Infektionskrankheiten – Keime sind nicht alles

Der letzte der vier apokalyptischen Reiter sitzt auf einem fahlen Pferd, das Krankheit und Seuchen symbolisiert – Leiden, die die Menschheit seit Jahrtausenden heimsuchen. Einst wurden sie als Strafe Gottes gedeutet, doch heute kommt man kaum mehr um die Erkenntnis herum, dass wir dabei selbst eine Rolle spielen.

Als Captain Cook in den späten 1770er-Jahren auf den Hawaii-Inseln landete, empfingen ihn die Eingeborenen als Lono, ihren Gott des Friedens und der Fruchtbarkeit. Sie begrüßten ihn mit verschiedenen Arten von Fleisch und tropischen Früchten als Opfergaben. Cook und seine Männer gaben den Hawaiianern Spiegel und Stoffe. Außerdem brachten sie ihnen Syphilis, Tripper, Tuberkulose und Grippe mit.

Für die Eingeborenen war der Kontakt mit diesen fremdartigen Keimen, gegen die sie keine angeborene Immunität besaßen, apokalyptisch. Bis zu den 1850er-Jahren hatten die Epidemien, die den Besuchen von Cook und anderen folgten, die eingeborene Bevölkerung von ursprünglich über einer halben Million auf weniger als 90 000 dezimiert.

Rätselhafter Tod

Infektionskrankheiten waren bis in die jüngere Geschichte ein großes Rätsel. Zwar gibt die hebräische Heilige Schrift Anweisungen zu Quarantäne und Hygiene, doch erst vor relativ kurzer Zeit hat die Naturwissenschaft die Grundtechniken der Hygiene identifiziert und von da an empfohlen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde zum Beispiel klar, dass eine der frühesten und gängigsten Anweisungen an Kinder aus naturwissenschaftlichen Gründen sinnvoll ist: „Hände waschen!“

Vom Augenblick seiner Geburt bis zum Augenblick seines Todes unterliegt der Mensch den Aktivitäten zahlreicher Mikroben.“

Selman Waksman, Danksagung anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Medizin, 10. Dezember 1952

Ehe Joseph Lister, Louis Pasteur und Robert Koch die Keimtheorie der Infektion entwickelten, hielt man Erkrankungen größtenteils für etwas Spontanes. Hände, Flächen oder chirurgische Instrumente zu reinigen erschien bis dahin überflüssig. Die Ausbreitung von Krankheiten war üblich, galt in gewisser Weise sogar als Normalfall; wenn in einem Krankenhaus alle Patienten gestorben waren, bestand die Lösung darin, es abzureißen und neu zu errichten, sobald das Miasma, die giftige Ausdünstung, verflogen war. Von dieser Zeit war es ein langer Weg bis zur Entwicklung des Desinfektionsmittels Listerine, der Pasteurisierung und Kochs Zuordnung von Keimen zu spezifischen Krankheiten. Davor war alles ein Rätsel.

So ist es leicht zu verstehen, dass das sporadische Auftreten von Krankheiten und Epidemien sowohl für den einzelnen Menschen als auch für ganze Völker eine verwirrende Herausforderung war. Warum wird der eine krank und der andere nicht? Woher kommen Seuchen? Was haben wir getan, um sie zu verdienen? Man bemühte die Vernunft, die Religion und die Fantasie, um Antworten zu finden. Viele Menschen fragten, ob etwas, das „in den Sternen steht“, Seuchen verursachte. 

Geißeln Gottes 

Weil die Bildersprache der Bibel von 1. Mose bis Offenbarung oft auf Himmelskörper als göttliche Zeichen verweist, war es verlockend, diese als Vorboten irdischer Katastrophen zu missdeuten. Astrologen suchten nach Mustern, die sich wiederholten, brachten sie mit außergewöhnlichen Ereignissen wie Sonnen- oder Mondfinsternissen und Kometen in Verbindung und rührten daraus unsichere Zukunftsvorhersagen zusammen. Letztlich waren sich jedoch alle einig, dass Gott die primäre Ursache sei, und schlossen daraus, dass, was auch immer kommen würde, das Urteil Gottes sei.

Die Bibel selbst schien diesen Schluss zu bestätigen. Es war zum Beispiel eine richtige Auslegung, dass der Auszug aus Ägypten und die Plagen, die Ägypten heimsuchten, Gottes Werk waren (2. Mose, 7–11). Später warnte Jeremia Israel vor dem Zorn des Herrn durch „Schwert, Hunger und Pest“ (Jeremia 14; alle Bibelzitate Luther-Bibel 1984). Dementsprechend verwundert es nicht, dass der Schwarze Tod – die Beulenpest des 14. Jahrhunderts – ebenfalls als Strafe Gottes verstanden wurde, das An- und Abschwellen von Seuchen aller Art als Vergeltung an der sündigen Menschheit.

Das fahle Pferd aus Offenbarung 6, 8, das oft mit dem stets nahen Ende der Zeit assoziiert wurde, lief seine Bahnen jedoch über mehrere Jahrhunderte. Zwischen 1348 und 1665 gab es in ganz Europa über 40 Pestepidemien. Wir als Nachkommen der Überlebenden tragen offenbar bestimmte Gensequenzen in uns, die uns gegen diese Bakterien resistent zu machen scheinen. Heute kann man neben den kulturhistorischen Zeugnissen der Ausbrüche auch anhand des Genoms der Lebenden und Toten nachvollziehen, welche Wege das Bakterium von Europa und Asien und wieder zurück nahm. Die Geschichtswissenschaftler Andrew Cunningham und Ole Peter Grell merken an: „In einer Welt, wo die Lebenserwartung etwa 35 Jahre betrug, bedeutete dies, dass es während der Lebenszeit der meisten Menschen zu einem europaweiten Ausbruch kam.“

Während einer Pestwelle im Jahr 1563 schrieb der Erzbischof von York und Canterbury, Edmund Grindal: „So sollten wir, eingedenk dass Gott dazu gereizt wurde, uns in dieser unserer Zeit mit der Pest und anderen schweren Krankheiten heimzusuchen, […] ernstlich und von Herzen zu Gott beten, dass Er Seinen verdienten Zorn von uns abwende, und dass Er uns sowohl die Gesundheit unseres Leibes durch die Gesundheit der Luft als auch gottgefälligen Frieden und Ruhe wiedergebe.“ Grindal glaubte, Krankheit sei Gottes Wirken, um uns „zum Gedenken an Seine Gerechtigkeit und Sein Urteil wie auch an unsere eigene, elende Schwäche und Sterblichkeit“ zurückzubringen.

Obgleich die biologischen Ursachen von Infektionskrankheiten inzwischen sehr detailliert erforscht sind, betrachten viele Menschen das weltweite Seuchenpotenzial von Mikroben noch heute als Gottes latenten Zorn, der auf den sündigen Menschen wartet.

Was sagt der nicht enden wollende Kreislauf von Seuchen über den Menschen aus?

Von der Theologie zur Ökologie

Wie in den Blütezeiten solcher Inbrunst verfällt man auch heute leicht in den Glauben, moderne Seuchen zeigten das nahe Ende an, etwa so, wie der Tod eines unter Tage mitgenommenen Kanarienvogels den Minenarbeitern einst giftige Gase anzeigte. Es ist noch nicht lange her, dass der Begriff HIV/AIDS mit Sünde gleichgesetzt und damit als sichtbares Zeichen für den moralischen Niedergang gedeutet wurde.

Doch eine Seuche ist kein Geist und auch kein Dunst, kein Miasma und keine mysteriöse Kraft. Sie ist etwas Biologisches – ein Bakterium, eine Spore, ein Virus. Und wie alles Biologische hat sie ein Grundprinzip und spezifische Strategien, nach denen sie mit anderen lebenden Organismen interagiert, zum Beispiel, um einen Menschen zu infizieren. Wie Jared Diamond in Guns, Germs, and Steel erklärt, braucht eine Krankheit neue Menschen, um sie zu infizieren. Doch wenn diese Strategie aufgedeckt ist, wer ist dann verantwortlich für die Ausbreitung der Krankheit – die Mikrobe oder der betroffene Mensch?

Dieser Kampf zwischen Mikrobe und menschlichem Wirt hat wahrlich große und tragische Verluste gefordert. „Der sogenannte Schwarze Tod brach 1347 in Europa aus“, schreibt Martin J. Blaser, Direktor des Human Microbiome Program an der New York University, „und innerhalb eines Jahrzehnts löschte er ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung aus. Einmal ausgebrochen, konnte er auch ohne Ratten um sich greifen, da infizierte Flöhe von einem Menschen zum anderen sprangen und an Lungenpest Erkrankte andere anhusteten.“

Der wahre Schuldige war jedoch nicht das Bakterium, sondern der Schmutz und die drangvolle Enge, in denen die Masse der Bevölkerung lebte; das war der Auslöser der europaweiten Epidemie. Infektionskrankheiten sind nicht der Zorn Gottes – AIDS beispielsweise ist eine direkte biologische Folge des Kontakts mit oder des Verzehrs von Menschenaffen als „bushmeat“ (Buschfleisch), der Mutation von Viren und der uneinsichtigen Fortsetzung schädlichen Handelns. Der Schuldige ist das Verhalten des Menschen, die wahre erste Ursache dieser modernen Seuche. Dasselbe lässt sich über die meisten anderen Infektionskrankheiten sagen, die wir fürchten.

Wie Blaser anmerkt, wurde ein Ausbruch in jüngerer Zeit durch menschliche Unredlichkeit begünstigt: „Im Jahr 1993 brach in Kinshasa (Zaire) die Pest aus. Jahrelang herrschten Krieg und Korruption, und die Regierung druckte Geld. Die Folge war galoppierende Inflation. Die Menschen kauften heute, was sie bekommen konnten, weil es morgen mehr kosten würde. So speicherten sie eine Menge Getreide. Damit hofften sie zu überleben, doch es zog Ratten an, und durch sie wurde die Pest in viele Häuser eingeschleppt.“

Eine weitere gut erforschte Krankheit ist die Cholera. Sie wird von einem Bakterium ausgelöst und verursacht Erbrechen und Durchfall bis zum Tod durch Dehydrierung. Dass diese Seuche mit verunreinigtem Wasser in Verbindung steht, war bekannt, als die Manhattan Company New York City mit Wasser belieferte, das aus der Kanalisation des berüchtigten Slums Five Points stammte. Die darauf folgenden Epidemien, die 1832 begannen, waren absolut vorhersehbar, und ihre wahre Ursache war ökonomischer Natur: Es war profitabler, Wasser aus der Senkgrube zu entnehmen, statt es aus dem Fluss abzuleiten.

Die Wissenschaftsautorin und investigative Journalistin Sonia Shah bemerkt: „Die Virulenz sogar eines Krankheitserregers, der eine Pandemie auslösen kann wie Vibrio cholerae, hängt ausschließlich von seinem Kontext ab. Im Körper ist er ein Krankheitserreger; wenn er in einer warmen Flussmündung schwimmt, ist er ein produktiver Bestandteil eines harmonischen Ökosystems. Und seine Verwandlung von einer harmlosen Mikrobe zu einem virulenten Krankheitserreger hat viel mit unserem eigenen Handeln zu tun. Wir selbst haben ihn zu einem Feind gemacht.“

Entwurzelung, Migration, katastrophale Hygiene: All dies wird durch Politik verursacht, und all dies bietet Infektionskrankheiten beste Chancen, sich wieder auszubreiten und das Ihre zu der Verwüstung beizutragen.“

Anne Hardy: „Book Review: The Politics of Emerging and Resurgent Infectious Diseases“, The New England Journal of Medicine (8. November 2001)

Wie ein Rennpferd wird das fahle Pferd der Offenbarung durch unser eigenes Tun angetrieben. Wenn ein Baby schreit, gibt man nicht ihm die Schuld, sondern sucht nach der Ursache seines Problems. Hier stellen wir fest, dass es der Faktor Mensch ist, der Infektionskrankheiten entweder begünstigt oder ihnen Einhalt gebietet. Wir haben es mit einer Störung der Ökologie, des Beziehungsgefüges zu tun, nicht nur mit einer medizinischen Herausforderung. Weil es der Mensch ist, der den vierten apokalyptischen Reiter vorantreibt, ist das Problem Seuchen nicht unlösbar.

Das Gleichgewicht finden 

Der vierte Reiter macht die treibenden Kräfte menschlichen Leids und Kummers vollständig: falsche Messiasse, die das Schwert des Krieges schwingen, einander sinnlos abschlachten für weltlichen Gewinn; Seuchen, die unsichtbare Ansteckung, die einsickert, um uns scheinbar ohne Anlass zu schlagen; unberechenbare „wilde Tiere“, Störungen des natürlichen Gleichgewichts, die uns lähmen; und schließlich die nie endende Angst des Menschen: der Tod selbst (Offenbarung 6, 8b).

In einer künftigen Zeit, so versichert unser Schöpfer, wird alles wieder gut: Der Tod wird endlich nicht mehr sein. „Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“ (Offenbarung 21, 3–4).

Die Dinge, die wir jetzt fürchten – die Kriege, Hungersnöte und weltweiten Seuchen der menschlichen Geschichte –, werden eines Tages beseitigt werden. Nicht durch ein magisches Eingreifen oder eine Wesensänderung Gottes, als wäre Gott ihre Ursache. Weil diese Dinge Auswirkungen unseres Wesens sind – unserer Art, mit der Welt und unseren Beziehungen umzugehen –, muss der Ort der Veränderung in uns sein. Nicht dass wir uns „die Hände waschen“, wird den Ausschlag geben, sondern dass wir uns das Herz waschen (Matthäus 15).

Es gibt keinen Zweifel daran, dass Mikroben die menschliche Geschichte beeinflusst haben und weiter beeinflussen werden. Sie sind in vielfacher Hinsicht eine Kraft, mit der man rechnen muss. Manchmal ist es das Beste, diese Organismen auszumerzen – zum Beispiel im Trinkwasser oder bei Operationen. In anderen Situationen, etwa in unserem Verdauungssystem, gibt es dagegen Wechselwirkungen zwischen unserem inneren Mikrobiom und unserer äußeren Gesundheit, über die wir mehr wissen müssen. Und je mehr wir wissen, desto mehr Verantwortung haben wir.

Der wichtigste Faktor ist deshalb nicht das Wissen, sondern das Gewissen. „Das Engagement von Epidemiologen, Forschern und Menschen in Heilberufen kann niemals gegen die größeren – und gegenläufigen – Kräfte ausreichen, die nach wie vor dafür sorgen, dass ein so großer Teil der Menschheit in krasser Not gefangen bleibt“, schreibt Jim Whitman, Herausgeber von The Politics of Emerging and Resurgent Infectious Diseases. „Infektionskrankheiten sind gleichermaßen soziale wie mikrobielle Phänomene; vor ihnen Schutz bereitzustellen und gleichzeitig den Millionen aktuell Betroffener Besserung zu verschaffen ist Aufgabe der Politik ebenso wie der Medizin und der Wissenschaft.“

Zwischen Keimen und dem Menschen gibt es ein Gleichgewicht; alles Leben auf der Erde ist miteinander verbunden. Seuchen, Krankheit und Tod sind Folgen von Störungen des Gleichgewichts, die wir zum großen Teil selbst verursachen und unter deren Folgen wir dann leiden. Seuchen sind nicht einfach Wechselfälle der Natur; sie sind Auswirkungen menschlichen Handelns, selbst wenn dieses Handeln zunächst in Unwissenheit geschah.

James Cook konnte nicht vorhersehen, was sein Werk anrichten würde. Aber es ist nicht leicht, heute weiterhin unwissend zu sein.