Der letzte falsche Messias

Die Geschichte ist voll von Möchtegern-Rettern, die Frieden und Wohlstand versprechen, aber ohne Ausnahme versagt haben, dies zu erfüllen. Haben wir noch immer nicht gelernt, dass kein menschliches Wesen und keine menschliche Regierungsform Rettung oder Erlösung im ultimativen Sinn bringen kann? 

Ein Freund aus Ghana erzählte einmal, dass er als Schulkind verpflichtet war, täglich den Spruch „Nkrumah ist der neue Messias“ aufzusagen. In jener Zeit wurde im Radio über den Präsidenten verlautbart: „Osagyefo [der Erlöser] ist unsterblich und kann niemals sterben.“ All dies war ein sicheres Zeichen dafür, dass schon wieder ein Personenkult entstanden war.

Kwame Nkrumah, der von 1957-1966 an der Macht war, regierte als Erster die nachkoloniale Goldküste, die nun Ghana hieß. Im Vorfeld der politischen Unabhängigkeitserklärung, so der Historiker Martin Meredith, „bauten Parteizeitungen das Bild eines Mannes von übernatürlichen Kräften auf – eines Propheten, eines neuen Moses, der sein Volk zum gelobten Land der Unabhängigkeit führen werde. . . . Gewöhnliche Menschen begannen ihn als einen Messias anzusehen, der fähig sei, Wunder zu vollbringen.“ Zufällig entwickelte der arbeitsame, charismatische, konfessionslose Christ und Marxist Nkrumah nur für ein einziges klassisches Musikstück eine Vorliebe: das „Halleluja“ aus Händels Messias.

Wie so mancher aufstrebende politische christos vor ihm, war Nkrumah von Größenwahn getrieben und reihte sich somit in die historische Reihe dieser unseligen Spezies ein. Meredith bemerkt: „In dem Glauben, er besitze einzigartige Fähigkeiten und könne für Afrika erreichen, was Marx und Lenin für Europa getan hatten und Mao Tse-tung für China, schuf er eine offizielle Ideologie, die er Nkrumahismus nannte.“ Doch auch er erlitt die Schmach, gestürzt zu werden. Die autokratischen Praktiken des Präsidenten und die Verhaftungen politischer Gegner störten die Weiterentwicklung seines Personenkults, das Volk lehnte sich gegen ihn auf. Während er auf Staatsbesuch in China weilte, wurden Polizei und Militär aktiv. Auf den Straßen demonstrierten nun Gruppen von Jugendlichen mit Schildern, auf denen stand: „Nkrumah ist NICHT unser Messias.“ Solchermaßen zurückgewiesen, ging er ins Exil im Nachbarland Guinea und starb 1972 in Rumänien an Krebs.

Doch auch dieses Mal lernte man die Lektion in Bezug auf  Herrscherkulte nicht, besonders nicht im nahen Liberia. Dort vernahm man im Jahr 2003 gewissermaßen ein Echo von Nkrumahs messianischen Ansprüchen (und seinem Abgang), als der in Amerika ausgebildete liberianische Präsident und Kriegsherr Charles Taylor aus seinem Land vertrieben wurde – nur um in Nigeria ein luxuriöses Exil zu finden. Ganz in Weiß gewandet und auf einem samtbezogenen Thron sitzend, verglich er sich bei seiner letzten Rede mit Jesus: Er werde „das Opferlamm sein“. Während der gesamten 90er-Jahre hatte Taylors Kriegstreiberei den Einsatz von Kindersoldaten gefördert, 150 000 Menschenleben gekostet und mehr als die Hälfte der liberianischen Bevölkerung entwurzelt. Gegen ihn soll 2008 vor dem UN-Tribunal in Den Haag ein Prozess wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eröffnet werden.

Nkrumah und Taylor sind zwei weitere Beispiele der vielen gescheiterten Messiasse. Sie sind zufällig Afrikaner, doch sie unterscheiden sich wenig von ihren Ebenbildern in Asien oder Europa. In dieser Serie über Männer, die politische Götter sein wollten – die allzu oft von vielen ihrer Landsleute gefördert wurden und die manchmal religiösen Eifer manipulierten oder selbst von religiösen Eliten manipuliert wurden –, haben wir gesehen, wie attraktiv die Figur des politischen Erlösers über viele Jahrhunderte, Länder und Kulturen hinweg war und ist. Das Problem ist ein universelles. Vom antiken Babylon über Griechenland und Rom bis zum Heiligen Römischen Reich in Europa, von Napoleons neurömischem Reich bis zu der schrecklichen Achse Mussolini-Hitler, von den Kommunisten Lenin und Stalin bis zu ihren asiatischen Entsprechungen Mao, Pol Pot und der koreanischen Kim-Dynastie – es scheint, dass nur wenige Regionen auf dieser Erde der Verwüstung durch irgendeinen falschen Messias entgangen sind.

Doch immer, wenn die Menschheit genug zu haben scheint von den Katastrophen, die politische Religionen und ihre Anführer hervorbringen, tritt ein weiterer Blender ins Rampenlicht, verspricht ultimativen Frieden und Wohlstand und gewinnt erheblichen Rückhalt bei den irregeleiteten und verzweifelten Massen.

Wir folgen unseren Führern nicht nur. Wir ängstlichen und abhängigen Gefolgsleute machen sie oft erst groß durch einen Prozess, der mindestens zwei Arten giftiger Ungeheuer hervorbringen kann: Führer, die sich auf die Chance stürzen, gottähnliche Rollen zu spielen, und Führer, die schließlich – weil ihre Anhänger ihnen unablässig huldigen – zu der Auffassung kommen, sie hätten tatsächlich die Kräfte, die ihre ängstlichen und bedürftigen Anhänger ihnen zuschreiben wollen.“

Harold J. Leavitt, Top Down

Ist es nicht Zeit, zu lernen, dass kein Mensch, keine menschliche Regierungsform uns letztlich erlösen oder das Heil bringen kann?

GEMEINSAMKEITEN 

Haben Möchtegern-Messiasse gemeinsame Merkmale?

Schon ein flüchtiger Blick in die Geschichte bestätigt dies. Das auffallendste Merkmal ist, dass es solchen Männern gelingt, den Eindruck zu erwecken, sie seien göttlich oder hätten einen göttlichen Auftrag, alle menschlichen Probleme zu lösen und auf diese Weise ihre Macht zu festigen. Ein Weiteres ist, dass sie sich mit der Sonne oder der Quelle des Lichts gleichsetzen. Auch sind sie durchwegs fasziniert vom Römischen Reich und/oder früheren falschen Messiassen; und die Zeit ihrer Herrschaft ist von der Ausmerzung aller wirklichen oder vermeintlichen Gegner gekennzeichnet.

Wie sieht wohl der letzte, abschließende falsche Messias aus? Abschließend ist sicher die angemessene Bezeichnung, da wir nicht wissen können, ob der nächste Blender der letzte sein wird. Doch es gibt Hinweise darauf, dass es einmal einen letzten falschen Christus geben wird – und sogar Hinweise auf seine Natur, wie wir sehen werden.

Diese Serie begann mit Julius Cäsar, dem ersten römischen Diktator, der sich mit dem Anspruch auf Göttlichkeit zu legitimieren suchte. Cäsar wollte sich eine lebenslange Herrschaft sichern, indem er behauptete, von der Göttin Venus abzustammen. Er wollte noch zu Lebzeiten als Gott verehrt werden. Das erwies sich als fataler Fehler. Dieser Hochmut vertrug sich nicht mit den Ambitionen einiger römischer Aristokraten unter der Führung von Brutus und Cassius, die ihn ermordeten.

Cäsars Streben nach Unsterblichkeit war allerdings nichts Neues. Die Vorstellung, Könige seien Götter, war lange Bestandteil der babylonischen Mythologie gewesen. Jeder neue König ergriff die Hände des Gottes Marduk in dem Tempel auf der Ziggurat und wurde dort zum Sohn Gottes erklärt. Dieserart vergöttlicht, wurde er zum Schutzherrn der babylonischen Priesterschaft.

Dem biblischen Buch Daniel zufolge ging der babylonische König Nebukadnezar so weit, dass er ein 30 Meter hohes goldenes Standbild aufstellen ließ und von seinen Untertanen verlangte, ihre Loyalität zu demonstrieren, indem sie sich davor verneigten. Es ist durchaus möglich, dass es sich dabei um ein Porträt von ihm selbst handelte, inspiriert von der Deutung eines Traums über die Zukunft, in dem er eine riesige, aus verschiedenen Metallen und Ton geformte Statue eines Mannes gesehen hatte.

Als Nebukadnezar in der Ebene vor Babylon das goldene Standbild aufrichten ließ, setzte er ein Beispiel für etwas, das der römische Kaiser Nero etwa 650 Jahre später in ähnlicher Form wiederholte. Einige antike Quellen berichten, dass dieser berüchtigte Herrscher und selbsternannte Gott eine 30-40 Meter hohe goldene Statue von sich selbst als Sonnengott Sol oder Apoll plante.

Von der Zeit des Julius Cäsar an übte das Römische Reich einen solchen Einfluss auf die Welt aus, dass es ein bleibendes Modell für Regierung und Staatsführung wurde. Nachdem das Reich im 3. Jahrhundert das Christentum angenommen hatte, gewannen Kirchenfürsten einen unheilvollen Einfluss, und politische Mächte bedienten sich ihrer, um sich zu legitimieren. Die Religion hat sich als nützliches Instrument in den Händen derer erwiesen, die sich als politische Götter hochstilisieren wollten – nicht nur für  Gläubige, sondern auch Agnostiker oder Atheisten. Und nicht nur im Abendland wurde Religion von weltlichen Mächten missbraucht. Auch Machthaber mit orthodoxem, heidnischem, buddhistischem und konfuzianischem Hintergrund haben sich den religiösen Glauben für ihr Machtstreben zunutze gemacht. Es ist in allen politischen Kulturen geschehen. Offenbar ist kein menschliches Regierungssystem gegen den Aufstieg (und Fall) eines falschen Messias gefeit. Vom heidnischen Rom bis zum christlichen Rom, von der kommunistischen Sowjetunion und der Volksrepublik China bis zu den Demokratien Italien und Deutschland hat keine Staatsform den Aufstieg des größenwahnsinnigen und mörderischen Diktator-Gottes verhindert.

Das Reich . . . war ein ,Heil‘. Religiöse Gefühle unterstützten seine Entstehung und Fortdauer; und jenes religiöse Gefühl war eines der Anbetung eines gegenwärtigen Gottes, von der Vorsehung gesandt, um den Krieg zu beenden und die Gemeinschaft der Menschheit zu retten.“

Ernest Barker, „The Conception of Empire“ (In The Legacy of Rome, HRSG. Cyril Bailey, 1923)

Wenn ein politischer Führer beginnt, in egozentrisch-religiösen Begriffen zu sprechen, um seine Stellung zu legitimieren, und seine Anhänger ihn darin bestärken, dann setzt die stete, ineinandergreifende Aufwärtsbewegung von Führer und Geführten ein. Die Anhänger wollen einen Führer mit übermenschlichen Fähigkeiten; der Führer begehrt diese Anerkennung. Die Anhänger suchen einen Messias; der Führer gelangt zur Überzeugung, dass er genau das ist.

Bei dieser Art Machtanhäufung haben Millionen von Unschuldigen den Tod gefunden. Doch nur zu oft waren viele von ihnen dieselben, die eben diesen „Gottmenschen“ in seinem Machtstreben unterstützt hatten.

FALSCHE MESSIASSE ERWARTET

Was macht einen Führer zum falschen Messias?

Die Inspiration für diese Serie war eine bestimmte Bibelpassage. Es war etwas, das Jesus Augenzeugen zufolge auf eine Frage nach dem Ende dieses Zeitalters des Menschen geantwortet hatte. Seine Jünger hatten gefragt: „… was ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters ?“ Seine Antwort enthielt eine Warnung: „Seht zu, daß euch niemand verführe! Denn viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich bin der Christus! Und sie werden viele verführen“ (Matthäus 24, 3-5; Elberfelder Übersetzung, rev. Fassung; s. auch Lukas 21 und Markus 13).

Hat sich dies im Lauf der letzten 2000 Jahre erfüllt, und wenn ja, wie? Meistens wurden die Worte Jesu nur in dem Sinne ausgelegt, dass religiöse Anführer auftreten und behaupten würden, sie seien der Messias oder der wiedergekommene Christus. Zweifellos hat es solche Verführer gegeben. Simon Bar Kosiba wurde als der Messias angekündigt, als er im Jahr 132 jüdische Krieger gegen Hadrians Rom führte. Er nahm den Namen Bar Kochba an („Sohn des Sterns“, eine messianische Anspielung); drei Jahre später wurde er getötet – und mit ihm 580 000 Gefolgsleute.

Der junge jüdische Kabbalist Sabbatai Sevi aus Smyrna konnte im 17. Jahrhundert viele Juden in Europa, Afrika und Asien überzeugen, er sei der Messias, der kommen sollte. Doch als ihn der osmanische Sultan unter Druck setzte, bekehrte er sich urplötzlich zum Islam und rettete sein Leben. Im 19. Jahrhundert gab es dann in China den selbsternannten christlichen Messias Hong Xiuquan, der in Nanking das Himmlische Reich errichtete. Während der wenigen Jahre, in denen er sich hielt, starben  20 Millionen Menschen.

Und in unserer Zeit hat der koreanische Religionsführer Sun Myung Moon behauptet, er sei der wiedergekehrte Christus. Im Jahr 2004 soll Moon tatsächlich bei einer Feier in einem US-Regierungsgebäude in Washington, D.C. gesagt haben, er sei „auf die Erde gesandt, . . . um die sechs Milliarden Menschen der Welt zu erlösen. . . . Kaiser, Könige und Präsidenten . . . haben vor Himmel und Erde erklärt, dass Reverend Sun Myung Moon kein anderer ist als der Erlöser, Messias, Wiedergekehrte Herr und wahre Vater der Menschheit.“

Doch diese hier zitierten falschen Messiasse sind nicht der gewichtigste Beweis für die Wahrheit des Jesuswortes. Sie haben zwar nicht wenige verführt, doch gibt es andere, die in ihrem oft beträchtlichen Einflussbereich die Mehrheit der Bevölkerung verführt haben. Man muss dem Begriff Messias wirklich auf den Grund gehen, um die wiederholten politisch-messianischen Anmaßungen der letzten 2000 Jahre und die damit einhergehenden Verführung und Zerstörung zu verstehen. Denn es gab viele politische Messiasse, die sich die Rolle des wahren Messias der Zukunft anzueignen versuchten, und sie haben damit viele verführt.

Das Wort Messias hat seine Wurzel im hebräischen mashiach, „Gesalbter“. Die Königsweihe eines Hebräers geschah durch Salbung mit Olivenöl und in diesem Augenblick wurde er ein „Messias“ – seine „Ölung“ machte ihn zum Gesalbten. Das entsprechende griechische Wort im Neuen Testament ist christos. Dort ist Jesus der Gesalbte, der Messias oder Christos. Daher lautet sein Name auf Griechisch Iesous Christos, auf Deutsch Jesus Christus und auf Hebräisch Yeschua Mashiach.

Der Fanatismus der guten Absichten, allumfassenden Wahrheiten und Patentlösungen wird immer eine Brutstätte für die Sakralisierung der Politik sein.“

Emilio Gentile, Le Religioni Della Politica

Ein falscher Messias ist insofern einer, der „in seinem Namen“ kommt, eine Fälschung, jemand, der sich selbst zum Gesalbten erklärt, d.h. sich die ultimative Autorität Jesu Christi anmaßt, der Menschheit Frieden und Wohlergehen zu bringen. Solche Männer behaupten dann auch, die Antwort auf alle menschlichen Probleme zu haben, ihr Volk „zu erlösen“ und „das Heil“ zu bringen. Doch wie der Prophet Jesaja erklärt, kann nur der wahre Messias eine in jeder Beziehung vollkommene Regierung etablieren, die die Menschheit so dringend braucht. Von ihm schreibt Jesaja: „… die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf daß seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, daß er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth“ (Jesaja 9, 5-6; Lutherbibel).

GOTTMENSCHEN VOR UND NACH JESUS CHRISTUS

Der römische Kaiser Augustus (27 v.Chr.-14 n.Chr.) erhob schon messianische Ansprüche, ehe Jesus vor künftigen Verführern warnte. Sein Vorgänger Julius Cäsar hatte sich als einen „universalen Retter des menschlichen Lebens“ feiern lassen. In ähnlicher Weise wurde Augustus von seinen Untertanen als „Retter“ und „Erlöser“ vergöttlicht, vielleicht z.T. weil die Pax Romana, die mit Augustus begann, der sogenannten zivilisierten Welt von Syrien bis Britannien zwischen 27 v.Chr. und 180 n.Chr. relativen Frieden verschaffte. Darüber hinaus wurden sowohl Augustus als auch sein Nachfolger Tiberius, der während des Wirkens Jesu herrschte (14-37), zum „Sohn des Gottes“ ausgerufen. Dennoch traten diese beiden „göttlichen“ Herrscher ab, und drei Jahrhunderte später, nach einer Reihe weiterer vergöttlichter Cäsaren, versank das Reich schließlich in ein finsteres Zeitalter. Die römischen „Erlöser-Kaiser“ hatten gewiss viele verführt zu glauben, sie könnten die ideale Gesellschaft verwirklichen.

Überraschend für viele, war sogar der erste angeblich christliche Kaiser Konstantin der Selbstvergöttlichung schuldig. Der Historiker John Julius Norwich schreibt, dass der Kaiser gegen Ende seines Lebens wohl einem religiösen Größenwahn verfiel: „Von Gottes auserwähltem Werkzeug war es nur ein kleiner Schritt dahin, Gott selbst zu sein, jener summus deus, der alle anderen Götter und Religionen in sich vereinte.“

Seltsamerweise vollzog der Kaiser seine Bekehrung zum Christentum erst kurz vor seinem Tod im Jahr 337, als er die Taufe empfing. Ob Taufen auf dem Sterbebett, wie manche meinen, in jener Zeit üblich waren oder nicht – Konstantins alltägliche Lebensweise sprach seiner Behauptung Hohn, ein Nachfolger von Jesus, Paulus und den frühen Aposteln zu sein. Ein Jahr nachdem er bei der folgenreichen Kirchenkonferenz (dem Konzil) von Nizäa den Vorsitz geführt hatte, beteiligte er sich an der Hinrichtung seiner Frau, seines Sohnes und des Stiefsohns seiner Schwester; dies lässt erkennen, dass er alles andere als ein wahrer Nachfolger Christi war. Aspekte des christlichen Glaubens beeinflussten seine Herrschaft, doch sein Festhalten an heidnischen Vorstellungen blieb während seines ganzen Lebens offensichtlich.

Auf grandiose Weise sorgte Konstantin dafür, dass sein Andenken lebendig blieb. Jahrelang bezeichnete er sich selbst als „den Aposteln gleich“. So plante er seine Beisetzung in einer Kirche, die während seiner Herrschaft in Konstantinopel errichtet wurde: der Kirche der Heiligen Apostel. Sein Sarkophag war von anderen Sarkophagen flankiert, die, wie es hieß, Reliquien der 12 Apostel enthielten. So war er mindestens der 13. Apostel, oder noch besser, Christus selbst in der Mitte seiner ursprünglichen Jünger – ein falscher Messias im Tod wie im Leben.

BIBLISCHE  HINWEISE 

Dieses Muster verstiegener Ansprüche auf einen Erlöserstatus hat die ganze weitere politische Geschichte durchzogen. Darauf bietet das Buch Daniel, das den Aufstieg des Römischen Reiches vorhersagt, eine zusätzliche Sicht.

Als Daniel Nebukadnezars Traum von der Zukunft deutete, sagte er ihm nicht nur, dass er selbst das goldene Haupt der Statue war, sondern erklärte ihm auch die Bedeutung ihrer übrigen Teile. Die Brust und Arme aus Silber bedeuteten das, was wir unter dem medisch-persischen Reich verstehen; Bauch und Lenden aus Kupfer das griechisch-makedonische Reich; die eisernen Beine sowie die Füße und Zehen aus Eisen und Ton versinnbildlichten das Römische Reich und seine Wiederbelebungen, die anhalten würden, bis der wahre Messias – im Traum des Königs durch einen großen fallenden Stein symbolisiert – allen menschlichen Reichen ein Ende bereiten und das Reich Gottes auf Erden errichten werde (s. Daniel 2, 31-45 sowie den Artikel „Dein Reich komme . . .“ in dieser Ausgabe).

Der Prophet gibt auch einen anderen, eigenen Traum von vier Tieren wieder. Es waren ein geflügelter Löwe, ein Bär, ein Panther mit vier Flügeln und vier Köpfen und ein ungewöhnlich blutrünstiges, wildes Raubtier. Daniel schreibt: „Danach sah ich in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, ein viertes Tier war furchtbar und schrecklich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne, fraß um sich und zermalmte, und was übrig blieb, zertrat es mit seinen Füßen. Es war auch ganz anders als die vorigen Tiere und hatte zehn Hörner.“ (Daniel 7, 7). Die Erklärung dafür ist, dass dieses Tier ein viertes Reich darstellt, das nach dem babylonischen, dem medisch-persischen und dem griechisch-makedonischen Reich kam. Das Eisen, Symbol für Härte und Kraft, das mit dem vierten Tier assoziiert ist, identifiziert es wiederum als das Römische Reich.

Im neutestamentlichen Buch Offenbarung, das gegen Ende des 1. Jh. n.Chr. geschrieben wurde, finden sich mehrere Verweise auf prophetisches Material des Buches Daniel. Der Autor, Johannes, schreibt: „Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen. Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Panther und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie ein Löwenrachen“ (Offenbarung 13, 1-2). Dieses Tier setzt sich zusammen aus den ersten drei Reichen, die Daniel erwähnt, und wie das vierte Tier in Daniels Traum hat es zehn Hörner und zusätzlich zu seinem eigenen Kopf alle Köpfe der anderen Tiere, insgesamt also sieben Köpfe. Es ist wieder das Römische Reich, doch dieses Mal bleibt es bis zum Ende dieses Zeitalters des Menschen bestehen, obwohl es schwer verwundet wird. Johannes schreibt: „Einer der Köpfe des Tieres sah aus, als hätte er eine tödliche Wunde erhalten; aber die Wunde wurde geheilt. Die ganze Erde lief dem Tier staunend nach“ (Offenbarung 13, 3; Gute Nachricht Bibel).

Das Römische Reich war durch seinen Untergang im Westen, der allgemein auf das Jahr 476 datiert wird, so schwer verwundet, dass viele es für immer vergangen glaubten. Doch wie wir in dieser Serie sahen, hat es überlebt. Es wurde „neu erfunden“, lebte in verschiedenen Formen wieder auf, doch immer mit einem Blick zurück auf die Macht und das Vorbild des alten Rom.

RÖMER IM OSTEN UND WESTEN

Die erste derartige Wiederbelebung bewerkstelligte der byzantinische Kaiser Justinian (527-565). Er beherrschte von Konstantinopel aus den verbliebenen östlichen Teil des Römischen Reiches und konnte Italien sowie seine nordafrikanischen Kolonien zurückerobern. Die Religionspolitik des Kaisers betonte die Einheit von Staat und Kirche und die Lehre, dass das Reich das irdische Gegenstück eines himmlischen Reiches sei. Sich selbst sah er als Vizeregent und irdisches Gegenstück Christi und als Verteidiger des reinen Glaubens. Dennoch zögerte er nicht, einen vermeintlichen Rivalen seines Onkels Justin zu vernichten und nach einem Aufstand seiner Untertanen 30 000 von ihnen abschlachten zu lassen – nicht gerade der Christus, den wir von der Botschaft des Evangeliums her kennen!

Bald nach Justinians Tod ging es mit dem Reich wieder bergab, doch nur 200 Jahre später kam ein König an die Macht, der der Aufgabe gewachsen war, das Reich im Westen zu erneuern. Am Weihnachtstag des Jahres 800 wurde der Frankenkönig Karl zum Kaiser der Römer, als Papst Leo III. ihm nach der Messe im Petersdom die Krone aufsetzte. Wie der italienische Historiker Alessandro Barbero bemerkt, bestätigte das Volk Roms Karl den Großen als Kaiser, „ebenso, wie sie in früheren Zeiten Augustus und Konstantin bestätigt hatten. So wurde der fränkische König Nachfolger der römischen Kaiser.“

Und so wurde das Weströmische Reich wiedergeboren.

Karl der Große verstand sich als von Gott eingesetzt und verantwortlich für die Verbreitung und Unterstützung der römisch-christlichen Religion in seinem ganzen Reich. Rosamond McKitterick schreibt in ihrem Atlas of the Medieval World, seine Bemühungen, die Angelegenheiten der Kirche zu organisieren, „erwiesen sich als auf lange Sicht wirksames Mittel für den Kulturimperialismus und die Verbreitung des fränkischen Einflusses sowie des lateinischen Christentums“.

Laut Barbero sah sich Karl der Große als biblischer David, der gegen heidnische Feinde kämpfte. Doch sein Massaker an 4500 unbewaffneten Sachsen, die sich ergeben hatten, fügte seinem Ansehen erheblichen Schaden zu. Wie andere Herrscher, die der dominierenden reinen Lehre grausam Geltung verschafften, war Karl der Große mit seinen heftigen Reaktionen auf sächsischen Ungehorsam weit entfernt vom Geist und von der Lehre des Neuen Testaments.

HEILIGE RÖMISCHE UND DEUTSCHE REICHE 

In den folgenden Jahrhunderten kamen und gingen immer wieder Versionen des Römischen Reiches. Wir haben die Reiche Ottos des Großen (962-973) und Karls V. (1519-56) als Beispiele für Wiederbelebungen des christlichen Römischen Reiches in Deutschland und darüber hinaus betrachtet. Waren auch sie gescheiterte Messiasse? In dem Sinn, dass sie sich, wie Konstantin und Karl der Große, als Vertreter Christi auf Erden sahen – dazu bestimmt, den römischen Reichsgedanken gemäß einer aufgezwungenen katholischen Orthodoxie zu wahren und zu verteidigen –, waren sie der Vision und Praxis des Erlösers, dem sie angeblich nachfolgten, nicht treu. In diesem Sinn waren sie Fälschungen.

Ottos Herrschaft bestimmte den Kurs der deutschen Monarchie für nahezu 900 Jahre, in denen Westeuropas Beziehung zum alten Römischen Reich durch die päpstliche Bestätigung deutscher Kaiser dokumentiert wurde, während sich das Papsttum auf die Verteidigung der römischen Kirche durch die deutschen Kaiser verließ.

Im Jahr 1519, 500 Jahre nach Otto, wurde Karl V. zum heiligen römischen Kaiser gewählt (wenn auch noch nicht gekrönt). Der Biograph Karl Brandi zitiert, was Karls Kanzler Gattinara ihm zu diesem Anlass schrieb: „Sire, Gott ist sehr gnädig mit Euch gewesen: Er hat Euch über alle Könige und Fürsten der Christenheit zu einer Macht erhoben, wie sie seit Eurem Vorfahren Karl dem Großen kein Herrscher mehr genossen hat. Er hat Euch auf den Weg zu einer Weltmonarchie gebracht, zur Einung der ganzen Christenheit unter einem einzigen Hirten“ (The Emperor Charles V, 1939). 1520 wurde Karl in Aachen, der Hauptstadt Karls des Großen, mit Ottos Kaiserkrone zum König der Römer gekrönt.

Sechzehn Jahre später hielt er als Triumphator Einzug in Rom wie einst einer seiner Vorfahren: Auf einem Schimmel und mit purpurfarbenem Umhang ritt er durch die antike Via Triumphalis. Wie die Kunsthistorikerin Yona Pinson schreibt, hatte Karl „sich wieder als rechtmäßiger Nachfolger der Kaiser des Römischen Reiches etabliert“, nach dem Bild des Marcus Aurelius als Eroberer zu Pferde. Zwar dankte Karl später ab und beschloss seinen Lebensabend abgeschieden in Spanien, doch entsprechend seinem Selbstverständnis als katholischer Soldat Gottes hielt er am römischen Reichsgedanken und der Religion, die dieser beinhaltete, lebenslang fest. Bei Karls enormem öffentlichem Auftritt, dem kaiserlichen Einzug in Lille, so Frau Pinson, wurde das „Bild des idealen Kaisers“ gezeigt, in dem „der wahre Erbe und Nachfolger Karls des Großen, Verteidiger der Kirche und des Glaubens“ mit „Cäsar als Weltherrscher“ verschmolz.

NEO-CÄSAREN 

Die nächste Neuerfindung des Reiches traf Frankreich nach der Revolution. Es war Napoleon Bonaparte gelungen, an die Macht zu kommen, und 1804 bereitete er seine Krönung zum Kaiser vor. Drei Monate vor der Zeremonie meditierte er an der Gruft Karls des Großen. Der „Vater Europas“ faszinierte ihn – manche sagen, so sehr, dass er sich für eine Reinkarnation des früheren Kaisers hielt. Bei der Krönungszeremonie war der Einfluss des Monarchen aus dem 9. Jahrhundert in mehrfacher Weise erkennbar. Selbst die Krone war eine Kopie der Krone, die Karl der Große getragen hatte. Offizielle Krönungsgemälde zeigen Napoleon als römischen Kaiser, manchmal mit einem Siegerkranz aus goldenem Lorbeer.

Wie andere französische Herrscher vor ihm, war sich Napoleon seiner Bestimmung gewiss, das Heilige Römische Reich zu führen. Der österreichische Kaiser, der Habsburger Franz II., löste das Reich im Jahr 1806 auf, damit Napoleon es nicht usurpieren konnte. Doch dieser strebte weiterhin nach Dynastie und Weltherrschaft. Zwischen 1792 und 1815 führte seine Angriffslust seine Truppen in fast jeden Winkel der Welt.

Er scheiterte schließlich, und mit seinem Tod schien die Idee des mittelalterlichen Römischen Reiches unterzugehen. Doch sein Bild lebte in der Fantasie einiger Menschen weiter – auch der Männer, die 1871 das Deutsche Reich (das „Zweite Reich“) gründeten. Tatsächlich beeinflusste die bleibende Erinnerung an Karl den Großen, Otto den Großen und Friedrich II. offenbar auch Adolf Hitler, dessen Drittes Reich zusammen mit Benito Mussolinis faschistischem Italien im 20. Jahrhundert solche Verheerungen anrichtete.

Es war Mussolini, der im April 1922, ein paar Monate vor seinem Marsch auf Rom, der ihm zur nationalen Macht verhalf, erklärt hatte: „Wir träumen vom römischen Italien – weise und stark, diszipliniert und kaiserlich. Vieles des unsterblichen Geistes des alten Rom ist wiedergeboren im Faschismus!“ Peter Godman drückt es in seiner Analyse dieser Rede so aus: „Mussolini wollte als neuer Augustus, als zweiter Cäsar betrachtet werden . . . aber auch als der Erlöser“. 1936, als seine Truppen erfolgreich in Äthiopien einmarschiert waren, konnte der Duce erklären, dass Italien wieder sein Reich hatte, „ein Reich des Friedens, ein Reich der Zivilisation und Menschlichkeit“. Doch sein Achsenbündnis mit Hitler bracht ihn zu Fall und entlarvte die Hohlheit seiner messianischen Behauptungen. Wenige Tage nach Hitlers Niederlage wurde Mussolini von Partisanen gefangen und hingerichtet; seine Leiche wurde öffentlich zur Schau gestellt und geschändet.

Was Hitler betrifft, so kannte sein Größenwahn keine Grenzen mehr, als er zu der Überzeugung kam, nicht nur der Vorläufer des messianischen Führers zu sein, den Deutschland seiner Meinung nach brauchte, sondern die Erfüllung. Hitlers Reden waren häufig angereichert mit religiösen Begriffen wie „Vorsehung“, „Segen“, „Glauben“, „Herrgott“, „Rettung“, um nur einige zu nennen – sie unterstreichen sein messianisches Sendungsbewusstsein. Der Historiker Sir Ian Kershaw schreibt, im Jahr 1936 sei Hitlers „narzisstische Selbstverherrlichung infolge der Fast-Vergöttlichung, die seine Anhänger auf ihn projizierten, ins Unermessliche angeschwollen. Nun sah er sich selbst als unfehlbar. . . . Das deutsche Volk hatte diese persönliche Hybris des Führers geformt. Nun stand ihr vollständiger Ausdruck bevor – das größte Wagnis in der Geschichte der Nation –, die Ergreifung der Macht über den gesamten europäischen Kontinent.“ 

Natürlich schlug das große Wagnis fehl, und Hitler erschoss sich in seinem Berliner Bunker, als sich sowjetische Truppen 1945 anschickten, die Stadt einzunehmen – ein wahrhaft gescheiterter und falscher Messias.

Neben Neuerfindungen des Römischen Reiches im engeren Sinn betrachteten wir auch Lenin, Stalin und Mao sowie Maos messianischen Ableger Pol Pot und die nordkoreanischen Kims. Hätten Raum und Zeit es erlaubt, so hätten wir darüber hinaus auch den Herrscherkult Japans untersuchen können, wo der Kaiser ebenfalls als göttlich angesehen wird. Sicher ist jedoch, dass Asiens kommunistische Führer den Status von Messiassen anstrebten, und sicher ist die historische Verbindung der Sowjetunion mit Rom durch die orthodoxe Kirche und ihre Auffassung von Moskau als dem dritten Rom. Auch für das Pol-Pot-Regime und die Kim-Dynastie spielte Religion eine Rolle. Bei dem einen war es eine buddhistische Sekte, bei der anderen eine neue, synkretistische Religion – eine Mischung aus Pfingstlertum und dem koreanischen Geist der Selbstständigkeit („Chuch’e“). Die Verbindung mit Rom ist in diesen beiden Fällen eher schwach, der messianische Anspruch hingegen mehr als offensichtlich. Sicher ist auch, dass die falsche Befreiung, die diese Möchtegern-Messiasse versprachen, Millionen Menschen das Leben kostete.

NACHFOLGER IN SICHT?

Ist das Bild des Reichs nun wahrhaftig für immer verschwunden? Wenn die Vergangenheit hierzu eine Vorlage ist, wäre es sicher voreilig, so etwas zu behaupten. Das römische imperiale Modell, in Verbindung mit einer klar definierten religiösen Tradition, ist viele Male auferstanden und wieder verschwunden. Es gibt heute manche, die das Europa der 27 (die gegenwärtige Europäische Union) im Licht einer imperialen Erneuerung des alten Reichs sehen. Die Staatsführer dieser Länder trafen sich 2004 in Campidoglio, dem politischen und religiösen Zentrum des alten Rom. Im prunkvollen Orazi- und Curiazi-Saal, wo 1957 die Gründungsdokumente der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Römischen Verträge, unterzeichnet wurden, stimmten die Staatsführer der (noch nicht ratifizierten) Verfassung zu. Die Symbolik der Umgebung dürfte den meisten Anwesenden entgangen sein – man befand sich „im Angesicht“ der Statuen der beiden Päpste aus dem 17. Jahrhundert, Urban VIII. und seines Nachfolgers Innozenz X. Es waren diese beiden Päpste, die einst die Teilung Europas und das Ende des Heiligen Römischen Reiches erlebt hatten, die Folgen des 30-jährigen Krieges und des Westfälischen Friedens.

Die Quellen, aus denen Glaubensvorstellungen und Mythen strömen, um der Politik etwas Heiliges zu geben, dürften in nächster Zukunft nicht austrocknen; dennoch lässt sich weiterhin unmöglich voraussagen, in welcher Weise die neuen bürgerlichen und politischen Religionen entstehen könnten oder was die Folgen sein könnten.“

Emilio Gentile, Le Religioni Della Politica

Trotz der Proteste des Vatikans vermieden die Väter der Verfassung sorgfältig, Europas christliches Erbe zu erwähnen. Gegenwärtig wird die EU lediglich als säkulare Macht gesehen. Ihre militärische Macht ist erst in den Anfängen ihrer Entwicklung, und eine gemeinsame Außenpolitik steht derzeit noch weitgehend aus, doch die Union hat in ihren zahlreichen Mitgliedstaaten bereits unterschiedlich weit reichende wirtschaftliche, legislative und judikative Machtbefugnisse. Ihre geografische Ausdehnung beginnt dem Original Konkurrenz zu machen. In Bezug auf Daniels Traum könnte sich die Europäische Union also wieder als Wegbereiter einer weiteren, machtvollen Neuauflage der Idee und des Bildes des alten Römischen Reichs erweisen.

Bei den historischen Beispielen, die wir betrachtet haben, war jede Manifestation des falschen Messias und jedes neue „Römische Reich“ anders als seine Vorgänger. Auch die Intervalle zwischen diesen Personen und Systemen waren unterschiedlich. Dies legt die Vermutung nahe, dass es zwar unmöglich ist, vorauszusagen, wann ein solcher Führer und ein solches System kommen werden und welche Herrschaftsform der letzte falsche Messias schließlich annehmen wird. Es wird aber sicher etwas Neuartiges sein, und – da die Welt und ihre Wirtschaft heute wirklich global sind – sehr wahrscheinlich von fast universeller Anziehungskraft. Mit Sicherheit werden sowohl die Führung als auch das System den Anschein erwecken, sie könnten alle Probleme der Menschheit auf globaler Basis lösen. Emilio Gentile räumt die allen Voraussagen eigene Problematik ein, doch er warnt: „Wir können nicht ausschließen, dass aus den Schwierigkeiten, Spannungen und Konflikten der nächsten Phase tiefgreifenden, traumatischen und irreversiblen Wandels neue Gestalten hervorgehen, die überzeugt sein werden, sie hätten den wahren Sinn und Zweck des menschlichen Daseins endlich verstanden. Gerüstet mit dieser Patentlösung für alle Übel werden sie ihrer Idee und Bewegung etwas Heiliges geben und es für gut und richtig halten, einen heiligen Krieg gegen Verbohrtheit, Intoleranz und Gewalt zu führen, um eine bessere Welt zu errichten.“

Wenn sich das irgendwann kommende abschließende System dazu noch das Mäntelchen der Demokratie, freien Marktwirtschaft und irgendeiner ökumenischen Form religiöser Autorität für alle Völker und Religionen umhängt, wäre dies für die Menschheit ein Angebot, das aus heutiger Sicht zu gut wäre, um es abzulehnen. Schon heute sehen offenbar viele in einer globalisierten, demokratischen Weltordnung ihr einziges Heil.

Interessanterweise enthält das oft rätselhafte biblische Buch der Offenbarung Passagen, in denen ein letztes System und seine Führung beschrieben werden – eine Art Erweiterung der alten römischen Ordnung. Dieses System wird weltweit akzeptiert werden (Offenbarung 13, 7-8), und es wird auf sehr breiter Basis Frieden und Wohlstand bringen, ehe es ebenfalls untergeht. Was das Buch Offenbarung beschreibt, ist ein globales Wirtschafts-, Militär-, Politik- und Religionssystem. Eine Beschreibung seiner Handelsgüter gibt Kapitel 18, 11-13, unter anderem: „Gold und Silber und Edelsteine und Perlen und feines Leinen und Purpur und Seide und Scharlach und allerlei wohlriechende Hölzer und allerlei Gerät aus Elfenbein und allerlei Gerät aus kostbarem Holz und Erz und Eisen und Marmor und Zimt und Balsam und Räucherwerk und Myrrhe und Weihrauch und Wein und Öl und feinstes Mehl und Weizen und Vieh und Schafe und Pferde und Wagen und Leiber und Seelen von Menschen“. Es liest sich fast wie ein moderner Handelsbericht. Setzt man für „Pferde und Wagen“ „Rüstungsgüter“ ein, so hat man, was in der Welt heute gehandelt wird. Unheilvollerweise handelt das System auch mit Menschen – ihrem Leben, Verstand und ihren Körpern.

Es ist dasselbe System, das von Daniel und Johannes beschrieben wird, das endgültig zerbrochen wird, wenn der eine, wahre Messias kommt, um ein Reich des allumfassenden Friedens, des Rechts und der Gerechtigkeit zu errichten. Dann erst wird, zur ewigen Erleichterung der Menschheit, das Zeitalter der falschen Messiasse vorbei sein.