Großelternkultur – die Generationskluft überbrücken

Die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten hundert Jahre haben leider in vielen Fällen einen dramatischen Abwärtstrend in der Beziehung zwischen Großeltern und Enkelkindern mit sich gebracht – vielfach  existiert diese Beziehung nicht mehr. Die Kluft zwischen den Generationen kann und muss jedoch überbrückt werden. 

Eine sanftmütig wirkende Frau mit Schürze und rundlicher Figur setzt mit Topflappen einen frisch gebackenen Kuchen auf ein Gestell zum Abkühlen. Ihr graues Haar ist ordentlich zu einem dicken Knoten geformt, sie hat eine runde Drahtbrille und ein warmes Lächeln.

Diese Szene wird in zahllosen Kinderbüchern abgebildet, und niemand muss den Text lesen, um herauszufinden, wen diese Frau darstellt. Das ist eindeutig eine „Oma“, und wenn man umblättert, erscheint dort höchstwahrscheinlich „Opa“ als ein ähnlich alter Herr mit blinzelnden Augen, der vielleicht um seine Zeitung herum den winzigen Helden oder die Heldin der Geschichte anschaut.

Warum ist es so leicht, sich diese Szenen vorzustellen? Es liegt daran, dass diese Figuren seit Langem zur gemeinsamen „Großelternkultur“ des Abendlandes gehören. Das Verhältnis der Enkelkinder zu ihren Großeltern (und umgekehrt) und der enge persönliche Umgang miteinander war schon immer eine wichtige Säule einer stabilen Gesellschaft.

Enkel berichten von enormen Vorteilen einer engen Beziehung mit Großeltern, einschließlich der Entwicklung von Familienidealen, moralischen Überzeugungen und eines Arbeitsethos.“ 

David Knox, Choices in Relationships: An Introduction to Marriage and Family (2005)

Experten wie Frau Candace Kemp, Professorin am Gerontology Institute der Georgia State University, definieren den Begriff Großelternkultur als „Beziehungsmuster zwischen Großeltern und Enkeln in Familien, zwischen und innerhalb von Generationen“. Diese Verhaltensmuster werden wie vieles unbewusst auf die nächste Generation „weitervererbt“, weil jede Generation das Beispiel aufnimmt, das ihr vorgelebt wurde, und Erwartungen entwickelt, wie sie sich verhalten (oder nicht verhalten) wird, wenn sie selbst einmal Enkel bekommt. Natürlich sind die Erfahrungen in dieser Hinsicht unterschiedlich, manche Familien erleben eine positive Großelternkultur, andere dagegen eine negative oder gar keine. Doch wie Frau Kemp in ihrer Studie von 2007 (in Bezug auf die USA) über die Bindungen zwischen Großeltern und Enkeln feststellte, hat der soziale Wandel des letzten Jahrhunderts diese Beziehungen dramatisch verändert – viele Familien haben überhaupt keine Großelternkultur mehr. Dies traf in dieser Studie über die Verhältnisse in den USA tatsächlich bei nicht weniger als der Hälfte aller untersuchten Familien zu. Die Unterschiede zu anderen Gesellschaften in der Welt mögen teilweise erheblich sein, aber in den Ländern der sogenannten westlichen Welt ist der Trend zweifellos ähnlich.

Und sogar dann, wenn die Beziehungen in Ihrem Fall intakt und gut sind, ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, wie wichtig dieses Thema tatsächlich ist. 

Auf den ersten Blick erscheint diese Entwicklung seltsam, haben doch Fortschritte im Gesundheitswesen, Wohlstand und Bildung in den letzten Jahrzehnten die Lebenszeit der Menschen drastisch verlängert. Theoretisch sollten also Großeltern mehr Zeit haben, um gute Beziehungen mit ihren Enkeln zu pflegen – nicht weniger. Dieses Potenzial wird jedoch durch mehrere Faktoren an der Entfaltung gehindert.

Einer von diesen Faktoren ist natürlich die heutzutage allgegenwärtige Scheidung. Wenn es bei der mittleren Generation (den Eltern) zur Scheidung kommt, bricht oft auch die Beziehung mit mindestens einem Großelternpaar ein. Legt der Elternteil, bei dem die Kinder bleiben, nicht genug Wert auf die Beziehung zu den Großeltern, werden diese Kontakte über kurz oder lang einschlafen. Frau Kemp schreibt: „Die Auflösung einer Ehe macht eine Neuorganisation des Familienlebens erforderlich. Da die mittlere Generation bei Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln die Vermittlerrolle spielt, verändert die Reorganisation nach einer Scheidung die Bindungen zur mütterlichen oder väterlichen Seite der Verwandtschaft.“ Diese Probleme können natürlich von einer Seite allein nicht gelöst werden – aber es sind Faktoren, die man nicht vernachlässigen kann.

Ebenso kann auch die erneute Heirat eines Elternteils Bindungen zwischen Großeltern und Enkeln stören oder abreißen lassen. Studien haben gezeigt, dass die Wiederheirat eines Elternteils sogar dramatischere Auswirkungen auf Kinder haben kann als die vorausgegangene Scheidung.

Ein weiteres bekanntes Hemmnis für die Entwicklung konsistenter Großelternkulturen ist ungleiche Behandlung der Enkelkinder – dies ist in der erweiterten Familie (Großeltern – Enkel) ebenso destruktiv wie in der Kernfamilie (Eltern – Kinder). Wird ein Enkel einem anderen vorgezogen, selbst wenn sie nur Cousins und nicht Geschwister sind, sind Zerwürfnisse, Streitigkeiten aus Eifersucht und in der Folge eine Behinderung des Familienzusammenhalts die Folge.

Es wäre allerdings wirklichkeitsfremd, zu erwarten, dass alle Großeltern zu jedem Enkelkind eine vollständig identische Beziehung haben könnten; dies hängt ja auch von der Bereitschaft und charakterlichen Beschaffenheit der Enkelkinder und Großeltern ab. Wenn man eine dauerhafte Großelternkultur aufbauen möchte, ist es jedoch auf jeden Fall wichtig, dass Großeltern sich bemühen, die Enkelkinder gerecht und gleich zu behandeln. 

Nicht alle Faktoren, die eine Beziehung stören, lassen sich einfach beseitigen, aber es ist interessant, festzustellen, dass insgesamt gesehen der gewichtigste gemeinsame Nenner aller Störfaktoren Distanz ist. Ob körperlich oder geistig-emotional – Distanz in Beziehungen wird Dissonanz in Beziehungen schaffen. Das Sprichwort „Aus den Augen, aus dem Sinn“ kommt nicht von ungefähr, denn die Nähe und Zuneigung zwischen Menschen wächst mit dem Verstehen, und Verstehen setzt persönlichen Umgang und Kommunikation voraus.

Leider hat es in der modernen Gesellschaft einen Umbruch gegeben: Die Menschen sind mobiler denn je, und oft werden sie durch wirtschaftliche und sonstige Belange nach außen getrieben, weit weg von den Familiengemeinschaften, die einmal der Mittelpunkt der Gesellschaft waren.

Diese Entwicklung ist offenbar nicht mehr oder nur sehr schwer aufzuhalten. Deshalb ist es gut, dass die moderne Welt, die zum Teil zu diesem Distanzproblem beiträgt, auch Hilfen dagegen anbietet. Heute gehören neben dem Telefon auch das Internet, Webcam, E-Mail und Instant Messaging zu dem Instrumentarium, über das Großeltern verfügen, um die Entfernung zwischen sich und ihren Enkeln zumindest auf technologischem Wege zu überwinden, und die Nutzung nimmt stetig zu. Laut einer Umfrage der Kaiser Family Foundation von 2005 hat in den USA ein Drittel der Altersgruppe über 65 einen Internetzugang im Haus, und in der Altersgruppe 50-64 sind es sogar 64%. Natürlich wird es, da die Bevölkerung altert, immer mehr Großeltern geben, die problemlos E-Mail und das Internet nutzen, um den Kontakt mit entfernt wohnenden Enkeln zu pflegen. Doch obwohl E-Mail schnell, einfach und häufig nutzbar ist, ist es kein wirklicher Ersatz für die beruhigende und stärkende Wirkung persönlichen Umgangs, bestenfalls eine Notlösung.

ERSATZ-GROSSELTERN? 

Was können Großeltern in einer Welt tun, in der viele Familien nicht mehr in der Nähe der Großeltern leben?

Hier ein radikaler Vorschlag: Wenn Sie (aus welchen Gründen auch immer) nicht für eigene Enkel da sein können oder vielleicht gar keine haben – wie wäre es mit anderen, „adoptierten“ Enkeln? Studien belegen, dass dies für alle Beteiligten gut ist, sogar die Bezieh­ung zu den eigenen Enkeln verbessern hilft.

Dieser Vorschlag mag zunächst seltsam scheinen, doch eine brasilianische Studie, die 2007 im Journal of Intergenerational Relationships veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, dass der Kontakt mit nicht verwandten jungen Menschen Großeltern sogar ihren eigenen Enkeln (und auch umgekehrt die Enkel den Großeltern) näher bringen könnte, wenn das Verhältnis gestört ist.

Während der sechsmonatigen Dauer der Studie wurde eine Gruppe aus Senioren und Jugendlichen, die einander vorher nicht gekannt hatten, für zwei Stunden pro Woche zusammengebracht, um ihre Lebensgeschichten auszutauschen, zu diskutieren und an Aktivitäten teilzunehmen, die einen Bezug zu Erinnerungen hatten. Zuerst hatten beide Altersgruppen negative Vorurteile. Die Senioren erwarteten, dass die Jugendlichen rebellisch, faul, unhöflich und voller Verachtung gegen ältere Menschen sein würden. Die Jugendlichen erwarteten, dass die Alten kritisch, fordernd, inkompetent und lieblos sein würden. Doch bei Abschluss der Studie hatte die Einstellung beider Gruppen erstaunliche Veränderungen erfahren.

Wir haben uns verändert“, berichtete einer der jungen Teilnehmer, „weil wir vorher dachten, alte Leute seien unfähig, irgendetwas zu tun; sie könnten nur vor dem Fernseher sitzen. Jetzt können wir sehen, dass sie eine Menge tun können.“ Ein anderer bekannte: „Vorher sahen wir alte Leute als nutzlose Wesen, ohne Wert. Jetzt merken wir, dass unser Gespräch mit ihnen auch für uns fruchtbar ist.“

Ein dritter Jugendlicher sagte: „Das Projekt brachte uns zum Nachdenken darüber, dass junge Leute von heute ihre Eltern und Großeltern nicht wertschätzen; aber wir sollten bedenken, dass sie sehr hart gearbeitet haben, um zu überleben.“

Bei allen jugendlichen Teilnehmern veränderte das Überwinden der Generationenbarriere, die Begegnung mit fremden älteren Menschen, die Einstellung gegenüber den eigenen Großeltern und machte ihnen die Kommunikation innerhalb der eigenen Familie leichter.

Die Senioren stellten ähnliche Entwicklungen fest. „Es hat unsere Sichtweise verändert“, bemerkte einer, „weil wir dachten, dass sie uns mit Missachtung ansehen würden. Aber sie waren vollkommen anders, sie haben mit uns geredet. . . . Sie haben uns viel Aufmerksamkeit geschenkt.“ Andere kommentierten, dass sie nun eine neue, positive Seite an jungen Menschen sehen konnten. Sie fühlten sich wohler mit Jugendlichen und bemerkten auch andere persönliche Gewinne: „Wir fühlten uns nützlich, entspannt“, sagte eine Frau, „ . . . wir wurden geschätzt.“

In manchen Städten gibt es auch die öffentliche Einrichtung von „Leih-Großeltern“, das sind ausgewählte (und auf ihre Tauglichkeit überprüfte) verlässliche alte Menschen, die sich ehrenamtlich „mieten“ lassen und einen guten Einfluss auf die jüngste Generation ausüben können.

GENERATIONENTRENNUNG 

Nur zwei Stunden wöchentlich über einige wenige Monate tauschten sich die Jugendlichen und Senioren über ihre Lebensgeschichten aus, doch nahmen beide Gruppen eine veränderte Einstellung mit nach Hause. Wenn solche kurzfristigen generationenübergreifenden Kontakte schon zwischen Fremden einen erheblichen Unterschied im Umgang der Menschen mit ihrer Familie machen, ist es dann übertrieben, zu glauben, dass starke, positive Beziehungen zwischen den Generationen innerhalb der Familie erhebliche Vorteile für das weitere Umfeld, also die ganze Gesellschaft, bringen können?

Eine gewaltige Kluft zwischen den Generationen tat sich in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren auf, als eine neue Jugendkultur, fast eine Art Kulturrevolution entstand, mit neuer Musik, Kleidung und bisher als unakzeptabel geltenden Lebensformen, die von den Älteren nicht mehr verstand­en wurde. „Misstraue jedem über 30!“ war einer der Slogans, und alte Menschen hatten natürlich „keine Ahnung“ vom wirklichen Leben. In gewisser Hinsicht hat es das schon immer gegeben, aber der Bruch mit den Werten der vorhergehenden Generation war sicherlich so gravierend wie selten zuvor. Im Nachkriegseuropa kam noch hinzu, dass die junge Generation nicht verstehen konnte und wollte, wie die Eltern und Großeltern „so etwas zulassen“ oder sogar mitmachen konnten. Die Generation der „68er“ hatte insofern sehr häufig mit Eltern und Großeltern fast unüberbrückbare Konflikte. Inzwischen sind die 68er selbst Großeltern und durch eigene Erfolge und Misserfolge mit dem Urteil über die „Alten“ etwas zurückhaltender geworden. Gerade diese Generation ist prädestiniert, wichtige Erfahrungen und Lektionen an ihre Enkelkinder weiterzugeben.

Leider kann auch das moderne Umfeld selbst eines der größten Hemmnisse für positive Großelternkulturen und gute Beziehungen zwischen den Generationen sein. Zu diesem Schluss kommen jedenfalls Soziologen, die die „institutionelle Alterstrennung“ untersuchen – damit meinen sie die Isolierung bzw. Trennung verschiedener Gruppen nach ihrem Alter. Soziologen haben beobachtet, dass viele Institutionen das menschliche Leben grob in Drittel aufteilen: Kindheit bzw. Ausbildungsphase, Lebensmitte mit Arbeit und Aufbau der Familie, dann den Ruhestand. 

Interaktion über die Altersschranken hinweg findet kaum oder gar nicht statt, außer bei gelegentlichen Familientreffen. Selbst in der Freizeit fördern Institutionen die Trennung nach Altersgruppen: Es gibt Kindergärten, Jugendzentren und Seniorenzentren. Auch in Kirchengemeinden sind Aktivitäten oft strikt nach diesen engen Altersklassen getrennt. Die Trennung nach Altersgruppen zieht sich durch unsere ganze Gesellschaft – jede Gruppe bleibt hauptsächlich unter sich. Aber ist das wirklich so verkehrt?

Nach den Soziologen Gunhild O. Hagestad und Peter Uhlenberg gibt es sehr gute Gründe, über diese Trennung nach Altersgruppen besorgt zu sein. In einer Untersuchung, die 2006 in der internationalen Zeitschrift Research on Aging veröffentlicht wurde, schreiben sie: „Unserer Ansicht nach schneidet sie Menschen von wichtigen Möglichkeiten ab, einander zu begegnen, miteinander umzugehen und über Unterscheidungen zwischen ,wir‘ und ,die anderen‘ hinauszukommen. Dies hat mehrere Folgen, die Aufmerksamkeit verdienen. Erstens produziert und reproduziert es Altersdiskriminierung. Zweitens ist es eine Gefahr für die soziale Vernetzung und erhöht das Risiko, später im Leben isoliert zu sein. Drittens vereitelt es die Sozialisierung von Jung und Alt. Viertens stört es das generationsübergreifende Zusammengehörigkeitsgefühl, insbesondere die Schaffung und Bewahrung einer alle Generationen einbeziehende Gesellschaft.“

Jeder dieser Faktoren ist für sich allein besorgniserregend, doch zwei von ihnen haben potenziell schwerwiegende Spätfolgen: soziale Vernetzung und generationsübergreifendes Zusammengehörigkeitsgefühl. Ein Mensch, der ein starkes Netz von Beziehungen innerhalb der gesamten Gesellschaft hat, gilt als eingebunden in das soziale Netz. Er wird in angemessener Weise von vielen Seiten (und Altersstufen) sozial unterstützt und kann andere unterstützen. Wenn aber nur zwischen Gleichaltrigen Netze bestehen, bricht dieses System der Unterstützung allmählich zusammen. Wenn Menschen alt werden und ihre engen Freunde aussterben, sind sie von schwerer Isolierung bedroht, da sich ihr Unterstützungssystem auflöst. Noch schlimmer: Sind diese Netze nur horizontal (mit Gleichaltrigen) verknüpft, so ist die Gesellschaft als Ganzes schwächer und anfälliger, und die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen jeden Alters sich isoliert fühlen, ist größer, als wenn die Netze sowohl horizontal (mit Gleichaltrigen) als auch vertikal (mit Jüngeren und Älteren) verknüpft sind.

Es ist wichtig, für Kontinuität von einer Generation zur nächsten zu sorgen, indem man diese nachkommende Generation durch aktive Beziehungen fördert und lehrt, um ihr ein positives Vermächtnis mitzugeben. Natürlich geschieht dies auf individueller wie auch gesamtgesellschaftlicher Ebene. Eltern hoffen, ihren Kindern etwas von sich selbst weiterzugeben, doch sie sind auch motiviert, die Gesellschaft als Ganzes zu verbessern, damit ihre Kinder eine bessere Zukunft haben. Leider liegt älteren Menschen ohne vertikale Verbindungen zur jüngeren Generationen, wie Forschungsergebnisse zeigen, tendenziell weniger daran, einen positiven Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, als Menschen mit Kindern und Enkeln.

Ob sie selbst Eltern gewesen sind oder nicht – Senioren haben der jüngeren Generation schon aufgrund ihrer Lebenserfahrung natürlicherweise viel zu geben. Aus der Geschichte zu lernen, funktioniert immer noch am besten und wirkungsvolls­ten durch persönliche Weitergabe von Erfahrungen durch Leute, denen man vertraut und glaubt.

Dies alles ist jedoch keine Einbahnstraße – junge Menschen können auch gut für Ältere sein. Ihr Enthusiasmus für neue Erfahrungen und neue Techniken ist ansteckend, und ihre unbekümmerte, positive jugendliche Art, die Dinge zu sehen, kann tatsächlich die körperliche Gesundheit und Aktivität der Älteren stärken. Doch wenn Jung und Alt nur selten zur selben Zeit im selben Raum sind, ist es unwahrscheinlich, dass diese guten Gaben je ausgetauscht werden können. Wie Hagestad und Uhlenberg schreiben, leben verschiedene Generationen in der modernen Stadtgesellschaft auf ihren eigenen kleinen und isolierten Inseln: „Ein Großteil des Erwachsenenlebens findet auf Inseln statt, die den Kindern unbekannt sind, und Erwachsene sind auf ihren Wohninseln so wenig anwesend, dass sie in deren Umfeld nicht integriert sind. . . . Kinder und Jugendliche halten sich in Räumen auf, die dem Lernen dienen, und Erwachsene sind viele Stunden am Tag ,außer Haus‘ – an Arbeitsplätzen, wo weder Kinder noch alte Menschen sind.“

Dieser Teufelskreis ist, wie es scheint, kaum zu durchbrechen. Der Kern jeder Änderung ist jedoch die Erkenntnis, dass etwas geändert und verbessert werden kann und muss; und zwar nicht nur von den anderen, der Gesellschaft usw., sondern von jedem Einzelnen von uns.

„Die Welt hat sich so rasant verändert. Großeltern und Familienleben sind verändert. Beide sind vom Aussterben bedrohte Arten.“

Lillian Carson, The Essential Grandparent: A Guide to Making a Difference (1996)

Es gibt Forscher, die nach Wegen suchen, genau das zu tun, und zwar mit Programmen, die wie etwas dauerhaftere Versionen des oben beschriebenen brasilianischen Experiments anmuten.

Soziologen nennen diese Programme intergenerational interventions – im Wesentlichen organisierte Aktivitäten, bei denen zwei oder mehr Generationen zusammenkommen, um einander zu helfen und sich dabei besser kennenzulernen. Ältere Mitbürger können z.B. Jugendlichen Nachhilfe geben oder Vorschulkindern vorlesen. Solche Interventionen können auch die Form von Mehrgenerationen-Musikgruppen annehmen, die in lokalem Rahmen auftreten. Wieder andere Programme bringen Alt und Jung in Mehrgenerationen-Tagesstätten zusammen. 

Eine Studie, die 2007 im Journal of Applied Gerontology veröffentlicht wurde, befasste sich mit einem oben genannten Mehrgenerations-Zentrum im Nordosten der USA. Das Ziel des Zentrums war, Kinder im Vorschulalter und Senioren in einer einzigen Einrichtung zu versorgen und beiden Gruppen vielfältige Möglichkeiten zum täglichen Umgang miteinander zu geben.

Um den Erfolg solcher Programme zu bewerten, fragten die Forscher die betagten Teilnehmer spezifisch danach, wie sich der Umgang mit den Kindern auf ihr emotionales Wohlbefinden ausgewirkt hatte. Sie stellten fest, dass die Senioren den Umgang mit den Kindern überwältigend positiv beurteilten, und die meisten der Befragten berichteten – unabhängig davon, wie viel oder wenig sie sich mit den Kindern beschäftigt hatten –, das Programm habe ihnen ein Gefühl der Ruhe und familiären Verbundenheit gegeben. Viele nannten die Jugend und den Enthusiasmus der Kinder als entscheidende Elemente des Wohlbefindens, das der Kontakt ihnen brachte. Ein Teilnehmer war besonders beglückt über einen Brief von der Mutter eines der Kinder, mit denen er sich im Zentrum beschäftigt hatte. Diese alleinerziehende Mutter schrieb, sein positiver Kontakt mit ihrem Kind habe sie inspiriert, eine Ausbildung zu machen und ein Unternehmen zu gründen. Der Mann war zufrieden, dass seine Beschäftigung mit dem Kind das Leben von gleich zwei Generationen positiv beeinflusst hatte.

DIE KLUFT ÜBERBRÜCKEN 

Erfolgreiche Projekte wie diese lassen hoffen, dass die Gesellschaft eines Tages den zuweilen „kalten Krieg“ zwischen den Generationen beendet und die Mauern einreißt, die in den letzten Jahrzehnten in vielen Gesellschaften auf dieser Welt zwischen Jung und Alt entstanden sind. Allerdings wird aus anderen Studien deutlich, dass solche Anstrengungen entschlossen und konsistent sein müssen, um zum Erfolg zu führen.

Barbara M. Friedman und Francine Godfrey berichten über ein Mehrgenerationen-Sportprogramm in einem Seniorenheim in Massachusetts und kommen zu einem interessanten Schluss: „Viele der älteren Erwachsenen akzeptierten die Rolle als Vorbild, einige waren jedoch außerstande, sich in dieser Position zu sehen. In der jüngeren Vergangenheit unseres Landes wurde unsere ältere Bevölkerung durch Medien und andere Quellen angeleitet, die Jahre des Ruhestands als eine Zeit des Sichgehenlassens und der totalen Entspannung zu sehen. Damit war die ungewollte Botschaft verbunden, Senioren seien ein verzichtbarer Teil einer produktiven Gesellschaft. Nun, da die Bevölkerung altert und die Demografie sich ändert, ist es von entscheidender Bedeutung, dass ältere Erwachsene im sozialen Gewebe der Gesellschaft gebraucht werden. . . . Doch die eine Botschaft durch die andere zu ersetzen, ist schwierig und braucht Zeit“ (Journal of Intergenerational Relationships, 2007).

Zeit, die sich ohne Zweifel lohnt. Doch die eine Botschaft durch die andere zu ersetzen, ist vielleicht sogar die leichteste Hürde. Schwieriger dürfte es sein, ein Verhaltensmuster durch ein anderes zu ersetzen.

Insgesamt zeigen Studien wie die hier erwähnten, dass starke Bindungen zwischen Großeltern und Enkeln die Familienstruktur um wichtige Dimensionen bereichern. Kinder brauchen die einzigartigen Perspektiven, die Weisheit und Erfahrung, die Großeltern bieten können; und Großeltern brauchen den Anreiz, sie weiterzugeben – jemanden, dem sie sie weitergeben können. Wie viele hier angeführte Beispiele gezeigt haben, ist es nicht unbedingt kompliziert, den Kreislauf zu durchbrechen – es ist möglich, warum fangen Sie nicht in ihrem Umfeld damit an?

Wird die positive Großelternkultur jeder Familie eine Bilderbuch-Oma haben, die ihren Enkeln frisch gebackenen Kuchen anbietet? Nicht unbedingt. Doch es gibt weit bedeutendere Gaben, die Großeltern auf den Tisch bringen. Und die meisten davon geben weit mehr Kraft.