Der Da Vinci Code – Dichtung oder Wahrheit?

Basiert das Buch Sakrileg (The Da Vinci Code) auf Fakten, oder ist diese Behauptung des Autors die größte Fiktion des Romans?

Im März 2006 erschien in den USA die Taschenbuchausgabe, im Mai desselben Jahres lief weltweit der Film an – Dan Browns Megabestseller und die Kontroverse, die ihn umgibt, haben lange Zeit die Gemüter erregt. Für diejenigen, die sich noch immer fragen, worüber sich alle so aufregt haben, hier ein Überblick.

Dan Brown, der Autor des Mega-Bestsellers Sakrileg (im englischen Original: The Da Vinci Code), hat ein neues literarisches Genre geschaffen: den quasi-religiösen Verschwörungstheorie-Thriller mit entschiedenem Reiz für Sympathisanten der New-Age-Religion. Der Roman von Brown steht seit über drei Jahren ohne Unterbrechung auf diversen Bestsellerlisten inklusive der New York Times; sein internationaler Erfolg wurde noch verstärkt durch eine Verfilmung mit Tom Hanks in der Hauptrolle, aber auch durch Browns erfolgreiche Verteidigung in einem Aufsehen erregenden Gerichtsverfahren wegen Verletzung des Urheberrechts, angestrengt von den Autoren eines Buches, das er als eine seiner Quellen anerkennt.

In der Story von Sakrileg ist die römisch-katholische Kirche in einen verzweifelten Versuch verwickelt, historische Beweise dafür zu vernichten, dass der Heilige Gral gar kein Kelch ist, sondern etwas so Verheerendes, dass es, wenn es offenbar würde, die Grundfesten des Christentums selbst untergraben würde: die wahre Rolle der Maria Magdalena. Der labyrinthisch gewundene Handlungsverlauf führt den Helden und die Heldin - verfolgt sowohl von der Polizei als auch von einem im Schatten agierenden, aber mächtigen Kirchenmann - auf einer Spur kryptischer Zeichen zur Entdeckung mysteriöser Indizien, die zwar sichtbar, aber unbemerkt sind. Im Inneren berühmter Bauten und in den Pinselstrichen unschätzbarer Gemälde wurde die geheimnisvolle Spur über einen Zeitraum von Jahrhunderten geschickt verborgen.

Das größte Rätsel des Romans liegt jedoch nicht im Verlauf der Handlung, so fesselnd er auch ist. Es sind die Erklärungen direkt vor dem Prolog, unter der Überschrift „Fakten und Tatsachen“. Was Brown als Fakten bezeichnet, würde, wenn es denn zuträfe, eine der größten historischen Täuschungen und Vertuschungen darstellen; es geht um nichts weniger als um die Grundlagen der christlichen Hauptströmung - und beträfe insbesondere den römischen Katholizismus.

Bei dem Versuch, sich die oft verwischten Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit in diesem Bestseller klarzumachen, sollten die Leser wissen, dass der Anspruch des Autors auf historische Wahrheit, die seiner Fiktion zugrunde liege, einer näheren Untersuchung nicht standhält.

DICHTUNG ODER WAHRHEIT?

Seine erste „Tatsache“ formuliert Brown wie folgt: „Die Prieurè de Sion, der Orden der Bruderschaft von Sion, wurde im Jahr 1099 gegründet und ist eine Geheimgesellschaft, die bis heute existiert. Im Jahr 1975 wurden in der Pariser Nationalbibliothek Dokumente entdeckt, die unter der Bezeichnung Les Dossiers Secrets bekannt geworden sind und aus denen hervorgeht, dass eine Reihe berühmter Männer der Prieuré angehörten, darunter Sir Isaac Newton, Sandro Botticelli, Victor Hugo und Leonardo da Vinci.“

Tatsache?

Die Prieurè  de Sion, der Orden der Bruderschaft von Sion, wurde im Jahr 1099 gegründet und ist eine Geheimgesellschaft, die bis heute existiert. Im Jahr 1975 wurden in der Pariser Nationalbibliothek Dokumente entdeckt, die unter der Bezeichnung Les Dossiers Secrets bekannt geworden sind und aus denen hervorgeht, dass eine Reihe berühmter Männer der Prieurè angehörten, darunter Sir Isaac Newton, Sandro Botticelli, Victor Hugo und Leonardo da Vinci.“

Dan Brown, The Da Vinci Code (Sakrileg)

Die Handlung des Romans schreibt dieser Geheimgesellschaft die Aufgabe zu, über fast 2000 Jahre den wahren Gral zu hüten, und ein Großteil der Story dreht sich um das Auffinden von Anhaltspunkten, die ihr ermordeter Oberer hinterlassen hat. Diese letzten Handlungselemente sind natürlich erfunden, doch eine Untersuchung der Echtheit der Pergamente ist ein gutes Indiz dafür, wie ernst wir diesen Wahrheitsanspruch zu nehmen haben.

Tatsache ist, dass diese Pergamente zwar in einer Legende um ein französisches Dorf vorkommen, die im 20. Jahrhundert starkes Medieninteresse weckte, aber dass diese Geschichte nichtsdestoweniger auf breiter Front als Schwindel entlarvt wurde. In seinem Buch The Truth Behind The Da Vinci Code zeigt Richard Abanes z.B. auf, dass Les Dossiers Secrets tatsächlich Les Dossiers Secrets d'Henri Lobineau sind - 1967 von dem Fälscher Pierre Plantard angefertigt, der sich den Künstlernamen Lobineau gab. Da kommen Erinnerungen an die berühmten Fälschungen angeblicher Hitlertagebücher auf, die 1983 in Deutschland und in der Welt für großes Aufsehen sorgten.

Plantards Behauptungen hatten mit einem Geschäftsmann zu tun, der das Anwesen eines kompromittierten Priesters kaufte. Als PR-Gag brachte der neue Besitzer eine bizarre Geschichte über den Priester und den angeblichen Schatz in Umlauf. Darüber hinaus hat es zwar mehrere Organisationen mit dem Namen „Sion“ gegeben, doch dass es eine Geheimgesellschaft dieses Namens gebe, die auf das Jahr 1099 zurückgehe, ist reine Fiktion. Plantard gründete die moderne Prieuré de Sion im Jahr 1956.

So viel zu Browns erster „Tatsache“.

Auch die zweite seiner drei „Tatsachen“, die Opus Dei betrifft, entspricht nicht ganz der Wahrheit. Brown bezeichnet Opus Dei als „ultrakonservative katholische Sekte“. Doch Opus Dei ist eine so genannte Personalprälatur, bestehend aus Laien und Priestern, die unter der Leitung eines Prälaten zusammenwirken; und zwar innerhalb der katholischen Hauptrichtung.   Opus Dei kann insofern nicht als Sekte bezeichnet werden. Mitglieder von Opus Dei gehören gewöhnlich ihrer jeweiligen katholischen Diözese an.

Tatsache?

Die Personalprälatur des Vatikans, bekannt als Opus Dei, ist eine ultrakonservative katholische Sekte …“

Dan Brown, The Da Vinci Code (Sakrileg)

Auch wird eine der Hauptfiguren des Romans als „Mönch von Opus Dei“ bezeichnet. Opus Dei ist aber kein religiöser Orden im herkömmlichen Sinn, es sieht sich als pastorale Mission innerhalb der katholischen Kirche. Priester können zwar Mitglieder sein, aber die Mitglieder gelten und leben im Allgemeinen nicht als Mönche.

TYPISCH ROMAN

Am interessantesten ist Dan Browns dritte „Tatsache“: „Sämtliche in diesem Roman erwähnten Werke der Kunst und Architektur und alle Dokumente sind wirklichkeits- bzw. wahrheitsgetreu wiedergegeben.“ Besonders die Behauptung, seine Wiedergabe von Dokumenten sei wahrheitsgetreu, hält der Prüfung nicht stand. (Und auch in den anderen Kategorien ließe sich einiges beanstanden.)

Zwar erhebt Brown seinen Wahrheitsanspruch tatsächlich nie im Sinne historischer Wahrheit, doch seine kühne Behauptung über „Wiedergabe“ und „Dokumente“ könnten weniger wachsame Leser irreführen. Es gibt zahlreiche Beispiele für dichterische Freiheit bei Dingen, die angeblich historisch sind, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Sakrileg schließlich nur ein Roman ist. Brown hat darin Wahrheit, Scheinwahrheit und reine Erfindung geschickt zu einem fesselnden „Garn“ gesponnen, das zweifellos ein Gefühl von historischer Echtheit erzeugt. Selbst aufmerksamen Lesern muss man nachsehen, wenn sie nicht immer erkennen, wo in dieser Geschichte die Wahrheit aufhört und die Dichtung beginnt.

Ein Beispiel: Um seine Handlung überzeugender zu machen, muss Brown den Leser davon überzeugen, dass Christus erst Jahrhunderte nach seinem Tod als „Gott im Fleisch“ angesehen wurde, und dass andere Evangelien die Gültigkeit der kanonischen Evangelien mit Recht bestreiten. Dem Roman zufolge heiratete ein sehr menschlicher Christus Maria Magdalena, die ihm angeblich ein Kind gebar und dadurch die europäische Dynastie der Merowinger hervorbrachte. Tatsächlich gibt es nicht das geringste historische Indiz für diese zweifelhaften Annahmen. In einem Roman mag das kein Problem sein, doch ob beabsichtigt oder nicht - eine Folge der Einflechtung solcher echt klingender Erfindungen in seinen Roman ist, dass viele von Browns Lesern nun an der Inspiration und Wahrhaftigkeit der kanonischen Schriften zweifeln.

Tatsache?

Sämtliche in diesem Roman erwähnten Werke der Kunst und Architektur und alle Doku¬mente sind wirklichkeits- bzw. wahrheitsgetreu wiedergegeben.“

Dan Brown, The Da Vinci Code (Sakrileg)

Im Folgenden nur einige der fragwürdigen Behauptungen über Dokumente im Roman.

Behauptung: „Es gab mehr als achtzig Evangelien, die für das Neue Testament zur Auswahl standen.“

Wahrheit: In seiner Besprechung von Sakrileg schreibt Craig L. Blomberg, Professor für Neues Testament am Denver Seminary: „Wenn man alles zusammenzählt, was im ersten halben Jahrtausend des Christentums je als Evangelium bezeichnet wurde, . . . kommt man auf rund zwei Dutzend Dokumente. Etwa die Hälfte von ihnen sind nur aus Zitaten der frühen Kirchenväter bekannt, oder aus kleinen Stücken oder Fragmenten, die gefunden wurden, und an ihnen ist wenig Unorthodoxes. Andere sind eindeutig gnostische und ebenso eindeutig ,christliche' Mutationen der früheren apostolischen Tradition“ (Denver Journal, Bd. 7, 2004).

Wie Blomberg weiter feststellt, ist das einzige nicht kanonische Evangelium, dem Fachkreise gewisse Bedeutung zubilligen, das Thomasevangelium - das Brown für seine Story nicht einmal heranzieht.

BIBLISCHE WAHRHEIT

Behauptung: „Zum Sohn Gottes wurde Jesus erst nach einer entsprechenden Abstimmung auf dem Konzil von Nizäa erklärt. . . . Der Haken an der Sache sei, dass Konstantin Jesus erst vier Jahrhunderte nach der Kreuzigung zum Gottessohn erhoben habe. Deshalb, so die Behauptung, existierten bereits tausende von Niederschriften, in denen Jesus als normaler Sterblicher geschildert wird. . . . Konstantin habe eine neue Bibel in Auftrag gegeben, die er obendrein finanzierte. In diese Evangeliensammlung ließ er angeblich keine jener Darstellungen aufnehmen, in denen Jesus als Mensch gesehen wurde, während alles, was ihn göttlich erscheinen ließ, besonders hervorzuheben war.“

Wahrheit: Die erste Aussage ist eine unrichtige, verdrehte Darstellung eines Beschlusses des Konzils von Nizäa. Zudem kann man die nichtbiblischen Zitate, die uns bekannt sind und die sich auf Christus beziehen, an einer Hand abzählen. Eines ist eine kurze Erwähnung durch Josephus, den jüdischen Geschichtsschreiber des ersten. Jahrhunderts. Tatsächlich trifft das Gegenteil von Browns Behauptung zu: Die Indizien zeigen, dass die Gläubigen die Gottheit Christi erstaunlich früh akzeptierten. So wurden die vier als kanonisch geltenden Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes schon lange vor Konstantin als solche akzeptiert, wie Dokumente aus dem zweiten Jahrhundert bezeugen.

Auch lässt sich argumentieren, dass weltliche Berichte über das Leben Christi überflüssig und bedeutungslos waren, weil es die kanonischen Evangelien schon so früh gab, und weil die Gläubigen sie akzeptierten. Die Zahl früher Zitate aus den Evangelien ist massiv. Schon zu Beginn des zweiten Jahrhunderts flochten Kirchenväter wie Ignatius von Antiochia, Polykarp, Justin der Märtyrer, Clemens von Alexandria und Irenäus ausgiebig Zitate und/oder Paraphrasen der Evangelien und der Epistel in ihre eigenen Schriften ein. Sogar im Neuen Testament selbst wird darauf hingewiesen, dass einige der apostolischen Schriften noch zu Lebzeiten der Apostel als heilig galten.

Es ist historisch belegt, dass zwischen den Vorvätern der orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche Einigkeit darüber herrschte, welche Evangelien in das Neue Testament aufzunehmen waren. Konstantin hätte unmöglich alle Exemplare des Neuen Testaments vernichten können, vor allem außerhalb seines Hoheitsgebietes, und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass er es je versuchte.

Dann ist da noch Browns Behauptung, die vier kanonischen Evangelien seien geschönte Darstellungen des Lebens Jesu, die ihn „in ein göttliches Licht rückten“, statt „Jesus als Mensch“ zu zeigen. Tatsächlich erzählen diese vier Bücher, dass er weinte, Mitgefühl und Einfühlungsvermögen zeigte, zornig wurde, Schmerzen und Hunger litt, angesichts seiner bevorstehenden Kreuzigung betrübt war und andere menschliche Gefühle zum Ausdruck brachte. Andererseits ist von den gnostischen Evangelien nach Maria und Philippus, die von Browns Figuren zitiert werden, um ihre Argumentation zu untermauern, wenig mehr erhalten als eine Spruchsammlung. Sie enthalten kaum Einzelheiten irgendwelcher Art über das Leben Jesu. Auch hier ist die Wahrheit das Gegenteil von dem, was Brown schreibt.

DAS QUMRAN-EVANGELIUM?

Behauptung: „Zum Glück für uns Historiker blieben einige Evangelien, die von der Ausrottung durch Konstantin bedroht waren, dennoch der Nachwelt erhalten. In einer Höhle bei Qumran in der Wüste von Judäa wurden im Jahr 1950 die Schriftrollen vom Toten Meer entdeckt.“

Wahrheit: Die Qumran-Rollen sind jüdische Dokumente, die in den 1940er- und frühen 50er-Jahren gefunden wurden. Sie enthalten einige sehr wertvolle alttestamentliche Texte auf Hebräisch, Aramäisch und Griechisch, die eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit anderen Handschriften aufweisen; dagegen enthalten sie nichts, das sich spezifisch auf die späteren neutestamentlichen Evangelien oder das Leben Christi bezieht. (s. „Die Qumran-Rollen neu aufgedeckt“).

Dies ließe sich fortsetzen, doch es sollte genügen, um die Leser auf die Vermischung von Dichtung und Wahrheit in Sakrileg aufmerksam zu machen. Vollständigere Analysen der zahlreichen dichterischen Freiheiten dieses Romans bieten viele Bücher zum Thema. Für fünf von ihnen finden sich Besprechungen unter dem Titel „The Da Vinci Con.“

Dan Brown ist ein begabter Erfinder überzeugender Geschichten. Doch Sakrileg verdankt einen Großteil seiner Beliebtheit seiner Nähe zum religiös oberflächlichen und kapriziösen New Age, wo sich jeder die Zutaten für sein persönliches religiöses Karma selbst zusammensuchen und mischen kann. Wir leben in einer Kultur von „Spiritualität Light“ - wir sind fasziniert von „spirituellen“ Themen, die wir prickelnd finden, aber fühlen uns abgestoßen von solchen, die eine tiefe Bindung an einen hohen moralischen Standard verlangen. So werden Religion, Geschichte, Gott und alles andere so umgemodelt, dass sie in unser selbst gemachtes Wellness-Weltbild passen.

Geben wir also nicht Dan Brown oder seinem Roman die ganze Schuld für die Verbreitung religiös und historisch zweifelhafter „Tatsachen“. Der Markt war mehr als bereit dafür.