Der paradoxe Mensch – gut und böse

Der Mensch ist fähig zu wirklich inspirierender Güte – und paradoxerweise auch zu so entsetzlicher Bösartigkeit. Das Wie und Warum dieses Widerspruchs beschäftigt Religionen und Philosophien jeder Art seit Jahrtausenden. Manche sehen seine Wurzel in einem uralten Kampf zwischen guten und bösen Mächten, die mit der Zeit das niedrigere, körperliche Wesen Mensch darin verwickelten und zu gutem oder bösem Handeln brachten. Dieser Vorstellung zufolge schien der Mensch dabei kaum eine Wahl zu haben.

Bei dieser Denkweise bleibt natürlich unklar, was man tun kann, um die negativen Auswirkungen auf menschliches Verhalten zu verhindern.

Neuerdings gibt es eine evolutionsbiologische Erklärung, die gut aufgenommen worden ist. Nach jahrzehntelanger Forschung mit Schimpansen und Bonobos ist der Harvard-Professor Richard Wrangham überzeugt, das Rätsel gelöst zu haben. Gegenüber Jean-Jacques Rousseau, der den Menschen für von Natur aus gut hielt, und Thomas Hobbes, der menschliches Handeln für von Natur aus böse hielt, behauptet Wrangham, dass wir von Natur aus gut und böse sind.

Wie kommt er darauf? Wrangham stützt sich auf seine Untersuchung des Phänomens Aggression. In The Goodness Paradox: How Evolution Made Us Both More and Less Violent (2019) kommt er zu dem Schluss, dass geringe Toleranz für reaktive Aggression (heiße Wut) und eine hohe Tendenz zu proaktiver Aggression (kalter Berechnung) sowohl Friedfertigkeit (Gut) als auch entsetzliche Gewalt (Böse) beim Menschen erklären: „Kurz, eine große Merkwürdigkeit am Menschen ist unser moralisches Spektrum, von unaussprechlicher Bösartigkeit bis zu herzzerreißendem Großmut.“ Die beiden Formen der Aggression seien kein Widerspruch, sondern zwei Seiten derselben Medaille.

Wir praktizieren in unserem alltäglichen Leben ein ungewöhnlich geringes Maß an Gewalt, erreichen aber in unseren Kriegen außergewöhnlich viele Todesopfer durch Gewalt. Diese Diskrepanz ist das Güte-Paradoxon.“

Richard Wrangham, The Goodness Paradox

Das ist nicht weit entfernt von Alexander Solschenizyns Kommentar in Der Archipel Gulag: „Allmählich wurde mir offenbar, dass die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenherz. […] Selbst in einem vom Bösen besetzten Herzen hält sich ein Brückenkopf des Guten. Selbst im gütigsten Herzen ein uneinnehmbarer Schlupfwinkel des Bösen.“

Wrangham ist nicht durch lange persönliche Erfahrung im Gulag zu seiner Schlussfolgerung gekommen, sondern durch 20 Jahre des Nachdenkens über bestimmte Primaten: Schimpansen können sehr aggressiv sein, dagegen sind ihre engen Verwandten, die Bonobos, relativ friedfertig – man könnte sogar sagen: domestiziert. Wrangham entwickelt die Theorie, dass sich Schimpansen und Bonobos vor 900 000 bis 2,1 Millionen Jahren von einem gemeinsamen Vorfahren auseinanderentwickelt haben. Nur Bonobos seien domestiziert worden (kleinerer Kopf, weniger vorstehende Kinnlade, kürzere Zähne) – daher der Unterschied im Hinblick auf Aggression. Das wirft die Frage auf, wer sie domestiziert hat, und Wrangham schlägt als beste Antwort Selbstdomestizierung vor.

Aber wie erklärt das Gut und Böse im Menschen?

Dieser Denkrichtung zufolge ist eine solche Selbstdomestizierung ab einer Zeit vor etwa 300 000 Jahren auch beim Homo sapiens geschehen, einem der beiden Zweige des Homo. So wurden wir weniger reaktiv aggressiv, weil sich unsere Urahnen offenbar darauf einigten, Unruhestifter hinzurichten; und über Jahrtausende wurde so auf Verträglichkeit und weniger heiße Aggression selektiert. Allerdings ist auch proaktive Aggression, die Selektion durch geplante Todesstrafe, ein Merkmal sozialer Kontrolle und nach wie vor Bestandteil unseres Erbguts.

Diese evolutionsbiologische Denkweise ist materialistisch, sie schließt jede übernatürliche Kraft von außen aus. Tatsächlich kann sie offenbar per definitionem keine nichtmaterialistische Erklärung zulassen.

Heißt das, dass eine solche Erklärung ungültig ist?

Der Hirnforscher Robert L. Kuhn schrieb vor über 50 Jahren: „Evolutionstheoretiker suchen ihre Ansichten auf die Ähnlichkeit der Gehirne von Menschen und Menschenaffen zu stützen. Ironischerweise sind sie in Wirklichkeit auf die bedeutendste wissenschaftliche Beobachtung der Geschichte gestoßen, den unwiderlegbaren Nachweis der nichtphysischen Komponente, durch die die Leistung des menschlichen Gehirns zu Geist wird. Ohne diesen nichtphysischen Faktor könnte der Mensch nichts weiter sein als ein Super-Affe, im gleichen Maße intelligenter als der Schimpanse, wie dieser intelligenter ist als ein weniger komplexes Säugetier.“

Kuhn brachte seine Schlussfolgerungen recht bestimmt zum Ausdruck: „Das menschliche Gehirn kann den menschlichen Geist nicht erklären – es muss ein nichtphysisches Element vorhanden sein, das sich unseren Mikroskopen, Retorten, Elektroden und Computern entzieht. Für den wirklich offen denkenden Menschen ist es fruchtlos, die Einzigartigkeit des Geistes physisch rationalisieren zu wollen. Es muss einen nichtphysischen Wesenskern im Menschen geben – einen Geist‘.

Wenn es tatsächlich einen nichtphysischen Aspekt im Menschen gibt, ist es dann nicht möglich, dass er von einer anderen nichtphysischen Kraft beeinflusst werden könnte, einem anderen Geist – dass das, was Aggression und andere negative Tendenzen aktiviert, nichtmateriellen Ursprungs ist?

Viele Gesellschaften des Altertums haben ihre eigenen, oft unterschiedlichen Philosophien über das Wesen des Menschseins und den Ursprung des Bösen entwickelt. Aus der alten hebräischen Sicht hat der Mensch jedoch mit dem einzigartigen „Geist im Menschen“ begonnen – in Bezug auf Gut und Böse neutral – und mit dem freien Willen, sich zu entscheiden, nur nach dem Guten zu streben. Doch mit demselben menschlichen Geist, der unser Wesen weitgehend definiert, haben sich Menschen entschieden, selbst zu bestimmen, was gut und böse ist, und sich von außen kommendem Druck geöffnet, verdorben zu werden und nach dem Bösen zu streben. Aus biblischer Sicht ist das die Geschichte der menschlichen Ureltern und ihrer Begegnung mit einem bösen Widersacher-Geist.

Ist dies eine bessere Erklärung für das Rätsel des Guten und des Bösen im Menschen? Es passt zu Wranghams These über die Rolle, die das Ich für die Bestimmung des einzigartig Menschlichen spielt. Es bestätigt, dass es in allem Tun des Menschen Gut und Böse gibt, liefert aber zu der Erfahrung des gottgefälligen Guten und der Überwindung des heimtückischen Bösen eine Antwort auf geistiger Ebene.