Der Wahrheit entfremdet

Seit Urzeiten strebt der Mensch nach Wissen, sucht nach Antworten auf die großen Fragen. Und wenn die Antworten, die wir gefunden haben, uns nicht genügen, werden wir in allen möglichen neuen Richtungen kreativ. Ändert sich Wahrheit mit Zeit und Umständen?

Im englischen Sprachraum ist Humpty Dumpty seit Jahrhunderten ein fester Bestandteil einer Sammlung von Kinderreimen. Außerhalb des englischen Sprachraumes wurde die Figur durch Lewis Carroll in Alice hinter den Spiegeln (1871) bekannt (in der deutschen Übersetzung heißt Humpty Dumpty hier Goggelmoggel). Dort diskutiert er mit Alice über Semantik und erklärt ihr unter anderem die Wortschöpfungen Jabberwockys.

Wenn ich ein Wort verwende“, meinte Humpty Dumpty ziemlich geringschätzig, „dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.“ „Die Frage ist doch“, sagte Alice, „ob du den Worten einfach so viele verschiedene Bedeutungen geben kannst“. „Die Frage ist“, sagte Humpty Dumpty, „wer die Macht hat – basta! […]“

Humpty Dumptys Einstellung ist heute nur allzu verbreitet. Wahr ist das, was wir wahr sein lassen wollen – basta. Wahrheit richtet sich nach dem, was wir bestimmen. Wir sind das Maß der Dinge, wir haben das Sagen. Die alten, traditionellen Begriffe sehen zwar aus wie früher, man spricht über sie wie früher, aber sie bedeuten nicht mehr das Gleiche wie früher.

Natürlich gibt es einen Konsens über Wahrheiten wie „zwei plus zwei gleich vier“ oder „die Erde kreist um die Sonne“, doch gibt es eine Wahrheit, die die großen Grundfragen erklärt: Wer sind wir? Warum sind wir hier? Was ist unsere Aufgabe? Wie sollen wir miteinander umgehen? Ist dieses Leben hier alles?

Der menschliche Geist sehnt sich nach Antworten auf diese Fragen; einst schienen sie auch in Reichweite zu sein, aber heute scheinen sie nicht mehr greifbar.

Heute wird Wahrheit präsentiert wie eine Zirkusvorstellung mit zahllosen Nebenschauplätzen. Eine endlose Kakophonie von Ideen wird uns zur Zustimmung vorgeführt. Der Rand drängt den Kern zur Seite. Der Unsinn tritt ins Rampenlicht. Alle Meinungen und Gefühle sind akzeptabel, ein jeder wählt daraus, was er mag, denn das Publikum (die Gesellschaft) erkennt keine Wahrheit mehr als absolut an. Stattdessen gibt es Glaubensüberzeugungen a la carte, Realitäten nach Geschmack, Wahrheiten im Dutzend billiger.

Die Geschichte der Beziehung des Menschen zur Wahrheit hier in kurzem vollständig zu umreißen, ist unmöglich und sei es noch so allgemein. Wir können unmöglich alle Komplexitäten und Nuancen einer guten erkenntnistheoretischen Untersuchung abdecken. Doch wir können zumindest darin übereinstimmen, dass der Mensch immer nach Wissen gestrebt hat, immer auf der Suche nach den Antworten auf die großen Fragen war. Wir haben immer nach Wahrheit, Ordnung und dem Sinn des Lebens gesucht. Und wenn uns die Antworten, die wir fanden, nicht genügten, haben wir in alle möglichen neuen, kreativen Richtungen weitergesucht.

AUF DER SUCHE NACH WAHRHEIT

Im Mittelalter wollten die Menschen Gott betrachten, Gott studieren, seinen Willen, wie sie ihn verstanden, erkennen und erfüllen. Das Streben nach Wahrheit wurde eine Domäne der damals vorherrschenden Religion, des römischen Katholizismus. An die Stelle selbstbestimmten intellektuellen Forschens trat Gebet und die kirchliche Auslegung der Bibel. Die Kirche überschattete alles. Im Denken des durchschnittlichen Menschen gab es einen Gott, eine Kirche, eine Wahrheit.

Als Reaktion auf die Vorherrschaft und die empfundenen Exzesse der Kirche und des mittelalterlichen Systems kam allmählich eine Haltung des Säkularismus auf, die die direkte, private Beziehung des Einzelnen mit Gott wieder entdeckte. Gleichzeitig gab es eine Rückbesinnung auf das klassische Denken, und man begann, die Kirche in fast allen Belangen infrage zu stellen. Während dieser Zeit, den Anfängen der Renaissance („Wiedergeburt“), setzte die Verlagerung der Wahrheit von der Religion zur Wissenschaft ein. Bisher war Wahrheit immer in Beziehung zu etwas anderem bestimmt worden – Gott, universelle Intelligenz, Naturrecht, Vernunft oder Natur –; doch nun wurde der Mensch, mit dem griechischen Sophisten Protagoras gesprochen, „das Maß aller Dinge“.

Die Menschen begannen daraufhin die Welt auf eine neue Weise zu sehen. Francis Bacon ist einer der herausragenden Denker, die eine neue Richtung einschlugen. Er war zwar selbst kein Naturwissenschaftler, gilt aber dennoch als Vater der wissenschaftlichen Methode. Er sah in der Wissenschaft etwas viel Bedeutenderes als seine Vorgänger: einen Weg, das Dasein des Menschen zu verbessern. Die Erkenntnis der Wahrheit, einst das Vorrecht Gottes, der Kirche und möglicherweise des Königs „von Gottes Gnaden“, war nun in Reichweite für jedermann – Vernunft für das Volk.

Diese scheinbare Nuance hatte jedoch einen tief greifenden Wandel zur Folge. Die Welt wurde nunmehr durch die Augen der Wissenschaft gesehen. Das Recht, die Wahrheit zu bestimmen, wurde dem Himmel entrissen und dem Reich der induktiven, quantitativen Wissenschaft übergeben. Dieser empirische Ansatz ist die Grundlage unseres heutigen Denkens.

Ausgerüstet mit dem neuen Instrumentarium der Wissenschaft hofften die Menschen die Welt zu revolutionieren. Was aber folgte, war eine Serie von Revolutionen und Entdeckungen – und schließlich die Eroberung der Erde.

UNSICHERER BODEN

Die neue Methode wurde für alle Lebensbereiche angewendet und angepasst. Beginnend mit der wissenschaftlichen Revolution, dann durch das Zeitalter der Aufklärung und die Industrielle Revolution wurde die moderne Gesellschaft auf eine Grundlage der Wissenschaft und der aus ihr entwickelten Technik aufgebaut. Und die unsichtbare Hand des Kapitalismus finanzierte ihren unaufhaltsamen Aufstieg.

Als reine Hilfsmittel waren sie dem materiellen Fortschritt dienlich, doch als Grundlage aller Wahrheit reichten sie nicht aus. Weil es keine allgemein anerkannten Wahrheiten mehr gab, die uns binden konnten, verloren wir die Verbindung untereinander. Wir trieben in die Bedeutungslosigkeit ab, vor der wir einst Schutz gesucht hatten.

Friedrich Nietzsche, der letzte der großen deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts nach Hegel und Marx, stellte die definitive Behauptung auf, die dem Folgenden den Boden bereitete. Voller Verachtung für diejenigen, die versucht hatten, die Moral durch eine Abkoppelung vom Christentum zu säkularisieren, erklärte Nietzsche Gott für tot. Dies bedeutete den Tod der Wahrheit – insbesondere der Wahrheit jeder Autorität außerhalb des eigenen Selbst. Als das 20. Jahrhundert begann, sickerte Nietzsches nihilistisches Denken allmählich in die Gesellschaft ein. Was einst als unbegreiflich und absurd, ja skandalös gegolten hatte, wurde nun allgemein akzeptiert.

Verstärkt wurden seine Gedanken durch Charles Darwins Theorien über die Evolution. Die Vorstellung der „natürlichen Zuchtwahl“ stellte den Menschen in ein lineares, progressives Entwicklungsmodell; somit musste jede Veränderung infolge der aktuellen Gedanken und Strömungen positiv sein. Das bedeutete, dass der feste Boden immer mehr in Bewegung kam. Die Rechtfertigung unserer Überzeugungen lag nun in unseren eigenen Händen und bestand in nichts Substanziellerem als unseren Gefühlen und unserer persönlichen Befriedigung. Abgetrennt von klaren Grundlagen und weitgehend ohne Orientierung stochert die Menschheit seitdem überall nach ein paar Körnchen Wahrheit.

Die moderne Welt suchte wissenschaftlich nach Wahrheit. Der Modernismus verfügte über ein optimistisches Weltbild. Da die Modernisten glaubten, nur das existiere, was unsere Sinne wahrnehmen können, definierten sie die Wahrheit als das, was sie aus Erfahrung wahrnehmen konnten. Der Modernismus mit seinem bedingungslosen Glauben an objektive Realität sah Wahrheit als Ergebnis von Aussagen, die entweder bewiesen oder widerlegt werden konnten.

Dieses Gedankengebäude beruhte auf einer irrigen Annahme, dass der Mensch ein autonomes Wesen sei, seine eigene Autorität habe. Die Vorstellung, wir allein könnten Realität und Wahrheit bestimmen, machte Wahrheit zu etwas, das sich selbst legitimiert. Dies klingt inspirierend und spricht unsere menschliche Natur an, doch es ist keine wirklich gültige Formel, um alle Wahrheit zu erkennen.

Technologie, die angewandte Wissenschaft, sollte der Messias des 20. Jahrhunderts sein, doch für viele hat sich offenbar ihr Potenzial erschöpft, da sie das menschliche Dasein nicht verbessert hat, wie Francis Bacon hoffte. Das Problem ist, dass wir ganz natürlich enttäuscht, ängstlich und misstrauisch werden, wenn wir absoluten Glauben in etwas setzen, das per definitionem nicht absolut ist.

Doch statt zum Grundsätzlichen zurückzugehen und unsere Prämissen zu überdenken, sagen wir nun, dass niemand recht hat und dass alle recht haben. Das ist krassester Relativismus. Mit dem Verlust des Vertrauens sehen wir die Welt als Nebenprodukt vieler Realitäten und vieler Wahrheiten. Alles ist möglich, und nichts ist gewiss. Wahrheit ist nur ein Märchen. Sie ist nicht das Ziel, sondern ein Mittel zum Zweck. Diese Reaktion auf die übertriebene Zuversicht des Modernismus ist der Kern des Postmodernismus.

Der Managementguru Peter Drucker schrieb ein paar Jahre vor seinem Tod 2005, dass wir gerade den tiefgreifendsten sozialen Wandel seit Menschengedenken erleben würden. Leider haben wir in diesem unvergleichbaren Kulturwandel immer noch keinerlei Orientierungspunkte.

NICHT DENKEN – FÜHLEN

Wir können den Wandel nicht anhalten oder bremsen, aber wir können etwas finden, an dem wir uns festhalten können – einen Anker. Wahrheit ist ein solcher Anker. Doch wir ziehen Meinungen vor. Wir ziehen Standpunkte vor, die relative Werte zulassen, uns möglichst viel Spielraum lassen. Das Recht auf die persönliche Vorliebe bedeutet, dass wir nicht denken müssen. Wir müssen uns nicht unbeliebt machen. Wir können träge sein und es vermeiden, uns mit irgendetwas auseinanderzusetzen. Wir können es uns in unseren Gefühlen bequem machen. Wie Linus von den „Peanuts“ (Komikserie) sagte, als er seinen Glauben an den Großen Kürbis verteidigte: „Es ist egal, an was man glaubt, solange man aufrichtig ist.“ Das ist die beliebige, neutrale Auffassung von Wahrheit, die wir heute sehen.

Wenn man die postmoderne Gesellschaft ernst nimmt, muss man zu dem Schluss kommen, dass es so etwas wie einen allgemeinen, gesunden Menschenverstand nicht gibt, weil es keine allgemeine gültigen Gedanken, Gefühle oder Meinungen gibt, an die man appellieren könnte. Dieser Zustand führt zu Verwirrung und Konflikten.

Ohne eine Grundlage für die Wahrheit ist der höchste Wert, den eine Wahrheit haben kann, ihre Gefälligkeit und ihre praktische Brauchbarkeit – das Gefühl, das sie uns gibt. Dann müssen Gefühle und Meinungen über die Wahrheit gestellt werden. Und das haben wir getan.

Man könnte sagen, dass wir die Sprache der Wahrheit seit den 1970er­Jahren verloren haben. Doch der Mensch strebt nach Stabilität. Folglich hat sich die postmoderne Gesellschaft auf das Einzige zurückgezogen, das wir eindeutig feststellen können: unsere eigenen Gefühle (eine bestenfalls sich selbst widerlegende Position). In unsere eigenen Gefühle verliebt, streben wir nach widersprüchlichen Dingen. Wir sind zwar orientierungslos, wollen aber nicht, dass jemand uns zeigt, wo es langgeht. Wir wollen Gerechtigkeit, aber keine eindeutigen Werturteile. Wir wollen gute Ergebnisse, aber keine Disziplin. Wir wollen Liebe, aber wir sind egozentrisch. Wir wollen Toleranz, aber wir mögen eigentlich das Andersartige nicht. Wir wollen Einheit, aber wir wollen unsere Ruhe. Wir wollen Lösungen, aber nichts ist absolut. Wir wissen nicht einmal, wie man weiß, was man weiß.

David Henderson schrieb 1999 in Culture Shift: „Gefühle beherrschen unsere Welt. Sie haben unsere Sprache übernommen. Wir sagen »ich empfinde« statt »ich denke« oder »ich glaube«. Wenn wir eine Entscheidung zu treffen, eine Überzeugung zu verteidigen oder eine Handlung zu rechtfertigen haben, suchen wir die Bestätigung in unserem Gefühl. Wenn es dir damit gut geht, dann tu’s. . . . Nur wenige haben die Selbstbeherrschung, ihre Gefühle hintanzustellen und nach Überzeugungen zu leben. In einer Welt, in der es darauf ankommt, sich zu verwirklichen und sich auszuleben, wirken Selbstverleugnung und Selbstbeherrschung wie Antiquitäten.“ Und Henderson fügt treffend hinzu: „Warum sollte ich meinen Gefühlen misstrauen, wenn ich so hart daran gearbeitet habe, sie mir bewusst zu machen?“

Wir treiben in einer Flut von Emotionen und versinken in der Sprache des Selbst.

KULTUR DES ICH

Der Journalist und Schriftsteller Robert Hughes findet, dass wir erwachsen werden müssen. Sein Buch Culture of Complaint ist eine Anklage der amerikanischen Politik, Kunst und Kultur. Er schreibt: „Die Suche nach dem Inneren Kind macht sich gerade in dem Moment breit, in dem die Amerikaner sich darüber klar werden sollten, wo ihr Innerer Erwachsener ist und wie dieser missachtete Alte unter der Pop-Psychologie und der vordergründigen, kurzfristigen Befriedigung verschütt gegangen ist. . . . Wir schaffen eine verkindlichte Kultur des Jammerns, in der Big Daddy immer Schuld hat und die Ausweitung der Rechte ohne die andere Hälfte der Staatsbürgerschaft existiert – die Bindung an Verpflichtungen. Infantil zu sein ist eine regressive Abwehr gegen den Stress der Unternehmenskultur: Tretet nicht auf mich, ich bin verletzlich. Im Vordergrund steht das Subjektive: wie wir Dinge empfinden, statt was wir denken oder wissen können.“ Wiederum Gefühl vor Wahrheit.

Diese Lebenseinstellung herrscht auch in unseren Unterhaltungsmedien vor. Bob Pittman, der Gründungspräsident des populären MTV Network, sagte einmal: „Was wir mit MTV eingeführt haben, ist eine nicht-erzählende Form. . . . Wir sprechen Stimmungen und Gefühle an. Wir machen, dass man sich auf eine bestimmte Art fühlt, statt mit irgendeinem Wissen wegzugehen.“ Wen wundert da der aufrichtige Schluss, zu dem Popstar Sinéad O’Connor kam, nachdem sie eine recht unschöne Schlacht um das Sorgerecht für die dreijährige Tochter verloren hatte, die sie absichtlich von einem Mann zeugen ließ, den sie als völligen Fremden beschrieb: „Noch mal würde ich es nicht machen. Nicht weil es unmoralisch ist, sondern weil es stressig war.“ Und wir als Gesellschaft haben natürlich vollstes Verständnis.

Inzwischen haben wir sogar Angst, die Wahrheit zu sagen. Die Historikerin Gertrude Himmelfarb zitierte 1995 in ihrem Buch The De-moralization of Society den britischen Literaturkritiker Richard Hoggart, der über seine Heimatstadt geschrieben hatte: „In Hunslet, einem Arbeiterviertel von Leeds, in dem ich aufwuchs, sagen alte Leute als Richtschnur für das Leben noch die moralischen Regeln auf, die sie im Kindergottesdienst gelernt haben. Dann fügen sie heute fast immer hinzu: »Aber das ist natürlich nur meine Meinung.«“ Frau Himmelfarb kommentiert: „Das ist kaum ein mitreißender Glaube, nach dem man sein privates Leben ausrichtet.“ Wir haben nicht nur Angst, die Wahrheit auszusprechen, sondern wir finden sie oft anstößig, wenn wir sie hören. Wer die Wahrheit sagt, wird als brüsk, unhöflich und rücksichtslos bezeichnet.

Die Wahrheit ist zäh. Sie wird nicht wie eine Seifenblase zerbrechen, wenn man sich nur anrührt; vielmehr, man kann sie den ganzen Tag herumstoßen wie einen Fußball und sie wird am Abend immer noch rund sein.“

Oliver Wendell Holmes, The Professor at the Breakfast Table (1860)

Alarmierend an alledem ist nicht, dass diese Denkweisen eine Neuheit in der Menschheitsgeschichte wären – das sind sie nicht –, sondern dass sie mittlerweile unsere Gesellschaft durchdringen. Es sind nicht mehr bloß die Gedanken einiger weniger, die in ihrer sonderbaren Gelehrsamkeit vom Wege abgekommen sind, sondern sie sind in einem gewissen Ausmaß in das Denken jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes auf der Erde eingesickert. Sie sind unsere Kultur geworden.

Es wäre jedoch ein großer Fehler, dies als etwas abzutun, das uns einfach so zugestoßen ist. Wir haben uns entschieden, unserem tiefsten Wesen nachzugeben: dem Wunsch, uns selbst zur letzten Autorität zu machen. Und wir werden eine bewusste, ja sogar heldenhafte Entscheidung treffen müssen, dies zu korrigieren. Eine solche Entscheidung ist jedoch äußerst unbequem und unbeliebt.

WAHRHEIT UND KONSEQUENZEN

Warum entscheiden wir uns eigentlich nicht für die Wahrheit? Oder, anders ausgedrückt, warum fühlen wir uns nicht wohl mit einer einzigen wahren Antwort auf unsere tiefsten Fragen?

Es ist zweifellos richtig – in ihrer ganzen Geschichte ist die Menschheit von denen, die sich im Alleinbesitz der Wahrheit wähnten, in die Irre geführt worden. Von Weltreichen über die Kirche bis zum Nationalstaat haben sie die Wahrheit definiert und kontrolliert und, was vielleicht noch schwerer wiegt, auch die praktischen Anwendungen der Wahrheit kontrolliert: Moral, Ethik, Gerechtigkeit, Freiheit, Gesetze usw. Die Auslegungen dieser Aspekte der Wahrheit hatten verheerende Folgen für frühere Kulturen. Das Vertrauen der Gesellschaft wurde durch viel Falsches betrogen, das der Wahrheit beigemischt war. Deshalb lehnen heute viele die Existenz einer absoluten Wahrheit ab.

Die Wahrheit konfrontiert uns mit Dingen, mit denen nicht zu konfrontiert zu werden sicher leichter und jedenfalls bequemer wäre. Wahrheit führt zu Disziplin, Verantwortung, Charakter, Glauben und Prinzipien. Das sind wahrlich keine einfachen Herausforderungen, und die Wahrheit erlaubt uns nicht, sie unter den Teppich zu kehren.

Darüber hinaus verhilft uns Wahrheit zu Klarheit. Sie stellt Unsinn bloß. Sie klärt etwas auf, ohne dass wir uns vorher durch die ganze Gefühlsduselei hindurchwühlen müssen, um zum Kern der Sache zu gelangen. Als ein feststehender Punkt gibt sie uns Orientierung, trotz allem, was um uns herum ins Wanken geraten ist.

Aufgrund dieser Eigenschaften hat Wahrheit eine berechenbare Grenze. Wahrheit schneidet zwar manchmal „bis aufs Blut“, und wer ihr ausgesetzt ist, wird nicht selten verletzt. Doch gleichzeitig verpflichtet und stärkt uns die Wahrheit so, wie Meinungen und Gefühle das niemals können.

Der anfangs zitierte Humpty Dumpty möchte uns vormachen, dass es außerhalb dessen, was wir aus unseren eigenen Wahrnehmungen schaffen, keine Wahrheit gibt. Alice tat sicher gut daran, das anzuzweifeln, denn letztlich muss die Wahrheit aus einer einzigen Quelle kommen.

Im Johannesevangelium (Johannes 17, 17) sagt Jesus, dass die Bibel, Gottes Wort, Wahrheit ist. Heutzutage für viele eine gewagte und angezweifelte Aussage. Rudolf Bohren, Professor für Praktische Theologie hat schon in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts in Bezug auf viele Prediger das Dilemma aufgezeigt: „… Nachdem er den [biblischen] Text historisch-kritisch beerdigt hat, soll er ihn existenzial wieder auferwecken. Kein Wunder, wenn der Prediger hier verzweifelt und in vielen Fällen entweder das Predigen oder die Methode lässt.“ Für viele Menschen (Gelehrte wie Laien) sind die Bibel und Gott keine Hilfe, um Orientierung und Klarheit zu bekommen, manchmal sogar eher ein Ärgernis, das es zu meiden gilt. Man lässt sich nicht gerne sagen, was man tun sollte – auch wenn es von Gott kommt und zum eigenen Besten dienen soll.

Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit.“

Johannes 17, 17 (Luther-Bibel)

Es fällt uns Menschen ziemlich leicht, uns von der Wahrheit abzukoppeln und uns selbst ans Steuer zu setzen. Das Menü der Möglichkeiten ist ja vielfältig und verführerisch, andererseits aber auch ermüdend und entfremdend. Wir haben immer mehr Auswahlmöglichkeiten, finden aber trotzdem immer weniger Sinn. Wir triften im Meer der Meinungen wie ein steuerloses Floß. Gibt es wirklich eine universell gültige Wahrheit, durch die wir zusammenfinden können? Und ist sie durch unseren Schöpfer offenbart, wie die Bibel behauptet?

Auf jeden Fall brauchen wir einen klaren Ausgangspunkt, um unser Leben zu ordnen. Mit momentanen Gefühlen und Emotionen können wir keine dauerhaften Wegweiser etablieren. Ohne unumstößliche Wahrheit als ordnender Mittelpunkt wird es mit unserer Kultur mit Sicherheit weiter bergab gehen.

Diesen Niedergang können wir nicht aufhalten, wenn wir die Bibel auf traditionelle Weise betrachten. Der Umgang mit dem Wort Gottes in der Geschichte war mehr als fragwürdig. Überall auf der Welt findet man zwar Institutionen, die für die Legitimität der Bibel eintreten, die es aber trotzdem in vielfacher Weise versäumt haben, ihre praktische Morallehre unverdreht zu lehren und zu praktizieren. Leider haben manche dieser Institutionen die Bedeutung und Absicht der Bibel unvollständig und sehr oft sogar falsch und irreführend dargestellt. Es wundert infofern nicht, dass man im Allgemeinen dem Wort Gottes mit großer Skepsis gegenübersteht.

Die gesamte Bibel ist eine Einheit und muss als Ganzes gesehen werden. Ihre Wahrheiten wirken als integriertes System zusammen. Die biblische Lebensweise ist ein komplettes Programm, ein Lebensstil oder, wie es die Urkirche formuliert hat, ein Weg. Man kann biblische Wahrheiten nicht aus einzelnen, aus dem Zusammenhang gerissenen Versen formulieren – es muss alles, was Gottes Wort über ein Thema zu sagen hat, respektvoll und in genauer Abwägung dessen, was wirklich gesagt oder geschrieben wird, zusammengefügt werden.

Die „Religion“ hat sich zumeist nur stückweise aus der Bibel bedient und recht oft die Anweisung der Schrift durch vorgefasste Meinungen, Traditionen und Praktiken aus anderen Religionen ersetzt. Das Alte und Neue Testament warnt davor, Gottes Wort irgendetwas hinzuzufügen oder wegzunehmen.

Interessanterweise sagt die Bibel auch, dass das Verstehen der biblischen Lehre durch das Praktizieren als Lebensweise kommt. Wie viele Menschen haben die Seiten der Bibel wirklich aufmerksam und respektvoll gelesen? Und wenn ja, wie viele davon haben die Bibel für sich selbst sprechen lassen? Und wie viele sind einen Schritt weitergegangen und haben ihre Wahrheiten, Gedanken, Prinzipien und Gebote wirklich in ihrem eigenen Leben angewandt und erprobt?

Mitte des 20. Jahrhunderts schrieb der französische Schriftsteller Jacques Ellul: „Wir müssen zugeben, dass es zwischen dem, was wir in der Bibel lesen und den Praktiken der Christen eine unglaubliche Distanz gibt.“

Dem muss man angesichts der Realität zweifellos zustimmen – es scheint, dass seit dem Beginn des Christentums Grundlegendes und Entscheidendes verloren gegangen ist.Die Bibel ist tatsächlich das am meisten falsch zitierte und falsch verstandene aller Bücher. Viele Irrtümer wurden daraus abgeleitet, und vieles ist ungenau weitergegeben worden.

Sören Kierkegaard, der dänische Philosoph des 19. Jahrhunderts sagte: „Über die Jahrhunderte haben Millionen von Menschen Gott Stück für Stück aus dem Christentum hinausgeschwindelt.“ Eine schockierende Aussage – Kierkegaard ging sogar noch weiter und behauptete: „Das Christentum des Neuen Testamentes existiert ganz einfach nicht.“ (siehe unser Videomanuskript „Gott aus dem Christentum hinausgeschwindelt“ auf der Startseite, zweite Spalte.)

In den Seiten unserer Zeitschrift VISION und auf unserer Webseite finden Sie viele weitere Anleitungen, wie man in unserer modernen Zeit ein aufgeschlossenes, lebensnahes und doch ernsthaftes Christentum praktizieren kann, das versucht, in allen Dingen mit der Wahrheit, die letztlich nur von Gott kommen kann, übereinzustimmen.