Die Welt ist klein

Zum Gedenken an die Gründung des Internationalen Verbandes der Chemischen Gesellschaften und an Marie Curies Nobelpreis von 1911 haben die Vereinten Nationen das Jahr 2011 zum Internationalen Jahr der Chemie ausgerufen. Das Motto „Chemie – unser Leben, unsere Zukunft“ könnte bedeutungsschwerer sein, als die Sloganschreiber beabsichtigten: Nach einem Jahrhundert chemischen Herumexperimentierens gehen wir mit dem zweischneidigen Schwert unseres wachsenden Wissens immer kühner um. Wie könnten unsere Träume von einem synthetischen Utopia enden?

Es war einmal eine Zeit, da kam das Leben auf der Erde an einen kritischen Punkt: Es hatte seine Lebensgrundlagen aufgegessen. Die wachsende Erdbevölkerung hatte unwissentlich ihre Energieressourcen schneller verbraucht, als sie erneuert werden konnten. Das war die erste Umweltkrise. Hätte es damals Schlagzeilen gegeben (oder Augen, die sie lasen), hätten sie vielleicht ausgerufen: „Begraben im eigenen Abfall! Einzige Hoffnung: neue Nahrung durch ein Wunder!“

Zum Glück für uns alle (gemäß der Mainstream-Geschichte der Evolution) geschah dieses Wunder. Es hieß Fot[BP1]osynthese. Das erste Mal in der Geschichte des Lebens, dass ökologische Ursachen und Wirkungen nicht verstanden wurden, ist als heterotrophe Hypothese bekannt. Ihr zufolge waren die ersten bakterienähnlichen Zellen, die es vor fast vier Milliarden Jahren auf der Erde gab, Verbraucher – sie ernährten sich von den organischen Inhaltsstoffen der Ursuppe, in der sie schwammen. Natürlich war den Zellen nicht bewusst, dass diese Nahrungsressource nicht erneuerbar war, und es gab auch keine Umweltschutzorganisation, die auf die inhärenten Fehler ihres Systems hinwies. Wenn aus Nahrung Abfall gemacht wird und aus dem Abfall nie wieder neue Nahrung, dann braut sich Unheil zusammen. Aber wer wusste das?

Hätte es unter den Einzellern vor etwa 3,5 Milliarden Jahren so etwas wie einen Schreiber oder gar einen Ökologen gegeben, so hätte sich dieser vielleicht ganz ähnlich geäußert wie Barry Commoner in seiner Auseinandersetzung mit dem Überschreiten natürlicher Grenzen. Zeitgleich mit der ersten Feier eines Earth Day und dem Erwachen des Umweltbewusstseins schrieb dieser 1971: „Die gesamte Ausbeutungsrate des Ökosystems Erde hat eine Obergrenze. Sie entspricht der Grenze der Umsatzrate, die dem Ökosystem eigen ist. Wird sie überschritten, so treibt dies das System in den Zusammenbruch.“

Gerettet wurden jene ersten Organismen weder durch Wissen noch durch die Renaissance einer ökologischen Ethik; der Evolutionsgeschichte zufolge kam die Rettung in Gestalt einer biotechnologischer Revolution aus dem Nichts. Der neue chemische Prozess Fotosynthese brachte dem Planeten wundersame Veränderungen. „Die Welt wurde zu einem vernetzten Ganzen von Leben, Chemie, Ozeanen und Geologie“, schreibt der Paläontologe Richard Fortey über diese Erdepoche. „Das Leben machte die Erdoberfläche zu dem, was sie ist, während es ihr Mieter war.“

Die Fotosynthese war die Voraussetzung für eine neuartige Umwelt und gleichzeitig das biochemische Mittel, Kohlenstoff in die primitive Nahrungskette zurückzubringen. Mithilfe der Fotosynthese wird Kohlendioxid absorbiert und Zucker gebildet, das Kohlenstoffrückgrat des Energiehaushalts der Biosphäre. Als Abfallprodukt wird Sauerstoff freigesetzt. Es entstand ein Ökosystem gegenseitiger Abhängigkeit von Verbrauchern (die den Sauerstoff nutzen, um die Freisetzung von Energie aus Kohlehydraten zu steigern) und Erzeugern (die Kohlehydrate bilden).

Die Geschichte geht damit weiter, dass diese Veränderung in der Zusammensetzung der Atmosphäre dann zur Entstehung der Ozonschicht führte, die vor ultravioletter Strahlung schützt. Mit der Zeit bot dieser Filter genug Schutz für die Entstehung komplexerer Lebensformen. Vor rund 600 Millionen Jahren gab es so viele Mehrzeller, dass Fossilien von ihnen erhalten blieben. Die geheimnisvolle Erdepoche mit dem Namen „kambrische Artenexplosion“ hatte begonnen.

Aus evolutionärer Sicht beruht unser heutiges Dasein auf diesen frühen biologischen Ereignissen.

GEIST UND MATERIE

Im 18. Jahrhundert argumentierte der Chemiker William Prout (1785-1850), die Elemente folgten ihren eigenen wundersamen Regeln, um Leben zu ermöglichen. „Statt einander zu stören und zusammenzustoßen, wie man bei so vielen gegensätzlichen Elementen hätte erwarten können, [...] ist das allgemeine Ergebnis, dass letztlich alle zusammen den harmonischen Gleichgewichtszustand erreicht haben, [...] der sich so wunderbar für die Existenz organischen Lebens eignet.“

Diese Regeln, beharrte Prout, sind „dem Willen eines intelligenten und allmächtigen Schöpfers entsprungen. [...] Wenn wir so wunderbare Anpassungen sehen und in den Teilen der Schöpfung, die für uns verstehbar sind, solche Weisheit erkennen, können wir uns nicht vorstellen, dass das Wesen, das sie alle erschaffen hat, anders als mit Weisheit handeln würde.“ Wie der Prophet Jesaja viel früher schrieb: Der Schöpfer hat die Erde nicht geschaffen, damit sie ein Fehlschlag wird (Jesaja 45, 18).

Ob die biochemischen Anfänge des Planeten nun das Ergebnis von Planung oder Zufall sind – die historischen Einzelheiten sind noch immer unklar und werden intensiv beforscht. Die Rolle der Chemie – die chemische Grundlage des Lebens und der ökologischen Stabilität – ist unangefochten. Doch gibt es noch große Rätsel, allen voran die Frage nach dem Leben selbst. Wir mögen ein gutes Grundmodell des Atoms haben: Seine Protonen, Neutronen und Elektronen sind heute Grundschulstoff. Und Chemiker haben eine sehr gute Arbeitsvorstellung davon, wie Atome interagieren. Doch wie Fortey anmerkt: „Leben ist nicht nur eine Sache der Chemie; da arbeiten Moleküle zusammen, um ein Endprodukt zu bilden, das unendlich viel größer ist als die Summe seiner Teile.“

Kein Wirtschaftssystem der Gegenwart ist immun gegen tief greifende Veränderungen, wenn es die Umweltkrise in den Griff bekommen will. [...] Die eigentliche Frage ist, welche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung am besten geeignet ist, um als Partner in dem Bündnis mit der Natur zu dienen.“

Barry Commoner, The Closing Circle (1971)

Obgleich noch viel zu lernen bleibt, haben wir das, was wir wissen, für fantastische technologische Entwicklungen genutzt; im letzten Jahrhundert haben wir die Welt nach unseren chemischen Vorstellungen umgestaltet. Mit der Ausrufung des Internationalen Jahrs der Chemie 2011 (IJC) anerkennen die Vereinten Nationen das menschliche Genie, die chemische Basis unserer Welt zu verstehen und dieses Wissen konkret und praktisch nutzbar zu machen. Die Chemie (und natürlich auch die Physik, die die Regeln atomarer Strukturen beschreibt) ist zentral für den technologischen Fortschritt. Wie in einem Lehrbuch steht: „Das Studium der Chemie ist das Studium unserer Gesellschaft selbst. Die eine zu untersuchen, ohne die andere zu verstehen, bewirkt ein Vakuum der Unkenntnis der modernen Welt.“

DIE HERRSCHAFT DER CHEMIE

Das IJC basiert auf dem bahnbrechenden Jahr 1911, in dem es zwei historische Ereignisse gab. Erstens erhielt Marie Curie den Nobelpreis in Chemie. Sie hatte schon 1903 den Preis für Physik erhalten – als erste mit einem Nobelpreis ausgezeichnete Frau. Zwei Nobelpreise sind noch bemerkenswerter. Zweitens fand vor 100 Jahren der Conseil Solvay statt, das erste Physik-Symposion der Welt. Der belgische Industrielle Ernest Solvay lud die besten Physiker der Welt ein – alles, was Rang und Namen hatte, darunter Marie Curie, Albert Einstein, Henri Poincaré, Ernest Rutherford und andere. Seither finden die Conseils regelmäßig statt, und heute sind sie die vielleicht bekanntesten internationalen Konferenzen in Physik und Chemie.

Der für das menschliche Auge unsichtbaren Basis des Daseins war man allerdings schon lange vor 1911 auf der Spur. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam John Dalton zu einer grundlegenden Erkenntnis über die chemische Beschaffenheit von Stoffen: Physische Materie besteht aus kleineren Untereinheiten, die wie Bausteine zusammengesetzt sind. In gewisser Weise lässt sich alles – ein Stein, ein Baum, ein Mensch – auf eine Ansammlung chemisch unteilbarer Bestandteile zurückführen. Diese Elementarteilchen, die Atome selbst, bleiben erhalten und werden immer wieder verwendet. Die Wissenschaft Chemie untersucht, wohin sie gehen, wie sie interagieren und wie die Eigenschaften der einzelnen Stoffe sich verschieben und zu neuen Eigenschaften werden, wenn sie neue Verbindungen eingehen. Die große Welt besteht aus kleinsten Teilchen.

All diese Wechselwirkungen sind, wie Dalton entdeckte, messbar und vorhersehbar. Solche quantitativen Analysen sind das Herzstück der modernen synthetischen Welt. Wir katalogisieren unser chemisches Grundwissen im Periodensystem. Dieses war im späten 19. Jahrhundert ein wichtiger Durchbruch, und mit seinen 92 natürlichen Atomen enthält es sozusagen die Liste der Zutaten für ein Universum. Diese Tabelle aus kryptischen Buchstaben- und Zahlenkürzeln ermöglicht uns Vorhersagen. Alles, was materiell existiert, ist dort zu finden; hier kommen Mikro- und Makrokosmos zusammen. So, wie das Alphabet die Basis jedes in unserer Schrift geschriebenen Texts ist, stellt das Periodensystem die atomaren Grundlagen all dessen dar, was physisch existiert oder hergestellt werden kann.

Ein amerikanischer Sekundarschultext von 1921 fasst den Optimismus zusammen, der mit dem wachsenden Verständnis der Chemie einherging: „Uns ist die unabweisbare Pflicht zugefallen, die Veränderungen unserer nationalen Einschätzung von der Bedeutung der Chemie darzustellen, die der [Erste Weltkrieg] bewirkt hat. Dies bietet uns Gelegenheit, nicht so sehr die Schrecken von Giftgasen und verheerenden Sprengstoffen als vielmehr die konstruktive Wirkung der nationalen Erkenntnis zu schildern, dass wir unter dem Druck der Notwendigkeit unsere Bedürfnisse als Menschen selbst erfüllen können, und so die Tatsache zu unterstreichen, dass die Chemie ihr Potenzial, der Menschheit ein besseres Leben zu ermöglichen, noch nicht erschöpft hat.“

Die Schlussfolgerung des Autors drängt weiter in die Zukunft: „Wo ein chemischer Wille ist, da ist vielleicht auch ein chemischer Weg.“

UNSERE SYNTHETISCHE WELT

Die chemische Welt, die wir im Laufe des vergangenen Jahrhunderts geschaffen haben, ist ein Teil dessen, was das IJC feiert. Ohne das Wissen, wie Materie funktioniert – die Chemie der Stoffe und die Physik der Interaktion von Stoffen –, würde ein Großteil dessen, was uns heute umgibt, nicht existieren. Synthetische, d. h. von Menschen entwickelte Stoffe, die nicht in der Natur vorkommen, sind aus der modernen Welt nicht mehr wegzudenken. Würde alles entfernt, was aus Plastik, Polyester, Nylon, Mikrofasern, Glasfasern, Polyvinyl, Polyurethan und Epoxiden ist, so bliebe wenig übrig.

Auf lange Sicht arbeitet ,Fortschritt‘ gegen uns, wenn er weiterhin der Natur schadet.“ 

Angela Merkel: „The Role of Science in Sustainable Development,“ Science (Juli 1998)

Die chemische Signatur unserer Aktivitäten und tatsächlich allgemein des Lebens auf der Erde, hat das Potenzial, den Planeten zu verändern. Nur wurde unser Einfluss im Laufe des letzten Jahrhunderts sehr viel stärker. Macht das etwas aus? Die eigentliche Frage lautet, ob das Gewonnene die Kosten wert ist. Doch wir beginnen erst jetzt, die Kosten zu erkennen. „Alles muss irgendwo hingehen“, schrieb Commoner: Die Stoffe, die wir mit unserem chemischen Know-how schaffen, werden nie verschwinden. Eine Studie über den Mix aus über 100 flüchtigen organischen Verbindungen (FOV), mit dem Autos imprägniert werden, damit sie „neu“ riechen, kam 2006 zu dem Schluss: „Die Öffentlichkeit ist durch Reinigungsmittel, Schmiermittel und Treibstoffzusätze ständig in Kontakt mit einer großen Vielfalt potenziell schädlicher FOV. Angesichts der potenziellen Toxizität vieler dieser Verbindungen ist zusätzliches Wissen über die Mengen solcher organischen Verbindungen im Wageninneren erforderlich, um ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit festzustellen.“

Aufgrund von Erkenntnissen wie dieser wurde Herstellern gesetzlich vorgeschrieben, vor FOV und anderen schwach giftigen Stoffen, die ihre Produkte abgeben, zu warnen. Doch dass sie nun ein Schild anbringen, verringert weder die Toxizität noch verändert es die Praktiken. Oder haben wir es nur mit einer unnötigen Reaktion auf die immer größeren technischen Möglichkeiten zu tun, immer kleinere Mengen an Schadstoffen aufzuspüren? Werden durch die verbesserte Fähigkeit, verschiedene Chemikalien z. B. im Blut von Schwangeren zu entdecken, Gefahren erkannt?

So, wie das abschließende Urteil über die Ursachen des weltweiten Amphibiensterbens und des weniger weit zurückliegenden Massensterbens von Vögeln und Bienen noch aussteht, kann die Wissenschaft auch in einer Welt, die von synthetischen Stoffen durchsetzt ist, keine direkte Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung herstellen. Zwar werden einzelne Chemikalien auf ihre Schädlichkeit hin untersucht, doch die mögliche Wirkung von Kombinationen aus vielen Chemikalien ist noch unbekannt. Dies ist nicht unbemerkt geblieben. Angesichts der Größe des Problems sind besorgte Wissenschaftler allerdings skeptisch, es erfolgreich lösen zu können. Ein internationaler Bericht von 2009 gibt zu bedenken: „Den Untersuchungsbereich über einige gut erforschte Schadstoffe hinaus zu erweitern, würde erfordern, kritische Wirkungen jeder Chemikalie oder Chemikaliengruppe festzustellen; dies ist ein gigantisches Unterfangen, bei dem Schwellenwerte für Chemikaliengemische zu identifizieren wären – eine ebenso beängstigende Aufgabe („Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity“).

Obgleich schon so viel getan wurde, steht unsere technisch-chemische Innovation erst am Anfang. Die Industrie der synthetischen Chemie wird zu einer Industrie der synthetischen Biochemie. Der Wirtschaftszweig anorganische Chemie wird natürlich bestehen bleiben, doch am Horizont zeigt sich schon die neue Ära, in der lebende Substanzen verändert werden, um neue Chemikalien herzustellen. In einem Aufsatz von 2011, der in der Public Library of Science erschienen ist, bemerken Forscher der Princeton University: „Bis jetzt beruhten die meisten Forschritte in der synthetischen Biologie auf der Sammlung von Teilen – Genen, Eiweißen und regelnden Elementen – von Sequenzen, die in der Natur bereits existieren.“ Sie fragen: „Muss das Instrumentarium des Lebens so eingeschränkt sein?“

Derartige Äußerungen stellen einen interessanten Kontrast zu vorsichtigeren Stimmen dar. Die 29 Autoren von „Planetary Boundaries“ skizzieren in ihrem „Machbarkeitsnachweis“ neun Hauptfaktoren, die für das Gleichgewicht des Planeten Erde offenbar entscheidend sind, aber durch den handelnden Menschen unter Druck geraten. Mit einem Begriff, den der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen prägte, um das neue Zeitalter des menschlichen Einflusses auf die Erde zu bezeichnen, schreiben sie: „Das Anthropozän wirft eine neue Frage auf: Welches sind die nicht verhandelbaren planetarischen Voraussetzungen, die die Menschheit achten muss, um das Risiko einer schädlichen oder gar katastrophalen Umweltveränderung kontinentalen bis globalen Ausmaßes zu vermeiden?“

Inkrementelle Veränderung kann zu einem unerwarteten Überschreiten von Schwellen führen, welches das System Erde oder wichtige Untersysteme abrupt in Zustände treiben kann, die für das menschliche Wohl schädlich oder sogar vernichtend sind.“ 

Johan Rockström, et al., „Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity,“  Ecology and Society (2009)

Die Autoren glauben, dass die Überschreitung bestimmter Grenzen Folgen hat, die nicht leicht zu beheben sind; dies betrifft Kohlendioxid, Stickstoff, Phosphor, Ozon, Süß- und Salzwasser, das Land sowie pflanzliches und tierisches Leben. „Die Schwellenwerte bei zentralen Systemprozessen der Erde existieren unabhängig von menschlichen Vorlieben, Werten oder Kompromissen auf der Basis politischer und sozioökonomischer Machbarkeit.“

UNERWÜNSCHTE KONSEQUENZEN

In Die Logik des Misslingens, weithin als Klassiker zum Problem unbeabsichtigter Folgen angesehen, beschreibt Dietrich Dörner dieses Dilemma. Wenn wir eine Maßnahme bzw. einen bestimmten Plan ausführen, wäre es normal, sollte man meinen, die Ergebnisse zu überwachen. „Denn dann bieten auch die negativen Folgen von Maßnahmen zumindest die Möglichkeit zur Korrektur und sind insofern für die Organisation zukünftigen Verhaltens von allergrößter Wichtigkeit“ [S. 266 f.]. Doch so normal ist es vielleicht gar nicht – dies impliziert Dörners Zusatz: „Sollte man meinen!“ Doch warum lassen wir uns nicht auf eine verantwortungsvolle Nachsteuerung ein?

Eine Möglichkeit, negativen Folgen von Entscheidungen (und der Erkenntnis von Inkompetenz) aus dem Weg zu gehen, schreibt Dörner, ist so zu tun, als liege die Zukunft nicht mehr in unserer Hand, sobald eine Entscheidung zum Handeln getroffen ist – was als Nächstes geschieht, sei auf einem „ballistischen“ Kurs wie eine abgeschossene Kanonenkugel und nicht mehr steuerbar (im Gegensatz zu einer Rakete, deren Flug man berechnen, steuern, umlenken und sogar abbrechen kann). Bei der Planung und Durchführung von Maßnahmen gehen wir einfach davon aus, dass alles nach Plan läuft. Weiter schreibt Dörner: „Dies verwundert, da man eigentlich doch annehmen müsste, dass rationale und vernünftige Versuchspersonen, die in einer Situation stehen, die sie nicht voll durchschauen, jede Möglichkeit ergreifen, um sich selbst möglicherweise fehlerhafte Annahmen über das System, mit dem sie operieren müssen, vor Augen zu führen und ihr Verhalten dementsprechend ,nichtballistisch‘ zu korrigieren.“

Aber, so fährt er fort, „Wenn ich die Folgen meiner eigenen Handlungen gar nicht erst zur Kenntnis nehme, so bleibt mir die ,Kompetenzillusion‘! [...] Nach unserer Meinung spielt die Bewahrung eines positiven Bildes von der eigenen Kompetenz und Handlungsfähigkeit eine sehr große Rolle als Determinante der Richtung und des Ablaufs von Denkprozessen“ ?S. 269, 291?.

Dörners Ergebnisse sind besonders bedeutend im Zusammenhang mit dem Internationalen Jahr der Chemie und den positiven wie auch negativen Folgen der Technologie, die sich im Lauf des 20. Jahrhunderts angesammelt haben. In vielen uns bekannten Aspekten hat diese eine gewisse Verbesserung für das Leben fast aller Menschen auf der Erde bewirkt. Doch unser Wissen ist begrenzt. Und obgleich der Firnis technischer Modernität nicht sonderlich dick ist – für Milliarden von Menschen sogar sehr dünn –, bedeckt er doch die gesamte Erde.

Die Vorhersage negativer Technologiefolgen ist seit jeher das schwächste Glied in der Kette wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dieser Mangel führt entweder zu unerwarteten oder unerwartet schlechten Ergebnissen. Manchmal ist es eine Herausforderung, auch nur die tatsächliche Natur der Negativfolgen zu erkennen. Ist die durch den Menschen verursachte Klimaerwärmung politischer Popanz oder echter Anlass zur Sorge? Verliert sich die Alchemie synthetischer Chemikalien, die wir schaffen und freisetzen, in den unendlichen Weiten „da draußen“, oder tragen wir unabsichtlich dazu bei, dass sich das natürliche Gefüge der Biosphäre selbst auflöst? Wie bei einer Konferenz an der Stanford University im April 2011 gefragt wurde: „Wie können wir die einzelnen Punkte zu einem Bild verbinden?“

Die National Academy of Sciences fasst die wachsende Besorgnis zusammen: „Ökosystemische Dienste sind die Vorteile, die Ökosysteme bewirken, und sie entstehen durch Interaktionen von Pflanzen, Tieren und Mikroben miteinander sowie mit der Umwelt. Veränderungen der Artenvielfalt, Fragmentierung und Umnutzung von Lebensräumen, Veränderungen biogeochemischer Zyklen und Klimawandel haben Auswirkungen auf die Erbringung ökosystemischer Dienste. Das komplexe Geflecht der Beziehungen zwischen menschlicher Zivilisation und den ökosystemischen Diensten, auf denen sie beruht, ist der Kern ökologischer Nachhaltigkeit.“

HEUTE HIER, MORGEN DORT

Durch die Komplexität der Situationen, die wir schaffen, werden wir oft ratlos gemacht oder ausmanövriert. „Wir berücksichtigen die Ablaufcharakteristika der Ereignisse gewöhnlich nur unzulänglich“, schreibt Dörner. „Was wir gestern taten, liegt in der Dunkelheit der Vergessenheit, und was wir morgen tun sollen, liegt in der Finsternis“ [S. 14]. Evolutionär denkende Psychologen könnten argumentieren, dass die natürliche Selektion uns mit einer sehr kurzen Aufmerksamkeitsspanne geschaffen habe; unser Handeln sei auf unmittelbare Belohnung oder Strafe ausgerichtet. Laut Dörner ist Denken „auch immer eingebettet in das Wert- und Motivsystem einer Person. Man denkt meist nicht nur einfach so, sondern um bestimmte Ziele zu erreichen, die sich aus dem Wertesystem oder aus der aktuellen Motivation eines Individuums ergeben“.[BP2] Wenn wir bei der Lösung von Problemen scheitern, sei nicht eine grundsätzliche Fehlerhaftigkeit unseres Gehirns die Ursache, sondern wir hätten einfach schlechte Angewohnheiten entwickelt: „In Wirklichkeit liegt das Scheitern daran, dass wir dazu neigen, hier diesen, dort jenen kleinen Fehler zu machen, und in der Addition kann sich das häufen.“[BP3] Das Problem ist natürlich, dass wir nicht merken, wie sich die Fehler häufen, ehe die Katastrophe da ist.

Wenn sich ein Problem zeigt, analysieren Ingenieure die Fehlerkette und sammeln die Trümmer ein, um die Abfolge des Störfalls zu rekonstruieren. Der Absturz der Raumfähren Challenger und Columbia, die Kernschmelze von Tschernobyl und die Explosion der Deepwater Horizon sind nur die auffälligsten Ereignisse (unter vielen subtileren Störfällen), die uns vor Augen geführt haben, dass wir Dinge, die wir geschaffen haben, längst nicht (mehr) steuern konnten.

Jeder Autofahrer weiß, dass er eine Katastrophe provoziert, wenn er schneller fährt, als es die Sichtverhältnisse erlauben. In diesem Internationalen Jahr der Chemie sollten wir bedenken, dass das, was wir nicht wissen, uns schaden kann, und dass eine nonchalante Haltung in der Tat riskant ist; die allgegenwärtige Durchsetzung der natürlichen Welt mit unseren synthetischen Stoffen hat unvorhersehbare Folgen. Anzunehmen, dass schon alles gut wird, weil ich für den Augenblick zufrieden bin, ist gefährlich.

ZU KOMPLEX FÜR VORAUSSAGEN?

Die Grundprinzipien, die die Erde regeln, sind gesichert und generell von allen Wissenschaftlern anerkannt“, konstatieren die Autoren von Natural Capitalism: Creating the Next Industrial Revolution. Dennoch hat dieser Konsens, wie sie feststellen, keinerlei Einigkeit darüber gebracht, was nun zu tun ist. Was müssen wir angesichts unseres Wissens tun? Sie fahren fort: „Zwar kann man in einen Buchladen gehen und Bücher finden, die die Dogmen, Prinzipien und Regeln für alles angefangen von Golf und Domino über Steuern und Judo bis hin zum Krieg erklären, doch eine Betriebsanleitung für das Leben und Handeln auf der Erde – dem wichtigsten und komplexesten System, das wir kennen – gibt es nicht.“

Am hilfreichsten und effektivsten wäre natürlich eine Linse, durch die man den besten Weg in die Zukunft sehen könnte; so würde man Fehler von Anfang an minimieren und sie früh erkennen, wenn man vom Weg abkäme. „Effektiv“ würde in diesem Zusammenhang auch „nachhaltig“ bedeuten – gut auf lange Sicht.

Dieses Problem, dass die langfristige Perspektive nicht verstanden wird, durchzieht die gesamte Menschheitsgeschichte; es ist seit dem Garten Eden unsere Achillesferse. Wissen hat Konsequenzen. Es liegt in unserer Natur, dass wir Wichtiges falsch beurteilen und kurzfristige Vorteile über langfristige Folgen stellen. Dies sind spirituelle Fehler, nicht nur ein Mangel an Vernunft, Wissen oder Logik. Folglich würden spirituelle Prinzipien den Weg, den wir suchen, erhellen. (Siehe Artikel: Vorsorgeprinzipien.)

Die Geschichte der ersten Bakterien zeigt, dass im Betriebssystem der Erde die Chemie des Lebens selbst eine Rolle spielt; auch auf die ganz kleinen Dinge kommt es an. Der Meinung vieler Wissenschaftler nach wurde jene frühe Umweltkrise auf wundersame Weise durch die Evolution gelöst. Gewiss offenbart alles, was wir heute wissen und in der Welt erfahren, dass alles Leben in einem komplexen chemischen Gleichgewicht mit dem Planeten Erde existiert. Dennoch haben dieselben Wissenschaftler weit weniger Vertrauen, dass der evolutionäre Prozess heute wieder eingreift und uns rettet – eine vielleicht nicht ganz schlüssige Haltung. Der Ökologe Tim Flannery kommt in seinem Buch Here on Earth zu dem Schluss: „Die Wahrheit ist, dass keine andere Spezies Umweltprobleme wahrnehmen oder korrigieren kann, was bedeutet, dass die Verantwortung für diese von uns geschaffene Welt der Wunden allein bei uns liegt.“

Zu Nachhaltigkeit in Produktion und Verbrauch gehören neben technischem Fortschritt auch kulturelle Muster persönlicher Verhaltensweisen und Werte.“

Angela Merkel: „The Role of Science in Sustainable Development,“ Science (Juli 1998)

Was uns das Internationale Jahr der Chemie lehrt, ist einfach: Wir müssen uns als Individuen wie auch als Kollektiv achtsam verhalten. Am großen Ganzen gemessen – dem weiten Universum mit seinen zahllosen Galaxien und Planeten –, ist unser Einflussbereich recht klein. Doch auf dieser einen Erde ist unser Einfluss entscheidend. Sicher sind unpersönliche Omega-Ereignisse wie Asteroideneinschläge, Zusammenbrüche von Sternen oder tektonische Katastrophen möglich, während die menschliche Bevölkerung wächst und ihr ökologisch-chemischer Einfluss dementsprechend zunimmt – doch es sind die kleinen, persönlichen Entscheidungen, die wir treffen, die in ihrer Gesamtheit über den Fortbestand der Menschheit entscheiden werden.

Die Welt ist wirklich klein.