Kindersoldaten – die Jugend wiederfinden

Michael Wessells hat sein Leben der Aufgabe gewidmet, diesen Kindersoldaten die Rückkehr von der Gewalt in friedliche, altersgerechte zivile Rollen zu ermöglichen. In seinem Buch Child Soldiers: From Violence to Protection (2006) drängt er dazu, diese Kinder nicht als unwiederbringlich „beschädigt“ zu betrachten, sondern als potenziell konstruktive Mitglieder der Gesellschaft. Wessells ist Professor für Psychologie am Randolph-Macon College in Ashland, Virginia (USA), Professor für Klinische Volks- und Familiengesundheit an der Columbia University in New York und Seniorberater des Christian Children’s Fund für Kinderschutz.

Michelle Steel sprach für Vision mit Michael Wessells über seine wichtige Arbeit und die immensen Herausforderungen für diese Jungen und Mädchen, deren Kindheit durch solche Erlebnisse abrupt beendet wurde.

 

MS Wie begann Ihr Engagement für Kindersoldaten?

MW Vor etwa 20 Jahren begann ich, Themen im Zusammenhang mit Jugend und Gewalt zu erforschen. Ich hatte in Palästina gearbeitet und war dort zahlreichen jungen Menschen begegnet, die verhaftet, interniert oder gefoltert worden waren, oder deren Geschwistern das zugestoßen war. Diese Erlebnisse führten mich zu der Erkenntnis, dass heute in den meisten Konfliktsituationen weltweit Zyklen der Gewalt ablaufen. Es ist nicht so, dass es einen Krieg gibt, der einen genau definierten Anfangs- und Endpunkt hat. Etwa die Hälfte der bewaffneten Konflikte, die es zu irgendeinem Zeitpunkt gibt (und in der Regel sind es zwischen 25 und 40 weltweit), dauert zehn Jahre oder länger. Das bedeutet, dass ganze Generationen mit Gewalt und bewaffneten Konflikten als Teil ihrer täglichen Realität aufwachsen. Damals hatte ich mich noch nicht wirklich dafür engagiert, Kinder politisch zu resozialisieren, alternative Lebenschancen für sie zu schaffen und dadurch die Gewaltzyklen brechen zu helfen. Doch wir werden diese Zyklen nicht brechen können, wenn wir nicht genau das tun. Deshalb beschloss ich, Kindern beim Ausstieg aus bewaffneten Gruppen und beim Übergang in das zivile Leben zu helfen, gleichzeitig aber auch präventiv zu arbeiten.

Um die Mitte der 1990er-Jahre begann meine Zusammenarbeit mit dem Christian Children’s Fund in Angola, wo fast 40 Jahre lang ein Bürgerkrieg gewütet hatte. Eine große Zahl Kinder war von bewaffneten Gruppen eingezogen worden, sowohl vom staatlichen Militär als auch von den Widerstandsgruppen der UNITA. Als wir mit der Arbeit begannen, wurde uns klar, dass sie ungeheuer komplex ist, doch wir stellten fest, dass wir helfen konnten, indem wir bestimmte Elemente und Prozesse entwickelten.

MS Was für Elemente sind das?

MW Die meisten klinischen Psychologen mit westlicher Ausbildung neigen dazu, wenn sie Kinder sehen, die verschleppt und zum Töten gezwungen wurden oder die Morde, Folter und Bombenangriffe miterlebten, primär an posttraumatische Stressstörungen, Depressionen, Angst und andere damit verbundene Leiden zu denken. Für manche Kinder mag dies durchaus zutreffen, insbesondere in westlichen Gesellschaften, aber dabei werden einige der wichtigs-ten Aspekte in den Entwicklungsländern übersehen.

In Angola war z. B. ein 14-jähriger Junge, der viele Symptome einer posttraumatischen Stressstörung hatte, aber behauptete, der Grund seiner Schlaflosigkeit sei der Geist des Mannes, den er getötet hatte; er sei zu ihm gekommen und habe gefragt: „Warum hast du mir das angetan?“ In seiner Glaubenswelt wurde er von einem zornigen Geist heimgesucht, der ihm, seiner Familie und seiner Dorfgemeinschaft unmittelbaren Schaden zufügen konnte. Dies war sicher kein Problem von der Art, das man mit Beratungsge-sprächen oder irgendeiner westlichen Therapieform in den Griff bekommt. Deshalb arbeiteten wir mit den einheimischen Heilern zusammen. Wir erkannten, dass einheimische Ressourcen vorhanden waren und genutzt werden sollten, um die Wiedereingliederung zu unterstützen.

Ein anderes wirklich wichtiges Element ist die Familienzusammenführung. Nicht alle, aber die überwältigende Mehrheit der rekrutierten Kinder wurde von der Familie getrennt. Da gilt es zu dokumentieren, zu identifizieren und nachzuforschen – eine Menge Arbeit.

MS Können Sie einige der Herausforderungen erklären, die damit verbunden sind?

MW Es gibt schwieriges Gelände, die Straßen sind schlecht, es gibt massenhaft Landminen – Sicherheit und Logistik beinhalten also schwerwiegende Probleme. Die neu etablierte politische Ordnung kann unter Umständen schwach sein. Doch es ist eine ungeheuer wichtige psychosoziale Schutzmaßnahme, Kinder wieder in ihre Familien zu integrieren, denn fast alles deutet darauf hin, dass es Kindern, die in der Obhut funktionsfähiger, fürsorglicher Eltern sind, psychisch besser geht, und dass auch ihr Leben sicherer ist. Westlichen Psychologen könnten alle möglichen Therapien einfallen, aber die Familienzusammenführung ist elementar. Die Schwierigkeit dabei ist allerdings, dass Jugendliche, die aus bewaffneten Gruppen herauskommen, manchmal inzwischen zu Anführern gemacht geworden waren und Entscheidungen über Leben und Tod getroffen haben.

MS Dann erfordert der Übergang einen vollständigen Identitätswandel.

MW Ja, in vielen Fällen wird für diese Kinder das Militärische zu ihrer Identität, und ihre Werte stimmen nicht mehr mit den Werten des zivilen Lebens überein. Oft wird Gewalt als Mittel zur Entscheidung und Lösung von Konflikten akzeptiert. So kann es zu Situationen kommen, dass 14-jährige Jungen oder Mädchen nach Hause zurückkehren, und die Eltern erwarten Gehorsam und Unterordnung, aber die Jugendlichen sind nicht bereit dazu. Das ist sehr konfliktträchtig. Der Prozess der Wiedereingliederung in die Familie erfordert in vielen Fällen eine Familienmediation. Wir müssen dort Leute haben, die ausgebildet sind und die Eltern helfen können, zu verstehen, dass es nicht sein wird wie vorher, wenn die Jugendlichen heimkommen. Einige Dinge, die sie sehen, z. B. aggressive Tendenzen, sind normale Reaktionen für Kinder mit Erfahrungen in bewaffneten Gruppen, und sie bedeuten nicht, dass diese Generation verloren oder „beschädigt“ [damaged goods] ist. Sie haben glaubwürdige Probleme zu bewältigen.

MS Was kann man tun, um ihnen bei der Bewältigung dieser Probleme zu helfen?

MW In fast jedem Kriegsgebiet nennen verschleppte Kinder die Tatsache, dass sie keine Schulbildung bekommen haben, als einen ihrer größten Verluste. Sie fragen: „Wie kann ich ein guter Vater, eine gute Mutter sein, ein konstruktives Mitglied der Gesellschaft? Wie kann ich eine Zukunft haben, wenn ich überhaupt keine Schulbildung habe?“ Diese Jugendlichen wurden zumeist aus der Schule gerissen, als sie noch sehr jung waren, und sie haben vielleicht acht oder zehn Jahre in einer bewaffneten Gruppe gelebt. Doch in dem regulären Bildungssystem muss ein Mädchen oder Junge von 15, 16 Jahren mit einer Schulbildung bis zur dritten Klasse vielleicht neben Neun- oder Zehnjährigen sitzen. Und das tun sie nicht, denn es ist demütigend. Eines der Dinge, die sehr viel bringen, ist die Entwicklung von Programmen für beschleunigtes Lernen, die speziell für ältere Kinder konzipiert sind. Bei der Schaffung dieser Programme arbeiten wir mit Lehrern zusammen, aber auch mit Dorfbewohnern und den Jugendlichen selbst.

Ein weiteres, ähnliches Instrument ist die Alphabetisierung. Selbst wenn man kein volles Schulprogramm hat, sind die Fähigkeiten, zu lesen und zu schreiben, vielleicht auch Grundrechenarten anzuwenden, von enormer Bedeutung für Jugendliche, die ein Geschäft anfangen, eine Familie gründen, ihren Lebensunterhalt verdienen und Mitglieder einer normalen Gemeinschaft sein wollen.

Last but not least ist die Existenzgrundlage ein enorm wichtiges Element, denn um von einer militärischen zu einer zivilen Identität zu kommen, muss man eine Aufgabe haben.

MS Wie helfen Sie ihnen, ihre neue Rolle, ihre neuen Existenzgrundlage zu finden?

MW Wer sich als militärische Person sieht, denkt vielleicht: „Im Zivilleben gibt es für mich nichts. Was kann ich schon tun? Ich habe keine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ich bin nichts, ein Niemand. Eigentlich bin ich nur ein Störenfried.“ Das ist ein wirkliches Hindernis für die Integration in das Zivilleben. Sie brauchen also eine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, um Grundbedürfnisse zu befriedigen, Demütigungen zu entgehen und ihr Leben leben zu können. Dazu gehört in der Regel eine Förderung durch Mentoren in den Arten von Fähigkeiten, die junge Menschen vielleicht lernen sollten. Gewöhnlich wird eine Marktanalyse durchgeführt, um die Möglichkeiten festzustellen, was in der Wirtschaft vor Ort tragfähig ist. Und dann gibt es Handwerksmeister, die den Kindern nicht nur Grundfertigkeiten in ihrem Lehrberuf vermitteln, sondern auch moralische Fähigkeiten, indem sie sie führen und ihnen helfen zu verstehen, was in ihren Gemeinschaften von ihnen erwartet wird.

MS Sie schreiben in Ihrem Buch: „Die Förderung durch Mentoren ist ein sehr wirkungsvolles Mittel, um Jugendliche zu befähigen, ihre neue Identität und den Übergang von einem moralischen Universum in ein anderes zu finden.“ Sie lernen also nicht nur die Berufe, sondern sie lernen Werte.

MW Ja. In Sierra Leone haben Jugendliche in Gruppen mitgearbeitet, die von der Dorfgemeinschaft ausgewählte Projekte bauten – eine Schule, eine Gesundheitsstation – etwas, das den Kindern ihrer Gemeinschaft half. Doch bei ihrer Arbeit begannen die Leute sie in einem anderen Licht zu sehen. Nicht nur, dass sie arbeiteten und Geld verdienten: Sie gaben der Gemeinschaft etwas zurück. Man begann sie nicht als Soldaten zu sehen, sondern als Zivilpersonen, die etwas Sinnvolles für das Dorf tun konnten. Wenn andere einen Menschen so sehen, beginnt das seine Identität zu verändern. Anders gesagt: Zwischen der eigenen Identität und dem Licht, in dem andere einen sehen, gibt es eine Wechselwirkung.

So erlernen die jungen Menschen die Fähigkeiten, Werte und Verhaltensweisen, die sie brauchen, um neue soziale Rollen anzunehmen. Und dabei treten sie in einen Prozess ein, sich selbst neu zu definieren. In der Mehrzahl der kollektivistischen Gesellschaften, wo die meisten bewaffneten Konflikte auftreten, ist Identität durch soziale Beziehungen definiert – die Beziehung des Einzelnen zur Gruppe und zu anderen Menschen. Die Achtung anderer Menschen, das Gefühl, in seinem Dorf und seiner Familie einen festen Platz zu haben, ein Gefühl von Respekt und Würde – diese Dinge sind von tiefer Bedeutung. Sie sind es, die den Identitätswandel ermöglichen. Doch das geschieht nicht über Nacht. Wenn Jugendliche aus bewaffneten Gruppen herauskommen, werden sie tatsächlich manchmal wütend auf Erwachsene, die erwarten, dass sie sich über Nacht ändern. Das ist eine verständliche Reaktion. Es ist nicht so, dass man einfach eine Münze umdreht und irgendwie ist man dann wieder in der Schule und angepasst an die Dinge, wie sie waren. In vielen Dingen kann man nicht zurück. Man muss sich selbst neu aufbauen, und das ist schwer.

MS Können Sie den schwierigsten Aspekt dieses Neuaufbaus identifizieren?

MW Wohl am schlimmsten ist für die meisten Kindersoldaten, mit denen ich gearbeitet habe, dass sie isoliert sind, wenn sie heimkehren; sie werden als Rebellen und Störenfriede bezeichnet. Das tut sehr weh, und es ist auch sehr bedrohlich, denn manchmal bezeichnen die Leute sie nicht nur als Rebellen, sondern sie gehen zum Vergeltungsangriff über und sagen: „Wir erinnern uns ganz genau daran, was deine bewaffnete Gruppe getan hat, als ihr durch dieses Dorf kamt, und das werden wir dir heimzahlen.“ Wir müssen für Versöhnung und gewaltfreie Konfliktlösung arbeiten, damit Brüche innerhalb der Dorfgemeinschaft nicht in Gewalt ausarten. Die sozialen Bindungen, die Dorfgemeinschaften zusammenschweißen, sind zerrissen; da ist jeder gegen jeden.

MS Wie schätzen Sie diesbezüglich den Stand weltweit mit der Kindersoldatenkrise ein? Bewirken diese Programme etwas?

MW Ich denke, wir machen Fortschritte. Es gab eine effektive Strafverfolgung und Verurteilung von Leuten in Sierra Leone wegen Rekrutierens von Kindern. Der Fall Charles Taylor ist wichtig, weil mit ihm ein ehemaliges Staatsoberhaupt wegen zahlreicher Vergehen angeklagt wurde, auch wegen Rekrutierens von Kindern. Ein weiterer Fall ist Thomas Lubanga Dyilo in der Demokratischen Republik Kongo, dem vor dem Internationalen Strafgerichtshof spezifisch und ausschließlich wegen Rekrutierens von Kindern der Prozess gemacht wird. Das ist wichtig, weil die Anklage oft eine Vielzahl von Vergehen betrifft, und das kann einen verwässernden Effekt haben. Wir sind am Beginn einer Ära, in der die Leute lernen, dass man durchaus zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn man Kinder rekrutiert.

Ein weiterer großer Schritt ist, dass der UNO-Sicherheitsrat in diesen Fragen wesentlich aktiver geworden ist, zum Teil dank der Initiativen des Büros des UNO-Sonderbeauftragten für Kinder in bewaffneten Konflikten. Die Bedeutung des Problems wird auf hoher Ebene anerkannt, und nun beginnen Staaten tatsächlich mit besser koordinierten Anstrengungen, um Kinder aus ihren bewaffneten Gruppen herauszuhalten.

MS Im Jahr 2001 wies ein Artikel im Bulletin of the Atomic Scientists mit dem Titel „Child Soldiers: What About the Girls?“ auf den Mangel an Aufmerksamkeit und Behandlung für Mädchen hin, die Soldatinnen werden mussten. Welche Fortschritte gibt es bei der Behandlung von Kindersoldatinnen nach dem Ende von Konflikten?

MW Inzwischen kümmert man sich viel intensiver um die Mädchen. Vor zehn Jahren war ein Kindersoldat mehr oder minder einfach ein Kindersoldat. Mädchen wurden sogar anders bezeichnet: als „Mitläuferinnen“. Dadurch wurden sie nicht nur diskriminiert – sie wurden unsichtbar. Sie hatten auf keine der Leistungen Anspruch, die Jungen nach bewaffneten Konflikten bekamen, und man kümmerte sich sehr wenig darum, ihnen beim Weg zurück ins Zivilleben zu helfen. Vielleicht müssen Mädchen eine viel härtere Situation bewältigen, denn das Maß an Stigmatisierung, dem Mädchen ausgesetzt sind, ist fundamental größer. Für einen Jungen, der als Rebell bezeichnet wird, kann das Isolation und Vergeltungsangriffe bedeuten, aber für ein Mädchen, besonders wenn sie Mutter ist, kann es bedeuten, dass sie als „beschädigte Ware“ gilt, möglicherweise von ihrer Familie ausgestoßen und als eheuntauglich angesehen wird.

MS Und infolgedessen nicht für ihr Kind sorgen kann.

MW Das stimmt. In Ländern wie Sierra Leone sagen die Frauen: „In meinem Alter in dieser Gesellschaft nicht verheiratet zu sein ist gleichbedeutend mit sozialem Tod.“ Und dann die Brutalität, die viele Frauen in bewaffneten Gruppen erlitten haben. In Angola sagten z. B. die Mitglieder der Oppositionsgruppe UNITA, dass sie extrem schwere Lasten über lange Strecken tragen mussten und keinen Laut von sich geben durften. Wenn die Regierungstruppen in der Nähe waren, wurden sie gezwungen, ihre Babys zu töten, weil sie schreien und ihren Standort verraten könnten. Ich habe auch mit Frauen gesprochen, die erzählten: „Ich war schwanger; sie haben mich auf den Boden gedrückt und mir in den Bauch getreten. Sie haben versucht, mein Baby umzubringen oder die Geburt zu erzwingen.“ Taten dieser Art haben tief greifende, langfristige Gesundheitsschäden zur Folge.

Die Diskriminierung von Mädchen und Frauen ist also ein riesiges Menschenrechtsproblem. Zum Glück beginnt sich das zu ändern. Mädchen haben eigene Bedürfnisse, und man kann sie nicht einfach auf die gleiche Weise reintegrieren wie Jungen. Sie haben Anspruch auf Leistungen, aber diese müssen geschlechtsspezifisch und auf ihre Situation zugeschnitten sein. Vor allem dürfen diese Mädchen nicht diskriminiert und als Wegwerfartikel behandelt werden.

MS Könnten Sie etwas mehr über das Leben eines Kindersoldaten berichten?

MW Zunächst besteht ein großer Unterschied zwischen Kindern, die verschleppt und zwangsrekrutiert werden, und solchen, die aufgrund einer eigenen Entscheidung mitgehen. Das heißt nicht, dass es eine freie Entscheidung ist: Die Entscheidungen beruhen immer auf Not, Armut und einem relativen Mangel an anderen Möglichkeiten. Aber dann beginnen die zwangsrekrutierten Kinder rasch, Entscheidungen darüber zu treffen, was sie tun müssen, um sich zu schützen und am Leben zu bleiben. Sie mögen sich durchaus als Opfer fühlen, und oft haben sie entsetzliche Angst, weil ihre Kidnapper mit Terrortaktiken arbeiten, um sie zu kontrollieren. Es ist zwar nicht in allen Fällen so, doch in vielen Ländern werden Jugendliche gezwungen, Leute aus ihren eigenen Dörfern oder sogar aus ihren Familien zu töten, damit es für sie schwierig wird, jemals nach Hause zurückzukehren. Meist ist dies mit Propaganda verbunden; die Anführer sagen den Jugendlichen: „Versucht gar nicht erst, auszureißen oder heimzugehen, denn dann töten wir euch. Wenn ihr heimgehen würdet, würden sich die Leute da an die furchtbaren Dinge erinnern, die ihr getan habt, und dann würden sie euch töten.“

MS Militärführer sagen oft Dinge wie „Töten macht dich stärker“. Ist das eine Technik, diese Kinder abzustumpfen?

MW Ja, dieses Abstumpfen gibt es. Eines der Dinge, die normale Menschen psychisch in die Lage versetzt, entsetzliche Gewalttaten zu begehen, ist die progressive Konfrontation mit Gewalt. Zum ersten Mal einen Mord zu sehen, kann furchtbar traumatisch sein, doch es ist weniger traumatisch, wenn man davor gesehen hat, wie jemand geschlagen wurde, dann noch schlimmeres Schlagen und dann einen Mord. Militärführer verstehen das; deshalb zwingen sie ihre Rekruten oft progressiv zur Gewalt. Und sie setzen auch psychologisch raffinierte Techniken ein, um Rekruten zu resozialisieren und ihnen zu helfen, sich eine neue Identität zurechtzuschnitzen. Eine ist, dass sie ihnen Kampfnamen geben. Es kann sehr attraktiv sein, einen schicken Kampfnamen zu haben, sodass man als furchtlos oder gnadenlos oder beides zu erkennen ist.

Und Militärführer bieten auch Anreize. Wer gute Leistungen bringt, erhält eine Kommandoposition oder vielleicht ein paar Frauen, mehr Geld oder Möglichkeiten zum Plündern. Und wer keine gute Leistung bringt, wird vielleicht bestraft oder bedroht oder muss die schlimmste Aufgabe ausführen.

Eine weitere Methode, die benutzt wird, ist die Bindung an einen Mentor. Jugendliche sagen oft, dass die bewaffnete Gruppe tatsächlich ihre Familie wurde. Dabei gibt es oft eine Vaterfigur, den Anführer, der den Jugendlichen unter seine Fittiche nimmt. Die Bindung eines kleinen Jungen an seinen Vater ist sehr stark; da ist ein Gefühl der Verpflichtung, der Loyalität usw.

MS Dann ist eine Menge rückgängig zu machen, wenn ein Kind eine bewaffnete Gruppe verlässt.

MW Genau. Und wenn dazu noch die politische Indoktrinierung kommt, dann findet man – in Gruppen wie den FARC in Kolumbien oder LTTE in Sri Lanka –, dass Jugendliche mit extremen politischen Glaubensinhalten gefüttert werden, z. B. „unsere Gruppe tut nur, was um der Gerechtigkeit willen getan werden muss“, im Gegensatz zur Regierung, die „die Stimme des Bösen“ ist, ein Ausbund an Korruption und Tyrannei.

MS Die Verteufelung der Gegenseite scheint also die Taten der Gruppe zu rechtfertigen.

MW Ja. Es gibt keine Möglichkeit, das infrage zu stellen; diese Art Gehirnwäsche versucht, alles kritische Denken abzustellen.

MS Führt das zu dem, was Sie in Ihrem Buch als „anderen moralischen Raum“ bezeichnen?

MW Ja. Manchmal ist es einfach die auffallende Kluft zwischen dem, was man gekannt hat, und dem, wo man jetzt ist. Wenn also ein siebenjähriges Kind, das nie etwas mit Gewalt zu tun hatte, plötzlich entführt wird – sieht, wie jemand stirbt, und tatsächlich gezwungen wird, sich an einem Mord zu beteiligen, dann kann ein sehr kleines Kind zu dem Schluss kommen: „Das ist es, was ich tun muss, um zu überleben.“ Damit beginnt der Aufbau eines separaten moralischen Raums, wo innerhalb der bewaffneten Gruppe etwas von Grund auf anderes akzeptabel und sogar gefordert ist; und dann leben sie nach diesem Moralkodex. Jugendliche reagieren darauf oft mit Abspaltung. Das ist eine dissoziative Reaktion – als ob sie sich kaum daran erinnern könnten, wie sie als Zivilpersonen waren. Es ist nicht so sehr, dass sie hemmungslose Verbrecher geworden sind; es ist vielmehr ein Prozess, der sie von dieser anderen Moral abtrennt.

MS Unter den entsprechenden Umständen sind wir wohl alle dazu fähig.

MW Ja, die meisten. Und dazu kommt, dass die Umklammerung von Ideologie und politischer Indoktrination allmählich die Wahrnehmung verzerrt, wann es richtig ist, zu töten oder wann Gewalt ein akzeptables Mittel ist. Hier kommt es tendenziell zu einer größeren Verschiebung in dem, was als Gut oder Böse gesehen wird. Oft sind Jugendliche dabei auch der aktive Teil; sie sind nicht nur Empfänger der Belehrung von anderen. Ein Siebzehnjähriger, dessen Familie von der gegnerischen Gruppe ermordet wurde, kann zum Anführer werden und sagen: „Gewalt ist der einzige Weg. Das ist es, was wir tun müssen, und das Töten ist gerechtfertigt.“ Die moralische Entwicklung, das moralische Denken und die faktisch zum Ausdruck gebrachten Werte sind ganz andere als im zivilen Leben.

MS Und darin liegt die Bedeutung der Arbeit mit den Jugendlichen, wenn man die Zukunft verändern will.

MW Ja, das ist eine gute Schlussbemerkung. Für mich besteht die große Herausforderung darin, positive Lebenschancen zu schaffen, die es Jugendlichen ermöglichen, ein sinnvolles Leben als Zivilisten zu finden, damit sie nicht in Versuchung sind, sich bewaffneten Gruppen anzuschließen – und auch um ihnen zu helfen, Menschen zu werden, die den Frieden mit aufbauen, damit Gesellschaften in bewaffneten Konflikten nicht zerbrechen und Jugendliche nicht so leicht zwangsrekrutiert werden können.

Für mich ist es eine der zentralen Herausforderungen, zu fragen, wie wir Bedingungen schaffen können, in denen Kinder mehr Chancen haben, als produktive Zivilisten mit geschützten Rechten heranzuwachsen statt als Soldaten, die von der nächsten bewaffneten Gruppe rekrutiert werden.