihren Betreuern entstehen, wird ihr Verhalten maßgeblich von sozialen Beziehungen bestimmt.

Frühe Bindungen führen zu internen Arbeitsmodellen sozialer Beziehungen, die als vorläufige Regeln für das Verhalten, aber auch für die Gefühle in sozialen Interaktionen dienen“, kommentiert Guerra. Die Wirkungen dieser Bindungen auf künftiges potenzielles Risikoverhalten sind allgegenwärtig und werden später durch andere Beziehungen ergänzt – sei es zu Gleichaltrigen, Geschwistern, Erwachsenen außerhalb der Familie oder heute gar in Onlinesozialnetzen. Natürlich können auch andere Faktoren des Umfeldes wie Armut und hohe Kriminalität Auswirkungen auf die Aggressivität bei Jugendlichen haben. Doch Sullivan und ihre Mitautorinnen stellen fest: „Bindungen in Mikrosystemen, z. B. die Ausprägung der Beziehungen in der Familie, können selbst bei Jugendlichen, die aufgrund von Faktoren des sozialen Umfeldes gefährdet sind, gewalttätig zu werden, einen schützenden Einfluss ausüben.“

Mit anderen Worten: Die engagierten und unterstützenden Familienbeziehungen, die Kindern eine positive Identität vermitteln, sind von entscheidender Bedeutung für die Prävention von Jugendgewalt.

Angesichts dieser Erkenntnisse und weil es kein Gen für Gewalt gibt, muss sich eine Gesellschaft mit einer gewalttätigen Jugendkultur einige forschende Fragen stellen. Wissen wir als Eltern, wer wir sind? Nehmen wir uns genug Zeit für positive und konstruktive Zuwendung zu unseren Kindern, um dieses Wissen weiterzugeben? Wissen unsere Kinder, wer sie sind?

Wenn sie es nicht wissen, lassen wir Eltern sie im Stich. Und eine Gesellschaft, die ihre Kinder im Stich lässt, lässt sich selbst im Stich.