Macht und Gefahren moralischer Empörung

Das Empfinden moralischer Empörung kann ein nützliches Zeichen sein, das uns auf Verstöße oder Unrecht hinweist. Aber wann überschreitet sie die Grenze zwischen nützlich und schädlich? Und wie können wir konstruktiv mit dieser Emotion umgehen?

Unter den vielen Emotionen, die uns Menschen gemein sind, gibt es solche, die wir heute als negativ bezeichnen: Traurigkeit, Zorn, Abscheu usw. Einige dieser Gefühle können normale Reaktionen auf schlechte Situationen sein. Zorn kann z. B. nützlich sein, uns darauf aufmerksam zu machen, wenn ein persönlicher Wert oder eine Grenze verletzt wurde, außerdem kann er zu Wachstum führen, wenn wir ihn auf positive Weise kanalisieren.

Manchmal empfinden wir auch Zorn, wenn wir auf eine Grenzverletzung aufmerksam werden, die jemand anderen betrifft. Dies kann geschehen, wenn die Gefühlsregung eine altruistische Reaktion ist, ausgelöst durch Empathie für den Betroffenen. Aber sie kann auch in etwas Persönlicherem wurzeln – einem Gefühl, dass dadurch, was ihm geschieht, unsere Auffassung von Moral und Recht gefährdet wird.

Diese allgemein menschliche Emotion nennen wir moralische Empörung.

Moralische Empörung ist gerechtfertigter Zorn, Abscheu oder Ärger gegenüber anderen, die gegen ethische Werte oder Normen verstoßen“, schreiben die Professorinnen Cynda Hylton Rushton und Lindsay Thompson von der Johns Hopkins University. „Sie steigt in uns auf, wenn unsere moralische Identität und Integrität bedroht worden sind.“

Während uns der normale Zorn auf Verstöße gegen unsere persönlichen Grenzen aufmerksam macht, meldet moralische Empörung Verstöße gegen unsere ethischen Grenzen. Sie sagt uns, dass da etwas ist, worauf wir reagieren müssen, sei es ein unethischer Verstoß gegen uns selbst oder gegen unsere Mitmenschen. Wie wir damit umgehen, kann jedoch den Ausschlag dafür geben, ob wir Wachstum und Verständnis fördern oder einfach dem Dopaminkick anheimfallen, den das Gefühl moralischer Überlegenheit bringt, und deshalb überhaupt nichts unternehmen oder – schlimmer – es nutzen, um andere zu beschämen. Es kann entscheidend dafür sein, ob unsere Herangehensweise zu einem fruchtbaren Gespräch führt, das Umdenken bewirkt, oder zu gegenseitigem Anschreien, das immer stärker polarisierte Gruppen dazu treibt, kein bisschen nachzugeben und sich gegenüber Veränderung und Wachstum zu verschließen.

Die potenziellen Gefahren dieser Emotion lassen sich anhand von zwei Aspekten ihrer Definition vorhersagen: Moralische Empörung ist gerechtfertigt – zumindest sehen wir das so, wenn wir es sind, die sie empfinden. Und sie gilt anderen, nie uns selbst. Und die potenziellen Gefahren? Dass wir uns nicht vergewissern, ob sie gerechtfertigt ist, und bezüglich unserer Motivation, sie zu bekunden, nicht ehrlich sind.

Ich bezweifle, dass sich irgendjemand unter uns daran erinnern kann, einmal über etwas moralisch empört gewesen zu sein, das er selbst getan hat. Wütend auf uns selbst? Ja. Bekümmert, von Gewissensbissen geplagt, überwältigt von Scham- oder Schuldgefühlen? Ja, alles. Aber moralisch empört, erfüllt von gerechtem Zorn? Nein.“

Ward H. Goodenough, „Moral Outrage: Territoriality in Human Guise“, Journal of Religion and Science

Moralische Empörung ist kein neues menschliches Gefühl, obgleich neue Technologien vermuten lassen, dass sie mehr als je zuvor erlebt wird. Sichtbarer ist sie gewiss. Da die Bühne der Öffentlichkeit größer geworden ist, sehen wir vom Leben anderer mehr als früher. Die Taten oder Worte jedes Menschen können „viral gehen“, und ebenso können es die Reaktionen darauf. Dadurch entstehen neue Begriffe, z. B. virale Empörung – ein öffentlicher Aufschrei gegen Posts in sozialen Medien und die anschließenden Kommentarschlachten, die nichts bringen außer der Möglichkeit, jeder persönlichen Verantwortung für die Übel der Gesellschaft aus dem Weg zu gehen und mit dem Finger auf jemand anderen zu zeigen.

Die Terminologie mag neu sein, aber wenn man daran denkt, wie sich moralische Empörung schon vor der Einführung des Internets abspielte, könnte man einige moralisch aufgeladene Szenarien betrachten, die als „viral“ zu klassifizieren wären. Man denke an Hexenjagden oder Menschenmassen, die mit moralischen Begründungen (ob berechtigt oder nicht) zur Raserei getrieben wurden, manchmal mit tragischen und entschieden unmoralischen Folgen. Doch ob sie „viral geht“ oder nicht – moralische Empörung kann Menschen entzweien, aber auch einen. 

Dieses Phänomen zeigt sich fast überall, wo man sich online umsieht.

Wessen Moral?

Es ist leicht, zu beobachten, wie moralische Empörung Menschen, die die gleichen Werte haben, entzweien kann. Schwerer ist dagegen, zu erklären, wie zwei Menschen, die den gleichen Wert haben und aus ihrer moralischen Sicht gleichermaßen empört sind, dennoch bei einem Thema auf gegensätzlichen Seiten landen. Jeder von ihnen hält seine Sichtweise für die einzig richtige, und dadurch wird jeder konstruktive Dialog erstickt. Wie ist das möglich?

Sagen wir z. B., dass zwei Menschen Wert auf Treue legen. Sie könnten allerdings verschiedene Vorstellungen davon haben, was sie beinhalten sollte. Was geschieht, wenn Treue zu einem gewissenlosen Führer bedeutet, dem Gebot der Nächstenliebe die Treue zu brechen? Nach dem Holocaust wissen wir, dass Menschen überzeugt werden können, ganze Volksgruppen als moralisch verwerflich zu sehen; die dadurch entstehende Empörung kann manipuliert werden – zu dem moralisch unendlich verwerflicheren Zweck, eine solche Volksgruppe auszulöschen.

Die Folgerung ist: Um moralische Empörung zu empfinden, muss man nicht unbedingt verifizieren, dass die Empörung gerechtfertigt ist. Man muss nur meinen, dass sie es sei. Ohne Einigkeit über die Basis für die Auslegung moralischer Vorstellungen bleiben wir den Eigenheiten unseres kulturellen Kontexts und unserer Bereitschaft zu einer einfachen Prüfung der Fakten unterworfen. Wie sich zeigt, können unsere Wahrnehmungen davon, was in einer Situation jeweils richtig und falsch ist – und die Belohnungen, die wir von unserem sozialen Netz bekommen –, uns in der Praxis wichtiger sein, als die tatsächliche Wahrheit darüber festzustellen, was in dieser Situation richtig und falsch ist. Dies kann uns anfällig für Leute machen, die von der Manipulation moralischer Ansteckung profitieren.

Und das führt uns zu einigen wichtigen Definitionen. Moralische Ansteckung bezieht sich auf den Gedanken, dass moralisch-emotionale Inhalte wahrscheinlich durch soziale Interaktionen vermittelt werden – was heutzutage meist online über soziale Medien geschieht. Moralisierter Inhalt ist relevant für Kontexte, die über unsere eigenen Interessen als Individuen hinausgehen. Wir bewerten Inhalte anhand moralischer Kriterien, wenn wir sie als relevant für das Wohl der breiteren Gesellschaft um uns, unserer Kultur oder unseres persönlichen sozialen Netzes sehen. Es sei noch einmal gesagt: Wir müssen nur meinen, ein Inhalt sei korrekt oder habe moralische Implikationen. Könnten wir falschliegen? Vielleicht, aber da es so einfach ist, Dinge in sozialen Medien zu teilen, kommt es uns oft nicht einmal in den Sinn, unsere Annahmen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

Im Jahr 2020 hat eine Forschungsgruppe von Yale und der New York University untersucht, warum und wie moralische Ansteckung online funktioniert. Sie fragten sich, woran es liegt, dass „verschiedene Online-Inhalte ,viral gehen‘“. Ein Faktor, so erklären sie, hat mit der simplen Tatsache zu tun, dass emotional aufregende Inhalte einfach häufiger geteilt werden. Aber das geschieht schneller, wenn damit eine moralische Komponente verbunden ist. Und noch schneller verbreiten sie sich, wenn wir diese Inhalte mit unseren sozialen Kontakten teilen, die so sind wie wir – Leute mit den gleichen Gruppenidentifikationen und gruppenbasierten Emotionen. Unsere Motivation für das Verbreiten, so die Forscher, kann zweifach sein: Empörung und Verachtung gegenüber Gruppenfremden gibt uns das gute Gefühl, dass unsere eigene Gruppe besser ist. Aber auch im Hinblick auf unser Ansehen innerhalb unserer Gruppe wollen wir uns gut fühlen; es fördert ein persönliches und gemeinsames Gefühl von Würde und Erhabenheit.

Wenn moralische Empörung ein Feuer ist, ist dann das Internet wie Benzin? […] Dies ist eine empirische Frage, um die Verhaltensforscher sich kümmern sollten, denn die Antwort darauf hat ethische und regulatorische Implikationen.“

Molly J. Crockett, „Moral Outrage in the Digital Age“, Nature Human Behaviour

Das Fazit ist, dass moralische Ansteckung auf sozialen Medien so leicht geschieht, weil 1) moralisch-emotionale Inhalte unsere Aufmerksamkeit erregen, 2) unsere Motive der Gruppenidentifikation uns dazu treiben, sie weiterzugeben, und 3) soziale Medien dafür konzipiert sind, diese Motivationen und Antriebe zu verstärken.

Soziale Medien“ haben ihren Namen nicht ohne Grund; unsere Kontakte sehen die Welt meist so wie wir, und das kann einen Echoraum für eine enge Sichtweise schaffen. Wenn wir dennoch mit Leuten Kontakt haben, die anders denken, können das Pflichtkontakte sein: nahe oder entfernte Verwandte, Bekannte aus der Schule oder aus Vereinen – Leute, die wir uns nicht unbedingt „aussuchen“ (mit denen wir die Online-Freundschaft jedoch nicht beenden zu können glauben). Das haben die Algorithmen anhand des Ausbleibens unserer Likes, Shares und Kommentare schnell heraus, und so sehen wir deren Posts weniger oft. Gleichzeitig zeigt unser Verhalten den Algorithmen, mit wem und womit wir tatsächlich übereinstimmen, und so servieren sie uns mehr von derselben Sorte.

Aber Likes, Kommentare und Shares trainieren nicht nur die Algorithmen. Sie trainieren auch uns. Und sie trainieren uns an, moralische Empörung häufiger zu erwarten und zu bekunden. Das geschieht nicht nur, weil wir Verhalten wiederholen, wenn es durch positives Feedback verstärkt wird (und die besten Vermarkter wissen, dass positive Verstärkung eine weit größere Kraft ist als Bestrafung), sondern auch, weil wir mehr Verstärkung für Verhaltensweisen bekommen, die innerhalb unserer Gruppe als normal gelten. Diese Einflüsse sind natürlich offline ebenso wie online am Werk. Doch verstärkt werden sie online, wo wir uns leichter in Gruppen organisieren können, mit denen wir uns einig sind – und wo Algorithmen sozialer Medien unsere Neigung zum Lernen durch Verstärkung ausnutzen.

In einer Studie, die 2021 in Science Advances veröffentlicht wurde, wird festgestellt: „Selbst wenn die Entwickler einer Plattform nicht die Absicht haben, moralische Empörung zu verstärken, können Entwicklungsentscheidungen, die anderen Zielen dienen sollen – etwa Gewinnmaximierung durch Bindung von Nutzern –, indirekt moralisches Verhalten beeinflussen, denn Inhalte, die Empörung erregen, bewirken hohe Bindung.“ Mit anderen Worten: Marketing- und Werbeziele haben einen starken Einfluss darauf, wie Algorithmen aufgebaut werden. Der menschliche Hang, sich mit emotional provozierenden Inhalten zu befassen, trainiert die Algorithmen und die Autoren der Inhalte dazu, uns mit mehr davon zu füttern, und dann beginnt ein Teufelskreis. Empörung zu manipulieren, bringt Geld – für Youtube-Kanäle, für Anbieter von Nachrichten, für Anbieter von Pseudo-Nachrichten, für jeden, der will, dass wir sein Erzeugnis wahrnehmen. Solange es gut für den Profit ist, moralische Empörung anzustacheln, wird Material, das Empörung erregt, in Form von Memes, Nachrichtenangeboten und sonstigen Inhalten, die weitergegeben werden können, über unsere Bildschirme flimmern. Und wir werden sie sehr wahrscheinlich kommentieren, liken, teilen – und ihr Leben verlängern.

Jeden Tag muss neuer, fesselnder Inhalt generiert werden. Und jeden Tag ist ein großer Teil davon Empörung – sie ist billig zu produzieren, dramatisch genug, um durch den Wust von Alternativen zu dringen, in Einklang mit unserem aktuellen kulturellen Milieu und […] wohlig für Fans.“

Jeffrey M. Berry und Sarah Sobieraj, The Outrage Industry: Political Opinion Media and the New Incivility

Aber das ist nicht die ganze Geschichte, und die Forscher, die wir bis hier zitiert haben, sind nicht die einzigen, die über moralische Empörung arbeiten. So funktioniert Forschung nicht. Gleichgültig, zu welchem Thema: Vorstöße werden gewöhnlich an mehreren Fronten zugleich gemacht; deshalb besteht die Herausforderung darin, alle Fäden miteinander zu verknüpfen, um ein zusammenhängendes Bild von einem sehr komplexen Thema zu bekommen. Wir haben gesehen, wie anfällig wir für moralische Empörung sind (ob sie auf Wahrheit beruht oder nicht) und wie soziale Medien und Produzenten von Inhalten das ausnutzen können. Ist daraus also zu schließen, dass moralische Empörung etwas Schlechtes ist?

Zwei Seiten der Medaille

Laut einer Untersuchung, die in Trends in Cognitive Sciences veröffentlicht wurde, ist die Frage, ob moralische Empörung gut oder schlecht sei, die falsche Frage. „Emotion und Verstand schließen einander nicht aus“, schreiben die Autorinnen; moralische Empörung zu empfinden, kann Menschen natürlich dazu bringen, sich online konträr auszudrücken, aber sie muss es nicht. Sie kann auch positive Auswirkungen haben und helfen, Menschen so zu beeinflussen, dass sie ihr Denken und Handeln ändern. „Online-Empörung ist keine Emotion“, schreibt Victoria Spring mit ihren Kolleginnen. „Sie ist eine mögliche Verhaltensreaktion, die mit dem Erleben von Empörung verbunden ist.“ Wir haben eindeutig Alternativen dafür, wie wir Empörung zum Ausdruck bringen. Spring und ihr Team zeigen auf, dass Emotionen wie diese unsere Aufmerksamkeit auf wichtige Hinweise lenken können, die uns helfen, unsere Werte zu klären und unsere Entscheidungen rational zu durchdenken.

Weil moralische Empörung oft aus einem tiefen Unrechtsempfinden entsteht, kann sie einen ebenso tief empfundenen Wunsch wecken, wichtige Veränderungen zu bewirken. Die Menschheitsgeschichte hat gezeigt, dass moralische Empörung eine machtvolle Kraft für das Gute sein kann, indem sie die Sicht der Gesellschaft formt, wie man andere besser behandelt, und zu Verhalten motiviert, das anderen hilft. Moralische Empörung an der richtigen Stelle hat eine Rolle dabei gespielt, das Bewusstsein für Menschenrechtsverletzungen, Ungerechtigkeiten, Ungleichbehandlung und Missbrauch zu schärfen, und sie hat oft Veränderungen bewirkt.

Ebenso oft sind diese Veränderungen allerdings hinter den Erwartungen zurückgeblieben, und dies aus vielerlei Gründen. In manchen Fällen ist unsere Motivation, die Gerechtigkeit wiederherzustellen, aufrichtig, aber unsere Kommunikation entgleist. Geringfügige Differenzen können zu unüberwindlichen Hürden werden, die uns daran hindern, Übereinstimmungen zu identifizieren, die uns ein gemeinsames Ziel geben würden. Oder wir verstricken uns in gegenseitige Schuldzuweisungen und drehen uns mit fruchtlosem Diskutieren im Kreis; das führt dazu, dass wir der Empörung überdrüssig werden und der Fortschritt stehen bleibt.

Manchmal sind unsere Motivationen das Problem. Sind sie aufrichtig genug, um uns zu inspirieren, für eine Veränderung zu arbeiten? Die Moralpsychologen Zachary Rothschild und Lucas Keefer schreiben: „Zwar können Äußerungen der Empörung von Außenstehenden einen echten Wunsch ausdrücken, die Gerechtigkeit wiederherzustellen oder das bzw. die Opfer zu schützen, aber neue Untersuchungen legen nahe, dass Empörung auch eigennützig sein, Schuldgefühle mildern und die Wahrnehmung des eigenen moralischen Charakters heben kann. […] Daraus folgt, dass Empörung von Außenstehenden nicht unbedingt von Besorgnis um Gerechtigkeit per se motiviert sein muss. Wie differenziert man dann zwischen Bekundungen von Empörung, die eine echte Sorge um Gerechtigkeit reflektieren, und solchen, die von weniger altruistischen Sorgen um den eigenen moralischen Status motiviert sind?“ Anders ausgedrückt: Wie kann man zwischen gerechter und selbstgerechter Empörung unterscheiden?

Ein Anhaltspunkt liegt, wie sie feststellten, in der Tatsache, dass alle Menschen Unrecht unterschiedlich bewusst wahrnehmen und auch unterschiedlich empfindlich darauf reagieren. Wo man im jeweiligen Kontinuum steht, hängt davon ab, wie entschieden man Recht als universelles Moralprinzip wertet. Menschen, die auf das Unrecht, das sie sehen, empfindlicher reagieren, sind weniger wahrscheinlich von Gefühlen moralischer Überlegenheit oder Abwehr motiviert, wenn sie Empörung bekunden, und setzen sich wahrscheinlicher für Veränderung ein. Menschen, die auf das Unrecht, das sie sehen, weniger empfindlich reagieren, bekunden dagegen oft Empörung, wenn sie ein persönliches Schuldgefühl beruhigen oder sich moralisch überlegen fühlen wollen. Wenn eine dieser beiden Motivationen zugrunde liegt, reicht es oft aus, Empörung gegen Unrecht zu bekunden, um diesen Menschen das Gefühl zu geben, sie hätten das Ihre getan und damit sei es erledigt.

Unabhängig davon, ob die Motivationen lauter sind oder nicht, könnte man meinen, dass es nur Gutes bewirken kann, die Truppen gegen das Unrecht aufzustellen. Leider ist das nicht immer der Fall. Takuya Sawaoka und Benoît Monin von der Stanford University hatten den Verdacht, dass der Gedanke „safety in numbers“ – zu mehreren ist man sicherer – nicht unbedingt richtig ist, wenn es um das Bekunden moralischer Empörung geht, und beschlossen deshalb, die Frage genauer zu untersuchen. Ihr Ergebnis? Zwar bewundern wir gewöhnlich Menschen, die gegen Unrecht vorgehen, aber wir können uns auch gegen sie wenden, wenn wir finden, dass das Ziel der Empörung erdrückt wird: „Dies ist das Paradoxe an viraler Empörung. Die exakt gleiche individuelle Bekundung von Empörung kann löblich erscheinen, wenn sie isoliert ist, aber moralisch suspekt, wenn sie von einem ganzen Chor nachhallender Empörung begleitet wird.“ Das leuchtet ein. Wenn die Strafe für das Verbrechen oder Unrecht unverhältnismäßig ist, wird sie selbst ein Unrecht.

Die Allgegenwart kollektiver Empörung kann ihre Überzeugungskraft und Wirkung verwässern, weil virale Empörung die Grenze zwischen gerechtem Protest und kollektivem Mobbing verwischt.“

Takuya Sawaoka, „Can Online Viral Outrage Change Hearts and Minds?“, The Society for Personality and Social Psychology

Nützliche Empörung

Wir haben gesehen, dass vernünftig motivierte moralische Empörung eine Kraft für das Gute sein kann, um gegen Unrecht vorzugehen – solange der moralische Kompass, an dem sie sich orientiert, stimmt. Aber was macht einen guten moralischen Kompass aus? Es wäre schwierig, einen Grundwert zu finden, der besser ist als „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, wobei der Nächste als „alle Menschen“ zu definieren ist. Aber die Information, die unsere Empörung nährt, ist nicht immer richtig, und unsere eigenen Vorurteile über jeden Aspekt – auch darüber, wer unser Nächster ist – können unsere Urteilskraft leicht behindern. Wie sorgen wir dann dafür, dass wir richtig denken? Hier können zwei Schlüsselbegriffe helfen: Nachdenken und Respekt.

1) Nachdenken: Wenn wir eine Schlagzeile oder ein Video sehen oder eine Anschuldigung hören und dies unser Blut zum Kochen bringt, ist es hilfreich, über unsere eigenen Motive und toten Winkel und auch über die Motive und toten Winkel der Urheber dieser Inhalte nachzudenken. Geht es bei meinen Gefühlen wirklich um Gerechtigkeit oder könnte man sie eher als selbstgerecht bezeichnen? Was ist der Kontext der aufwühlenden Information und kann ich diese Behauptungen verifizieren? Beruhen sie auf zuverlässigen Quellen? Sind Perspektiven zu beachten, die den Urhebern nicht bewusst waren oder die sie vielleicht absichtlich ausgelassen haben? Soll mich dieser Inhalt auf eine bestimmte Gruppe von Menschen wütend machen? Haben die Urheber einen Vorteil davon, einen Streit zu entfachen? Wenn wir uns die Zeit genommen haben, alle diese Fragen ehrlich zu beantworten, und dann immer noch Entrüstung empfinden und überzeugt sind, dass diese wirklich gerecht ist, können wir uns dem zweiten Schlüsselbegriff zuwenden.

2) Respekt: Um moralische Empörung in konstruktive Bahnen zu lenken, ist es oft erforderlich, uns sinnvoll und respektvoll über das Problem auszutauschen, das wir sehen. Wenn wir in der Phase des Nachdenkens unsere Hausaufgaben gemacht haben, haben wir unsere Motivation geprüft und verifiziert, dass das, was wir beobachtet haben, wirkliches Unrecht ist. Wir müssen anerkennen, dass Demut und Respekt nötig sind, wenn wir das Unrecht mit anderen diskutieren, die vielleicht verschiedene Sichtweisen haben oder das Unrecht noch nicht erkennen. Das kann bedeuten, dass unsere einzige Möglichkeit in kleinen Veränderungen auf persönlicher Ebene besteht. Oder wir können in einer Position sein, das Problem in größerem Rahmen öffentlich anzusprechen und das Unrecht bewusst zu machen, um auch andere zu persönlichen Veränderungen zu ermutigen. Weitere Möglichkeiten könnten Dialoge mit Menschen sein, die mehr tun können als wir selbst. Welche Wege uns auch zur Verfügung stehen – das Ziel ist, Anschuldigungen und Vorwürfe zu vermeiden, stattdessen nach Gemeinsamkeiten zu schauen und ergänzende Bestrebungen anzuerkennen.

Empfindungen moralischer Empörung sind eine wichtige emotionale Kraft, die das Potenzial hat, unsere dunklere Seite auszugleichen, und sie werden nicht so bald verschwinden. Solange es menschliche Grausamkeit, Machtmissbrauch, Ungleichbehandlung jeder Art, Manipulation, Hass, Habgier, gedankenlosen Konsum und Korruption gibt, werden Menschen (hoffentlich) weiterhin mit moralischer Empörung reagieren. Wie wir aber diese Emotion kanalisieren, wie wir sie anderen gegenüber kundtun und wie wir sie nutzen, um bessere Menschen zu werden, wird hinsichtlich ihres Werts für die Gesellschaft einen enormen Unterschied machen.