Was Salomo nicht wusste

In einem Bericht kommt die Königin von Saba (möglicherweise dem modernen Jemen) nach Jerusalem. Nach einem „Gipfeltreffen“, wie wir es heute nennen würden, bemerkte sie: „Es ist wahr, was ich in meinem Lande von deinen Taten und von deiner Weisheit gehört habe. Und ich hab’s nicht glauben wollen, bis ich gekommen bin und es mit eigenen Augen gesehen habe“ (1. Könige 10, 6–7).

Die Bücher Sprüche und Prediger sind Sammlungen von Salomos weisen Ratschläge, die noch immer zur Verfügung stehen.

DIE QUELLE DER WEISHEIT

Salomo und die Menschen in seiner Umgebung wussten, dass seine Weisheit von Gott kam (1. Könige 3, 5–12, 28). Doch bei all der Erkenntnis, die Gott Salomo schenkte, gab er ihm keinen vollständigen Einblick in seinen Plan für die Menschheit. Der König wusste um Gottes Gegenwart, Macht und entscheidende Bedeutung, doch hinsichtlich der Frage nach dem Sinn des Menschenlebens hatte er keine Klarheit; er verstand die ewige Dimension von Gottes tieferer Absicht für das menschliche Leben nicht. So beinhalten Salomos Lehren zwar großartige Ratschläge für gesunde menschliche Beziehungen – deren Kern ein richtiges Verständnis der Herrschaft Gottes über die Schöpfung und den Menschen ist (vgl. Sprüche 1, 7; 2, 6) –, doch zu der Notwendigkeit der Versöhnung mit Gott dem Vater und der künftigen Rolle des Messias, der die frohe Botschaft vom Reich Gottes erfüllen sollte (Johannes 3, 16–17), hatte Salomo nichts zu sagen. Ohne diese entscheidende Erkenntnis lamentierte er im Buch Prediger immer wieder: „Alles ist eitel“.

Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind“.

Prediger 1, 14

Weil menschliche Logik, Rationalität und pauschale „Spiritualität“ blind für die Fülle der frohen Botschaft sind, lebt die Menschheit noch immer in kollektiver Verständnislosigkeit. Obgleich die Bibel das verfügbarste Buch der Welt ist und Milliarden Menschen sich als Christen bezeichnen, begreifen nur wenige, wie das Gesetz, die Umkehr, das Reich Gottes, der Glaube an Jesus als Sohn Gottes und das ewige Leben zusammen den Sinn des menschlichen Lebens definieren.

Wie das Gleichnis vom Sämann umschreibt, wird die heilige Schrift von vielen gelesen, aber die Bereitschaft zum Glauben, die zum Verstehen führt, ist selten (Matthäus 13, 1–9). Gott selbst ist derjenige, der Verstehen möglich macht (Verse 11–17). Der Mensch braucht geistliche Einsicht von Gott, und nur wenige nehmen sie an, wenn sie angeboten wird (Johannes 6, 44, 60–61, 66).

DEN WEG“ FINDEN

Gott ließ Salomo wissen, wie der Mensch leben soll, aber nicht wirklich, warum. Zwar wusste Salomo, dass irgendwann eine Zeit kommen wird, in der sich jeder Mensch für seine Taten verantworten muss (Prediger 12, 14), doch was bei dem Urteil herauskommen wird, blieb ein Rätsel. Salomo kam zu dem Schluss, dass es unsere Pflicht ist, Gott gehorsam zu sein – einfach, weil er Gott ist. Wir schulden ihm als unserem Schöpfer Achtung: „Lasst uns die Hauptsumme aller Lehre hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn das gilt für alle Menschen“ (Vers 13).

Heute haben wir die komplette Bibel, sowohl die hebräische Heilige Schrift (oft Altes Testament genannt) als auch den Kanon des Neuen Testaments. Wenn Gott tatsächlich existiert und die Bibel seine Botschaft an die Menschheit ist, wie dort geschrieben steht (2. Timotheus 3, 16–17), wird keiner der beiden Teile den anderen unterhöhlen, umgehen oder konterkarieren. Die Bibel muss ein integriertes Ganzes sein. Salomo kannte noch nicht die ganze Geschichte, wir heute dagegen schon.

Die Gebote und die Prinzipien, die aus der Bibel abzuleiten sind (2. Mose 20, 2–17; Matthäus 5–7), beleuchten den Weg Gottes; sie sind das Maß dafür, wie man in Harmonie mit Gott durch das Leben geht. Wir alle sind von diesem Weg abgewichen und haben dadurch das Gesetz gebrochen (Römer 3, 23; Jakobus 2, 10). Das ist Sünde; es trennt uns von der Beziehung mit Gott (Jesaja 59, 1–2), und wir bleiben zurück, getrennt von dem Wissen, wer, was und warum wir sind. Wir sehnen uns nach Licht, aber wir tappen im Dunkeln (Verse 9–10).

DER MENSCHLICHE WEG

Wir haben eine angeborene Sehnsucht, diese Lücke zu füllen, unsere dunkle Welt zu erhellen. Der Physiker Marcelo Gleiser beschreibt diese Sehnsucht so: „Ich-Bewusstsein, gekoppelt mit einem hohen Maß an kognitiver Komplexität, führt zu der einzigartigen menschlichen Befähigung zur Selbsterkenntnis, der Fähigkeit, über die eigene Existenz zu reflektieren.“ Wir fühlen uns nicht wohl ohne Antworten; wir fühlen uns nicht wohl mit „Existenz“ ohne Grund oder Ursache. Deshalb haben wir einerseits menschliche Traditionen und Mythologien erfunden und hybridisiert, und durch sie fantasieren wir metaphysische Antworten zusammen. Das sind unsere Religionen.

Andererseits haben wir Antworten durch die Erkundung der physischen Welt entwickelt – die naturwissenschaftliche Forschung. Gleiser erkennt diese Verbindung an: „Naturwissenschaft ist eine Reflexion unserer sehr menschlichen Unruhe, unserer Sehnsucht nach Ordnung und Kontrolle, unserer Einschüchterung und Furcht angesichts der Unermesslichkeit des Kosmos.“

Während Gleiser den Standpunkt vertritt, dass Naturwissenschaft in dem, was sie offenbaren kann, von vornherein begrenzt ist, glaubt E. O. Wilson etwas anderes: dass die Naturwissenschaft das letzte Wort über die Realität hat. Der ideale menschliche Weg nach vorn besteht für ihn darin, die arbiträren „Wahrheiten“ unseres vormaligen, unerleuchteten Zustands (Aberglauben, Mythologien, Religionen) gegen die Entdeckungen der modernen Naturwissenschaft einzutauschen. „Was für ein Überleben auf lange Sicht zählt, ist intelligente Selbsterkenntnis“, schreibt Wilson, „basierend auf einem unabhängigeren Denken als dem, was heute selbst in unseren fortschrittlichen demokratischen Gesellschaften toleriert wird.“ Was demzufolge toleriert werden muss, ist eine komplette Revision unserer Wahrnehmung, was wir selbst und unsere Motivationen sind.

Wilson hat in weiten Teilen recht; unsere religiösen Konventionen, politischen Dogmen und kreationistischen Mythologien sind vergebliche Versuche, den Sinn des Menschenlebens zu erkennen; sie zu dekonstruieren ist eine enorme Herausforderung. Sie sind Bestandteil der kulturellen „Parasitenbelastung“ unserer Spezies, schreibt Wilson.

Man muss zugeben, dass dies erstrangige Themen sind, die es immer wieder neu zu untersuchen gilt, denn sie bewirken in der Tat große Spaltungen in aller Welt. Unser Denken von früheren Annahmen abzukoppeln ist eine klare Notwendigkeit. Auch die Naturwissenschaft – nicht als Mittel, physische Phänomene zu verstehen, sondern als Wissenschaftsgläubigkeit, eine falsche Religion aus humanistischen Erklärungen – ist reif für „ein unabhängigeres Denken“.

Diese Revision würde eine neue Rubrik für die Bewertung unserer menschlichen Einrichtungen beinhalten. Die fragmentierte Realität der menschlichen Welt ist Beweis dafür, dass unsere Wege nicht die Wege des biblischen Gottes sind. Wahrheit führt nicht zu Wirrnis; Gott ist nicht ein Gott der Unordnung (1. Korinther 14, 33; Jesaja 45, 18). Einfach ausgedrückt entspricht unser Verhalten nicht den Absichten unseres Schöpfers (Jesaja 55, 8–9; Sprüche 14, 12). Dennoch war es in der Geschichte immer wieder übliche Praxis, nicht menschliche Konventionen, sondern Gott als die gescheiterte Vorstellung zu verurteilen.

DER NEUE WEG

Paulus predigte keine Religion namens Christentum. Er sprach von einer Art, zu leben, und schrieb, „dass ich nach dem Weg, den sie eine Sekte nennen, dem Gott meiner Väter so diene, dass ich allem glaube, was geschrieben steht im Gesetz und in den Propheten“ (Apostelgeschichte 24, 14). Dieser Weg umfasst, was viele „das Evangelium“ nennen – die frohe Botschaft von Gottes Plan, die durch die Sünde in der Welt verletzte Beziehung zwischen ihm, den Menschen und der Schöpfung zu heilen (Apostelgeschichte 3, 18–21). Sie beschreibt, wie unser Schöpfer wieder eine Beziehung zu allen Menschen herstellt. Dazu gehört, das Opfer Jesu Christi als Sühne anstelle unserer Todesstrafe anzunehmen; denn durch unsere Sünde haben wir den ewigen Tod verdient (Römer 6, 23; Kolosser 2, 13–14). Dies anzunehmen und zur Umkehr bereit zu sein – d. h., nun einen anderen Weg zu beschreiten, Gottes Gesetz und dem Vorbild des Verhaltens und Denkens zu folgen, das Jesus vorgelebt hat – ist die Grundlage der Bekehrung, ein Wandel der Gesinnung (Römer 12, 1–2; 1. Petrus 1, 14–19).

Salomo behauptete, der Anfang der Weisheit sei, Gott ernst zu nehmen (Sprüche 1, 7). Der Autor des Hebräerbriefes schließt den Kreis: Um den Sinn des Lebens zu erkennen, schreibt er, müsse man glauben, dass Gott real ist und die belohnt, die ihn suchen (Hebräer 11, 6). Der Glaube befähigt uns dazu, auf diesem Weg voranzugehen – einem Weg der Gesetzestreue, der oft schwierig ist und auf dem es starken Gegenwind gibt. Doch der Lohn in der Gegenwart ist der Seelenfriede, den ein Leben in Einklang mit Gott gibt.

Was für alle Menschen in der Zukunft liegt, ist eine Auferstehung. Zuversicht im Hinblick auf diese Zukunft und das Ergebnis jener Zeit des Gerichts schenkt Hoffnung. Als Jesus einen Rechtsgelehrten des ersten Jahrhunderts fragte, was gemäß der heiligen Schrift die Voraussetzung für ewiges Leben sei, antwortete dieser: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Da antwortete Jesus: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben“ (Lukas 10, 27–28).

Ewiges Leben im Reich Gottes ist der Sinn des Lebens, den Salomo nicht erfasste.