Machtfaktor Kulturblase

Kultur verbindet, aber sie isoliert auch in Dingen, die man vielleicht nicht sofort sieht. Wie groß ist die Rolle unserer Kultur bei dem, was wir glauben und was wir tun?

Mehr als zwei Jahrzehnte lang – von 1983 bis 2009 – wurde der schöne Inselstaat Sri Lanka durch einen Bürgerkrieg zerrissen. Es war ein brutaler, blutiger Konflikt, der über 100.000 Menschenleben kostete. Das Machtgezerre zwischen Singhalesen und Tamilen, die sich seit Langem an demografischen und religiösen Grenzen gegenüberstanden, war durch die britische Kolonialherrschaft und ihre Bevorzugung der tamilischen Minderheit noch verschärft worden. Als das Land unabhängig geworden war, verschob sich das Machtverhältnis und zwischen den beiden Völkern brach der Bürgerkrieg aus. Auf der einen Seite stand die damalige singhalesische Staatsführung und auf der anderen die separatistische Guerrilla „Befreiungstiger von Tamil Eelam“, bekannt als Tamil Tigers.

Die Tamil Tigers waren eine sehr erfolgreiche terroristische Organisation – und eine der berüchtigtsten der Welt. Eine ihrer Haupttaktiken waren Selbstmordanschläge, für die ortsansässige Tamilen rekrutiert wurden (auch Frauen, die etwa ein Drittel der Truppen stellten). Offenbar schlossen sich die Mitglieder ohne Zwang an.

Wie brachten die Tamil Tigers so viele Menschen dazu, freiwillig ihr Leben zu opfern?

Das Entscheidende war die Kultur. Die Anwerber schufen einen undurchlässigen kulturellen Rahmen, der eine Aussicht, die sonst unattraktiv gewesen wäre, als das einzig Richtige erscheinen ließ. Der Wissenschaftsautor Michael Bond hat über die Arbeit der sri-lankischen Psychologin mit dem Pseudonym Amali berichtet, die viele Mitglieder der Tamil Tigers befragte und zu dem Schluss kam, die Organisation habe „eine Kultur des Märtyrertums“ geschaffen: „Rekruten wurden öffentlich gefeiert, ihren Familien ein Sonderstatus gegeben, wenn sie starben.“ Sie förderten eine althergebrachte Tradition, die Krieg als höchste, notwendige Ehre und den Tod in ihm als heldenhaften Märtyrertod darstellte. Im Kontext des Kriegs ließ all dies einen so gewaltsamen Opfertod als das Gebot der Stunde erscheinen.

Der vielleicht faszinierendste Aspekt dabei ist jedoch das, was danach geschah. Amali berichtete, dass ehemalige Tamil Tigers, die sich von dieser Kultur entfernt hatten, den Zwang zum Selbstopfer nicht mehr als wichtig empfanden: „Sobald sie aus ihrer Blase herauskommen, sehen sie schnell, dass die Dinge ganz anders sind, als man ihnen vorgemacht hat. Ihre singuläre Weltsicht ist leicht zu widerlegen.“ Sie entdeckten, dass ihre Kultur sie blind für andere Möglichkeiten gemacht hatte, und gaben rasch auf, was ihnen zuvor als einzige Möglichkeit erschienen war.

Frauen der Tamil Tigers bei einer Militärparade in Killinochchi, Sri Lanka, 2002.

marietta amarcord aus Italien, (CC BY 2.0), über Wikimedia Commons.

Die Macht der Kultur

Man könnte denken, dass die Geschichte Sri Lankas und der Tamil Tigers zwar faszinierend, aber nur für jene Zeit und jenen Ort relevant sei. Doch was die Tamil Tigers verstanden und sich zunutze machten, war etwas Universelles: die überwältigende Macht der Kultur – ein Phänomen, das uns alle betrifft. Jeden Tag hören und absorbieren wir Gedanken von anderen Menschen. Unsere Gedanken, Worte und Taten werden durch einen Morast externer Vorstellungen, Assoziationen und Anliegen vorgeformt und geprägt. Unsere Gespräche richten sich nach den Themen des Tages. Wir kleiden uns so, wie es uns nach den kulturellen Normen angemessen erscheint. Ansichten über Politik, Religion, Identität – selbst so triviale Dinge wie Ananas auf einer Pizza – sind von der Kultur beeinflusst, in der wir leben.

Kultur ist ein weithin verwendeter Begriff, aber auch einer der Begriffe, die am schwersten zu definieren sind. Der Kulturwissenschaftler Raymond Williams prägte den berühmten Ausdruck „eines der zwei oder drei kompliziertesten Wörter in der englischen Sprache“. Mehrere Kulturen können nebeneinander existieren und wir könnten jederzeit mehreren von ihnen begegnen und unsere Identität nach ihnen formen – ob sie von unserer Familie kommen, unserem Arbeitsplatz und den Internetinhalten, die wir frequentieren, oder ob sie national, politisch, religiös, geschlechtsspezifisch oder sozial geprägt sind.

Kultur […] ist jenes komplexe Ganze, das Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten umfasst, die der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erwirbt.“

Sir Edward Burnett Tylor (Anthropologe des 19. Jahrhunderts), Primitive Culture: Researches Into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art, and Custom (1903)

Die Liste der Kulturblasen scheint endlos und reicht vom Trivialen bis zum hoch Bedeutsamen. Mit Pferden Rodeos zu veranstalten, gilt in Teilen Westkanadas und der USA als eine natürliche Form der Unterhaltung, kann dagegen jemandem in Nordkorea oder Ägypten bizarr vorkommen. In Mitteleuropa glauben viele, es sei schädlich, Wasser zu trinken, nachdem man Kirschen gegessen hat, während man woanders nicht einmal auf eine solche Idee käme. Curry ist in Großbritannien zum Lieblingsgericht der Nation gekrönt worden, in Frankreich dagegen sehr schwer zu finden. Moderne säkulare Gesellschaften tun sich schwer damit, die Einstellung derer zu verstehen, die in Indien und Papua-Neuguinea Menschen als Hexer und Hexen verfolgen. Und obwohl kulturelle Unterschiede bei politischen Wahlen seit Langem eine Rolle spielen, haben sie in den letzten Jahren weltweit besonders besorgniserregende Auswirkungen gehabt. Manchmal sieht es so aus, als könnten die Menschen auf den beiden Seiten fast zu unterschiedlichen Spezies gehören.

Und dennoch – zum Teil wegen ihrer amorphen Natur – ist es nahezu unmöglich, genau zu messen, wie sehr Kultur uns prägt, besonders weil so viele andere Faktoren (Erziehung, gesellschaftliche Zugehörigkeiten, psychische Probleme etc.) auch eine Rolle spielen.

Was allerdings wohl nicht von der Hand zu weisen ist, ist ihre unentrinnbare Allgegenwart. Ob es uns bewusst ist oder nicht, Kultur ist überall. Wir sehen uns selbst gern als unabhängige Wesen, frei denkende Bestimmer unserer eigenen Entscheidungen und Verhaltensweisen, doch das ist weitgehend eine Illusion. Dem Vorherrschen der Kultur in den Nachrichten des Tages, dem Material, das in sozialen Medien viral geht, oder – weniger offensichtlich – den vorherrschenden Ansichten über das Leben und wie es zu führen sei (die durch die Kommunikation mit Freunden, Verwandten und Kollegen bestätigt und verstärkt werden) können wir nicht entgehen.

Dieses Eingebundensein lässt uns Sichtweisen anderer Kulturen – die den gleichen oder einen höheren Wert haben können – seltsam vorkommen. Wir haben natürlich die Freiheit, unsere Sichtweise selbst zu wählen, aber was nützt diese Freiheit, wenn uns Optionen gar nicht in den Sinn kommen oder unbesehen abgetan werden?

Für Selbstmordterroristen der Tamil Tigers schien es nicht nur die höchste Ehre zu sein, ihr Leben für die Sache ihres Volks zu opfern, sondern die einzige Wahl. Doch sobald sie aus dieser Kultur herauskamen, fanden sie andere Vorstellungen natürlicher – Vorstellungen, die zuvor keinen Reiz gehabt hatten.

Wir könnten uns fragen, ob für uns das Gleiche gilt. Machen uns Kulturblasen, in denen wir leben, blind für andere, bessere Lösungen oder bessere Sichtweisen? Würden wir uns Zeit nehmen, über eine gute, aber ungewohnte Vorstellung nachzudenken, oder würden wir sie als absurd abtun?

Eine Kultur ist immer eine potenzielle Bedrohung für eine andere, weil sie ein lebendes Beispiel dafür ist, dass innerhalb eines Werterahmens, der dem eigenen völlig fremd ist, das Leben heroisch weitergehen kann.“

Ernest Becker, The Birth und Death of Meaning

Kultur ist eine machtvolle Kraft des Ausschließens. Eine Vorstellung zu akzeptieren, führt oft zu einer Kaskade damit verbundener Vorstellungen und Schlussfolgerungen und bringt uns auf einen Weg mit Gleichgesinnten um uns. Das ist unsere Blase. Menschen außerhalb dieser Blase können oft keinen Sinn darin finden, wie wir denken.

Dabei gibt es natürlich Flexibilität und Spielraum; wir sind nicht völlig wehrlos gegen Faktoren von außen. Dafür ist Kultur zu wandelbar. Dennoch lohnt es sich, unsere eigene Situation zu untersuchen. Warum denken wir so, wie wir denken? Und vielleicht das Wesentlichste von allem: Was könnte uns entgehen?

Vorsicht Gruppendenken

Dass wir denken wie die Menschen um uns, hat Gründe – und sie haben mit unserem geselligen Wesen zu tun. Wir empfinden Behagen, Klarheit und Bestätigung, wenn wir mit anderen einig sind. Der US-amerikanische Rechtswissenschaftler und Verhaltensökonom Cass R. Sunstein schreibt: „Wenn jemand Ihnen etwas sagt, das Sie schon wissen, mögen Sie diese Person wahrscheinlich ein wenig mehr […] [und] dadurch mögen Sie wahrscheinlich sich selbst ein wenig mehr!“ Es hat auch einen kumulativen Effekt – die Forschung von Sheldon Solomon, Jeff Greenberg und Tom Pyszczynski hat gezeigt: „Je mehr Menschen unsere Überzeugungen teilen, desto sicherer sind wir, dass [diese Überzeugungen] richtig sind.“

Wie weit wir gehen, um dieses Wohlgefühl zu bekommen, ist wirklich enorm und die Folgen sind beunruhigend. Eine klassische Studie des Psychologen Solomon Asch zeigte, dass wir es generell vorziehen, mit der Mehrheit einig zu sein, auch wenn deren Standpunkt offensichtlich falsch ist. Später stellte der Psychologe Read D. Tuddenham fest, dass Probanden vernünftig antworteten, wenn sie allein waren, aber in einer Gruppe wilde, abstruse Aussagen akzeptierten.

Wenn zum Beispiel andere in der Gruppe behaupteten, männliche Babys hätten eine Lebenserwartung von 25 Jahren, den meisten Menschen gehe es im Leben besser, wenn sie nie zur Schule gingen, und die meisten Amerikaner äßen sechsmal am Tag und schliefen vier bis fünf Stunden pro Nacht, sagten Teilnehmer, die diese Behauptungen vielleicht anzweifelten, trotzdem das Gleiche, um nicht aus der Reihe zu tanzen. Noch erstaunlicher ist, dass sie im Nachhinein behaupteten, sie hätten nach ihrem eigenen Dafürhalten gesprochen und seien nicht von anderen beeinflusst worden. Diese Neigung, der Einigkeit mit unserer Gruppe den Vorzug vor der Wahrheit zu geben – und unsere Blindheit für die Tatsache, dass das gerade geschieht –, sollte uns veranlassen, über unser eigenes Verhalten nachzudenken.

Vielleicht anders als erwartet führt unser Drang nach Einigkeit nicht zum Kompromiss und einer weichen mittleren Position. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass ein starker Wunsch nach Einigkeit innerhalb von Gruppen Gleichgesinnter tatsächlich deren Ansichten übersteigert und Einzelne innerhalb der Gruppe dazu bringt, extremere Standpunkte einzunehmen. So fand Sunstein heraus: „Weiße, die zu erheblichen Rassenvorurteilen neigen, äußern mehr Rassenvorurteile, nachdem sie miteinander gesprochen haben“, und Gruppen von US-Amerikanern, die sich als entweder Demokraten oder Republikaner identifizieren, stimmen nach Gesprächen mit Gleichgesinnten mehr als doppelt so stark in Einklang mit ihrer Parteilinie ab wie davor (interessanterweise wirkt das Vorhandensein einer einzigen Gegenstimme – einer Perspektive von außerhalb der Blase – dem sehr effektiv entgegen).

Sunsteins Forschung konzentrierte sich auf aktuelle Fragen in den USA, aber die Probleme, die er beschrieb, sind in allen menschlichen Gesellschaften verbreitet und können im Extremfall zu Bürgerkrieg führen; ähnliche Tendenzen gab es in den 1970er-Jahren bei Konflikten in Angola, im 17. Jahrhundert in England und, wie erwähnt, um die letzte Jahrhundertwende in Sri Lanka. Der isolierende Einfluss von Kultur ist bemerkenswert und er wirft Fragen über den Wert identitätsbasierter Social-Media-Gruppen auf – Gruppen, die daraufhin konzipiert sind, Menschen mit einer bestimmten Weltsicht anzuziehen.

Dieser wiederholte Prozess der Zustimmung und Verstärkung ohne Außenperspektiven produziert eine noch fester zementierte, intensivierte und isolierte Kultur. Und diese wehrt sich energisch gegen andere kulturelle Einflüsse, die sie oft als Bedrohung sieht. Kultur grenzt sich von anderen ab und entfremdet sie, um sich zu verteidigen. Diese Dynamik in unseren täglichen Interaktionen könnte, wenn wir nicht achtgeben, der Dynamik extremistischer Gruppen entsprechen. Sunstein schreibt: „Ein gutes Mittel, eine extremistische Gruppe oder einen Kult jeglicher Art zu schaffen, ist, die Mitglieder von der übrigen Gesellschaft abzusondern.“ Das ist eine Tendenz, die in unseren Familien, Arbeitsumgebungen oder Freundeskreisen repliziert werden kann, und möglicherweise merken wir es nicht einmal. Das sollte uns nachdenklich machen, denn wir leben am besten, wenn wir über den Tellerrand hinausblicken und Mitmenschen Liebe und Interesse zeigen.

Separate Welten im Internet

In den letzten Jahren ist die Welt polarisierter geworden. Auch technologische Innovationen haben die ausschließende Wirkung von Kultur verstärkt. Um die Onlinewelt profitabel zu machen und mit klarer Marktdemografie haben sich Unternehmen daran gemacht, definierbare digitale Räume und Identitäten zu erschaffen. „Was ich im Internet sehe, ist nicht, was du siehst“ – als Eli Pariser dies um 2010 nachwies und dafür den Begriff Filterblase prägte, war es schockierend, aber heute ist es eine unbestreitbare Lebenswirklichkeit. Die Algorithmen werden immer cleverer und so werden die Filterblasen genauer auf ihre kulturellen Zielgruppen abgestimmt und der Effekt wird verstärkt. Wie isoliert sind wir in unseren Onlinewelten? Pariser sieht den Aspekt der Gemeinsamkeit in demokratischen Gesellschaften als einen Wert, der nun gefährdet ist: „Demokratie braucht Bürger, die Dinge auch aus der Sicht der anderen sehen, aber stattdessen sind wir immer mehr in unseren eigenen Blasen eingeschlossen. Demokratie braucht Verlass auf gemeinsame Fakten; stattdessen werden uns parallele, aber separate Universen geboten.“

Das sollte uns Sorgen machen, nicht zuletzt weil es sich auf unser moralisches Urteilsvermögen auswirken kann. Wie die Geschichte gezeigt hat, kann kulturelle Zementierung bewirken, dass vernünftige Menschen verstörende Verhaltensweisen übernehmen können. Adolf Eichmann war einer der Hauptarchitekten der Nazi-„Endlösung“ für die Ausrottung der Juden. Doch als er dann nach dem Krieg vor Gericht stand, war er weit entfernt von dem irren Psychopathen, den die Menschen erwarteten. Nach der berühmten Einschätzung der Politiktheoretikerin Hannah Arendt war er nicht teuflisch oder dämonisch und auch nicht dumm. Er tat einfach, was von ihm erwartet wurde. Zwar mag dies für die meisten Menschen schwer vorstellbar sein, doch innerhalb der Kultur der Naziführung schien sein Handeln vernünftig.

Das Problem mit Eichmann war genau, dass so viele waren wie er und dass die vielen weder pervers noch sadistisch waren, dass sie schrecklich und erschreckend normal waren und immer noch sind.“

Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil

Krieg ist eine extreme Situation, aber seine Wirkung auf das Verhalten Eichmanns und der Kämpfer der Tamil Tigers zeigt sehr deutlich, wie Kultur unser Urteilsvermögen verzerren kann. Die alte Weisheit, der Mensch solle „der Menge nicht auf dem Weg zum Bösen folgen“ (2. Mose 23, 2), leuchtet ein, denn innerhalb einer bestimmten Blase ist es schwerer, Nein zu sagen; die konventionelle Reaktion ist das, was einem am regelmäßigsten einfällt. Und es ist klar, dass die konventionelle Reaktion – diejenige, die alle in der Blase normal finden würden – in einigen Fällen absolut widerwärtig sein kann. Paul Rusesabagina, ein Hotelmanager in Ruanda, der während des Völkermords 1994 über 1.000 Hutus und Tutsis aufgenommen haben soll, verstand, wie schwer es ist, sich einer verdrehten kulturellen Norm entgegenzustellen. In seinem Buch An Ordinary Man schreibt er: „Wenn niemand den Mut aufbringen kann, sich außerhalb der Gruppe zu stellen, und die innere Kraft, Nein zu sagen, dann wird die Masse Mensch leicht Gräueltaten begehen, um den persönlichen Schein zu wahren.“

In jüngerer Vergangenheit hat die sofortige Reaktion vieler „normaler“ Menschen auf manche Ereignisse die ausschließende Macht von Kultur sehr deutlich gezeigt. Als ein 31-jähriger Syrer 2023 in einer französischen Stadt auf Menschen losging, forderten viele (auch solche, die nicht in Frankreich lebten) sofort, die Grenzen für Immigranten zu schließen. Der Diskurs im Internet wurde rasch enger und schloss eine Berücksichtigung anderer möglicher Ursachen oder Aspekte der Attacke aus; die Nationalität des Mannes und der Fakt, dass er Asylbewerber war, reichten aus, um das Thema zu einer reinen Frage der Zuwanderungspolitik zu machen, obwohl er sich legal in Frankreich aufhielt. Und als Bronny, der Sohn des Basketballspielers LeBron James, im Juli 2023 einen Herzstillstand erlitt, äußerten im Internet viele – mit minimalem Wissen um die Umstände – schuld sei ein Coronaimpfstoff. Später wurde klar, dass er einen angeborenen Herzfehler hatte. Doch in beiden Situationen war der kulturelle Einfluss so stark, dass für Empathie, Neugier, Interesse, Geduld, Festhalten an Fakten und alternative Erklärungen kein Raum blieb. Der Diskurs wurde zu einer verbalen Prügelei, weitgehend ohne Beachtung der Möglichkeit, dass die tatsächliche Ursache etwas zuvor nicht Erwartetes sein würde. Gewalt kommt in vielen Formen vor.

Kulturwandel

Kultur steht selten still und erfordert dadurch, dass wir uns ständig mit ihr anpassen. Sie kann sich in viele Richtungen bewegen und manchmal ist es gut, dass sie eine Situation ans Licht bringt. So hat die #MeToo-Bewegung, die 2017 unerwartet entstand, auf ein lange bestehendes Problem aufmerksam gemacht: das Vorherrschen männlicher Gewalt, insbesondere sexueller Natur, gegen Frauen.

#MeToo-Demonstration in Südkorea (2018).

Das Problem hat lange vor dem Hashtag existiert und existiert nach ihm weiter, aber der Kulturwandel hat die Grundhaltung verändert. Vorher fühlten sich Männer oft fähig, ja berechtigt, zu tun, was auch immer sie wollten; vielen kam es nicht einmal in den Sinn, dass sie anderen Menschen schadeten. Man könnte sagen, sie konnten – und wollten vielleicht – nicht außerhalb ihrer Blase sehen. Das hat #MeToo verändert. Der Wandel kann natürlich nur zeitweilig und von begrenzter Reichweite sein; manche Kulturen konnten den Nutzen der Bewegung nicht von Anfang an sehen. In Frankreich sprachen sich zum Beispiel viele führende Persönlichkeiten – Frauen wie Männer – dagegen aus.

Ein besonders dramatischer Kulturwandel geschah im 19. Jahrhundert. Die Entdeckung von Dinosauriern und anderen prähistorischen Welten trug dazu bei, den Niedergang der Religion als Grundverständnis in vielen Gesellschaften zu beschleunigen. Es war ein bemerkenswertes Beispiel dafür, was der Historiker Thomas Kuhn „Paradigmenwechsel“ nannte. Eine neue Theorie bringt neue Erklärungen und Lösungen, aber wenn sie übernommen wird, können frühere Problemstellungen unwichtig scheinen, schrieb er; sie „können zu einer anderen Wissenschaft relegiert oder als völlig ,unwissenschaftlich‘ erklärt werden […] bloße metaphysische Spekulation, Wortspiel oder mathematische Spielerei“. Das Wirken von Darwin, Huxley, Marx, Nietzsche, Freud und anderen war Ausdruck eines monumentalen Paradigmenwechsels in Bezug auf Religion, sowohl wissenschaftlich als auch kulturell.

Religion wurde als wissenschaftsfeindlich dargestellt (was sie nicht sein muss). Der Kulturwandel verwies Erörterungen über Lebenssinn, nicht materialistische Perspektiven und zwischenmenschliche Beziehungen in das Reich spekulativer Selbsthilfe. Seine Auswirkungen sind heute tief eingewurzelt und bestimmen unser Denken in Formen, die uns vielleicht nicht immer vollkommen bewusst sind. Der öffentliche Diskurs war für immer verändert; ganze Themenbereiche wurden ausgeschlossen – manchmal zu unserem Schaden. Viele unserer heutigen Schwierigkeiten, seien sie im Internet oder im realen Leben, dürften Folgen dieses Wandels sein.

Was der Mensch sieht, hängt sowohl davon ab, was er anschaut, als auch davon, was seine bisherige Seh- und Denkerfahrung ihn zu sehen gelehrt hat.“

Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions

Die Bibel gibt zum Beispiel großartige Hilfen bei Themen wie Einsamkeit, Trauer und Misshandlung oder Missbrauch, aber sie ist eine Ressource, die außerhalb der meisten heutigen Kulturblasen existiert. Nach Jahrhunderten der Fehldeutung und Ausnutzung durch Personen und Organisationen ist ihr kulturelles Ansehen gesunken. Sie ist so gründlich vernebelt worden, dass nur wenige sie als das sehen konnten, was sie war und weiterhin ist – eine Ressource, die dabei hilft, mit Problemen im realen Leben umzugehen. Doch heute würden sich viele nicht die Mühe machen, sie zu lesen oder ernsthaft zu prüfen. Für sie ist sie wie ein Relikt, ein Witz oder eine wirkungslose Waffe in einem fruchtlosen Austausch von Retourkutschen mit der Wissenschaft. Ihre Weisheit bleibt weitgehend ungenutzt und unerprobt. Könnte es sein, dass uns dadurch etwas entgeht?

In einem Artikel für die New York Times schöpfte der Kolumnist David Brooks aus einer Weisheit, die in biblischen Texten zum Ausdruck kommt. Es gehe darum, „in harten Zeiten mit Liebe zu führen“. In seinen Worten klingen biblische Prinzipien an, die die Jahrhunderte überdauern. Brooks schreibt: „Das Praktischste, was man tun kann, selbst in harten Zeiten, ist mit Neugier führen, mit Respekt führen, intensiv daran arbeiten, Menschen zu verstehen, die man vielleicht gelernt hat zu verabscheuen.“

Es ist ein Beispiel dafür, wie komplett Kultur uns gegenüber anderen Denkweisen blind machen kann. Was wir glauben, ist stark bestimmt durch die Blasen, in denen wir leben. Unsere Art, zu denken, kann sich drastisch verändern, wenn wir einfach umziehen, den Arbeitsplatz wechseln oder uns einem anderen sozialen Netz anschließen.

Dass wir durch zufällige Faktoren wie Zeit und Ort so beeinflussbar sind, sollte uns verunsichern. Wir hatten keine Kontrolle darüber, wo und wann wir geboren wurden. Was für Menschen könnten wir sein, wenn wir 1973 in Chile geboren wären, 2008 in Zimbabwe oder 1949 in China? Sind wir überzeugt, dass unsere Art, zu denken, richtig ist, einfach weil sie zu unserer Zeit, unserem Umfeld oder den Ansichten unserer Angehörigen oder Freunde zu passen scheint? Das sind Fragen, die wir gründlich durchdenken sollten, wenn uns irgendetwas daran liegt, wie wir handeln, was wir bei anderen bewirken oder wie wir die Welt sehen.