Politik als Religion

Religion und Politik ergeben keine Harmonie, pflegt man zu sagen; vielleicht gehört es deshalb zum „guten Ton“ der zwanglosen Unterhaltung, beide Themen außen vor zu lassen. Die Geschichte zeigt allerdings, dass beides seit Langem miteinander verflochten ist. Von antiken Monarchien bis zu totalitären und demokratischen Regierungen der Moderne – in allen politischen Systemen der Welt sind religiöse Elemente zu finden.

Vor nicht allzu langer Zeit galt die Religion jedoch als tot und für das öffentliche Leben nicht mehr von Belang. Die Gesellschaften wurden modernisiert und verweltlicht und die Religion trat unweigerlich in den Hintergrund. Doch in den vergangenen Jahren ist ihre Rolle im politischen Leben wieder sichtbarer geworden. Natürlich haben das Erstarken von Fundamentalismen verschiedener Art und der Zusammenbruch des Sowjetsystems dazu beigetragen, dass Religion in der Politik wieder mehr Bedeutung hat.

Der italienische Autor und Historiker Emilio Gentile befasst sich mit einem Phänomen, das er die „Sakralisierung“ der Politik nennt: Aspekte eines weltlichen, politischen Systems werden zu etwas gemacht, das schon fast an das Sakrale oder Heilige grenzt. Dies ist weit älter als das jüngste Comeback der Religion als Faktor internationaler Beziehungen. Als Gentile 2009 in einem Vision-Interview gebeten wurde, den Begriff „Sakralisierung“ zu erklären, antwortete er: „Ich meine, dass eine weltliche Größe in der Politik – etwa ,das Vaterland‘, ,die Rasse‘, ,die Revolution‘, ,das Proletariat‘ – verabsolutiert wird und Gehorsam von Menschen fordert, die glauben, dass von jener Größe der Sinn des Lebens kommt und dass man bereit sein soll, dafür sein Leben zu opfern. In jeder Nation opfert man sein Leben im Krieg, um das Land zu retten. Auf diese Weise wird das Land ein säkularer Gott.“

Gentiles Forschung erstreckt sich über alle politischen Systeme. Bezüglich einiger Elemente politischer Sakralisierung in der heutigen Welt nutzte er – vielleicht überraschend – ein Symbol der Freiheit: „Schauen wir uns als Erstes den Dollarschein an. Wenn man ihn umdreht, sieht man das nationale Motto ,In God We Trust‘ [Wir vertrauen auf Gott]. Aber in diesem Satz ist keine Definition für Gott enthalten. Ist es der biblische Gott? Ist es der muslimische Gott? Nein, es ist der Gott Amerikas.

Das [Lincoln] Memorial stellt nun einen heiligen Geist dar, den Retter der Union und großen Befreier der Sklaven. Und in gewisser Weise ist Lincoln noch immer präsent als griechischer Theologe der bürgerlichen Religion Amerikas, wie viele US-Wissenschaftler ihn definiert haben.“

Emilio Gentile, Vision Interview, 2009

Und dann haben Sie das Symbol des Großen Siegels, die Pyramide, Gottes Auge über dem heiligen Dreieck und zwei lateinische Sätze … Das sind religiöse Elemente, aber sie beziehen sich nicht auf den Gott der Bibel oder den christlichen oder muslimischen Gott; sie beziehen sich auf das Gebilde Amerika, die Nation Amerika, die Republik Amerika.“

Gentile fuhr fort: „Diese Art Symbolik kann man auch in Monumenten der USA sehen. Es ist sehr schwierig, sich dem Lincoln Memorial zu nähern, ohne dabei ein Gefühl des Religiösen, des Heiligen zu haben, das Lincoln in diesem Tempel umgibt. Es ist ein klares Beispiel für die Sakralisierung der Politik, denn Lincoln war kein von Gott gesandter Sohn, er war eine politische Persönlichkeit.“

Das bedeutet nicht, dass man nicht mit dem Staat kooperieren sollte, sondern einfach, dass wir seine Verwendung religiöser Elemente erkennen sollten.

Mit einem ähnlichen Thema wurde Jesus einmal von seinen religiös-politischen Gegnern herausgefordert. Um ihn in eine Falle zu locken, fragten sie: „Ist’s recht, dass man dem Kaiser Steuern zahlt, oder nicht?“ Er fragte zurück, wer auf den Münzen abgebildet sei. Natürlich war es Caesar. Da antwortete er: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Matthäus 22, 17, 21). So entging er ihrer Fangfrage – er unterschied zwischen dem Weltlichen und dem Religiösen, wies aber darauf hin, dass man in beiden Bereichen seine Schuldigkeit zu tun hat. Unausgesprochen blieb, was geschieht, wenn die Gesetze der Menschen im Widerspruch zu den Gesetzen Gottes stehen. Für den Gläubigen gibt der Apostel Petrus die Antwort: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5, 29). Im Lauf der Jahrhunderte mussten zahllose Menschen diese Entscheidung treffen und die Folgen tragen.