Hungersnot: Ursachen und Abhilfe

Nahrungsmangel und Hungersnot werden, wie so viele andere Katastrophen auf der Erde, zunehmend als direkte oder indirekte Folge menschlichen Unrechts erkannt. Doch können wir auch die Lösung selbst bewerkstelligen?

Die bengalische Hungersnot von 1943 kostete mindestens drei Millionen Menschen das Leben. Während der mehrjährigen Hungerkatastrophen in der Sowjetunion, die 1921, 1931 und 1946 begannen, starben Schätzungen zufolge 19 Millionen. Die Hungersnot in China von 1959 bis 1961 forderte rund 30 Millionen Todesopfer. Weltweit gab es im 20. Jahrhundert über 100 Millionen Hungertote. Natürlich ist verheerende Lebensmittelknappheit kein modernes Phänomen; eine der frühesten Darstellungen einer Hungersnot, die vor ca. 3500 v. Chr. in Ägypten angefertigt wurde, ist als Relief am Aufstieg zur Unas-Pyramide aus der fünften Dynastie erhalten.

Es wäre simpel, all diese und die vielen anderen Hungersnöte der Geschichte als natürliche Folge eines Missverhältnisses zwischen Bevölkerung und verfügbarer Nahrung zu erklären. Eine alte Quelle der Weisheit, das biblische Buch Prediger (5, 10), sagt dazu: „Wo viele Güter sind, da sind viele, die sie aufessen“ (alle Bibelzitate Luther-Bibel 1984). Wenn Nahrung knapp wird, sind die zusätzlichen Esser Konkurrenten um die begrenzten Ressourcen.

Thomas Robert Malthus gab 1803 zu verstehen, dass mehr dahintersteckt: „Obgleich das Prinzip der Bevölkerung absolut keine Hungersnot hervorbringen kann, bereitet es doch in vollständigster Weise den Weg für eine solche; und da es alle unteren Klassen von Menschen nötigt, von nahezu der geringsten Menge an Nahrung zu existieren, die sie am Leben hält, macht es selbst einen geringen Ausfall aufgrund schlechter Witterung zu einem schweren Mangel; und deshalb kann es mit Fug und Recht als eine der Hauptursachen von Hungersnöten bezeichnet werden.“

Was sind dann die anderen Ursachen? Über die bengalische Hungersnot erschien 1945 ein Bericht von der „Famine Inquiry Commission“. Ihre Feststellungen über die genauen Ursachen sind noch immer sehr umstritten. Unterschiedlichen Quellen zufolge waren es Wirbelstürme, der Befall der Reisfelder mit der Braunfleckenkrankheit, die Unmöglichkeit, Reis aus Burma zu importieren, weil dort Krieg herrschte, kriegsbedingte Hamsterkäufe, die Politik der Verweigerung von Booten, um eine japanische Invasion zu verhindern, die Inkompetenz lokaler Politiker und die Kolonialmacht, die der Versorgung ihrer Truppen Vorrang gab. Insbesondere der Nobelpreisträger Amartya Sen argumentiert, die Hauptursache sei nicht das Fehlen von Nahrungsmitteln per se gewesen, sondern Marktkräfte, eine Hyperinflation, ausgelöst durch den kriegsbedingten Boom und das übermäßige Drucken von Geld, um den Krieg zu finanzieren, hätten den Preis von Reis in für Arme unerschwingliche Höhen getrieben. Und so dauert die Diskussion an. Der Agrarwissenschaftler und Journalist Joel K. Bourne Jr., der für National Geographic schreibt, meint: „Jetzt scheint relativ klar, dass ein Zusammenspiel aus echtem Malthusschem Mangel an Nahrungsmitteln und ungeeigneter Politik der Regierung die bengalische Hungersnot von 1943 bewirkte.“ 

Die bengalische Hungersnot erwies sich als Wendepunkt in der Reaktion auf Hungersnöte wie auch der weltweiten Nahrungsmittelversorgung.“

Joel K. Bourne Jr., The End of Plenty: The Race to Feed a Crowded World

Die Ursachen einer Hungersnot sind je nach Ort und Zeit verschieden. Klima und Naturkatastrophen spielen ebenso eine Rolle wie Pflanzenschädlinge und -krankheiten, da sie schlechte Ernten zur Folge haben. Bevölkerungswachstum ist natürlich eine Belastung für das System, und Marktkräfte können die Versorgung und die Bezahlbarkeit untergraben. Das Verhalten der Menschen kann diese Faktoren noch weiter verstärken: Korruption, Hamsterkäufe und Schieberei, falsche Entscheidungen, schlechte Politik und das Versäumnis, eine Infrastruktur zu schaffen, die eine gerechte Verteilung in Zeiten der Not ermöglicht – all das verschlimmert die Lage. Doch das ist nicht alles, was der Mensch dazu beiträgt, Hungersnöte zu verursachen oder zu verlängern.

Laut Cormac Ó Gráda, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Dublin University, waren Hungersnöte früher oft die Folge von Missernten, im 20. Jahrhundert jedoch häufiger das Resultat von Krieg und Ideologie: „Mehrere große Hungersnöte des letzten Jahrhunderts wären unter friedlicheren, stabileren politischen Bedingungen weniger tödlich gewesen – oder vielleicht gar nicht eingetreten.“

Dem Markt Lebensmittel vorzuenthalten, um Streitkräfte zu versorgen, wie bei der bengalischen Hungersnot geschehen, Seeblockaden wie gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg und die Blockade Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg sind Beispiele für eine gezielte Verknappung in der modernen Zeit. In früheren Jahrhunderten geschah es oft, dass Heere Nahrungsmangel und Hungersnot verursachten, weil sie sich nahmen, was sie fanden, die Reserven der Einheimischen aufbrauchten, die Felder plünderten und auch noch die nächste Ernte vernichteten, ehe sie weiterzogen. Auch durch die Belagerung einer Stadt konnte eine örtlich begrenzte Hungersnot ausgelöst werden, bei der oft mehr Menschen starben als im Kampf gegen die Belagerer. 

Alte Probleme, neue Herausforderungen

Sind solche Szenarien heute einfach Geschichte? Lassen sich weitere Hungersnöte abwenden, insbesondere in den bisherigen Größenordnungen? Malthus ahnte nichts von der industriellen Revolution und dem darauf folgenden Anstieg von Welthandel und Entwicklung. Und die Neo-Malthusianer ahnten nichts von der grünen Revolution. Über die Erträge des Weizenanbaus durch die Einführung neuartigen Saatguts und den verstärkten Einsatz von Chemikalien und künstlicher Bewässerung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts schreibt Bourne: „Es dauerte tausend Jahre, bis Bauern die Weizenerträge von einer halben Tonne pro Hektar auf 2 Tonnen gesteigert hatten. […] Es dauerte nur 40 Jahre, sie von 2 auf 6 Tonnen zu steigern.“

Abgesehen von den Auswirkungen von Kriegen und Bürgeraufständen meint Ó Gráda, „bei gutem Willen auf allen Seiten“ ließen sich Hungersnöte relativ einfach verhindern. Ein höheres globales BIP, geringere Transportkosten, bessere Kommunikation und Infrastruktur für die Versorgung, flächendeckende Hilfsangebote und mehr medizinisches Wissen – all dies bezeichnet er als potenziell hilfreich, damit Hungersnöte künftig nicht mehr vorkommen.

Allerdings gibt es neue Herausforderungen. Erderwärmung und Unwetter können dazu führen, dass weniger landwirtschaftlich nutzbares Land zur Verfügung steht, wenn die Auswirkungen des Klimawandels spürbar werden. Auch durch Bodenerosion und Zersiedelung gehen Anbauflächen verloren. Ein weiterer Faktor ist der Wassermangel, da die für viele Feldfrüchte notwendige Bewässerung die Wasseradern und andere Wasserressourcen aufzehrt und das Grundwasser in vielen wichtigen Anbaugebieten absenkt. Für die Produktion von Biotreibstoff wird noch mehr Land in Anspruch genommen. Da die Welt wohlhabender wird und verstärkt Fleisch nachfragt, wird auch für den Anbau von Viehfutter mehr Land benötigt. Ein weiterer Faktor, der Nachfrage und Preise beeinflusst, ist die Einwirkung von Anlegern und Spekulanten auf diese Szenarien an den globalen Warenbörsen. Hinzu kommt, dass die Weltbevölkerung von derzeit rund 7,3 Milliarden bis 2050 auf neun Milliarden anwachsen soll. Bourne zitiert Gebisa Ejeta, Träger des Welternährungspreises 2009: Um diese Herausforderung zu bewältigen, „müssen wir lernen, in den nächsten vier Jahrzehnten so viel Nahrung zu erzeugen wie seit Beginn der Zivilisation“.

Bourne selbst meint: „Nahrung für über 9 Milliarden Menschen zu erzeugen, ohne den Boden, das Wasser, die Meere und das Klima zu zerstören, wird die bei weitem größte Herausforderung sein, mit der die Menschheit jemals konfrontiert war.“ 

Wenn wir nicht eine weltweite Anstrengung unternehmen, um unseren Kurs zu ändern, werden Urelemente, die es unserer Spezies ermöglicht haben, zu gedeihen und die Erde zu beherrschen, uns nicht mehr viel länger am Leben erhalten.“

Joel K. Bourne Jr., The End of Plenty: The Race to Feed a Crowded World

Können wir dieser Herausforderung gerecht werden? Wird uns die blaue Revolution retten, wenn wir die Aquakultur stark ausweiten und im Meer ebenso Nahrungsmittel anbauen wie an Land? Werden wir mithilfe von Gentechnik und anderen neuen Technologien Feldfrüchte anbauen können, die höhere Erträge bringen, weniger krankheitsanfällig sind und in einem veränderten Klima gedeihen? Werden wir einst zurückblicken und uns fragen, was die ganze Aufregung sollte?

Betrachten wir die Situation als Ganzes: Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gibt es derzeit genügend Nahrung für alle Erdbewohner. Dennoch haben – abgesehen von all den zusätzlichen Schwierigkeiten und Nöten – weltweit rund 795 Millionen Menschen nicht genug zu essen, um ein gesundes, aktives Leben zu führen – das ist etwa jeder neunte Mensch auf der Erde. An Mangelernährung sterben jedes Jahr 3,1 Millionen Kinder unter fünf Jahren, rund 100 Millionen Kinder in Entwicklungsländern sind untergewichtig. Von „alles gut“ kann eindeutig nicht die Rede sein, und von dieser prekären Position aus blicken wir in eine ungewisse Zukunft. 

Die einzige Hoffnung?

Die Novemberausgabe von National Geographic war 2015 hauptsächlich dem Klimawandel gewidmet („Wie geht’s der Erde wirklich?“). Ein Artikel mit dem Titel „Erkundung von oben – am Puls der Erde“ stellt mehrere neue Technologien vor, mit denen der Gesundheitszustand der verschiedenen Ökosysteme unserer Erde – zum Beispiel Wald, Land, Wasser – gemessen und überwacht werden kann. Der Artikel schließt mit den Worten: „Und wenn wir die Details erkennen, können wir uns auch das große Ganze bewusst machen: Dass wir Menschen die Einzigen sind, die das, was wir angerichtet haben, vielleicht wiedergutmachen können. Auch dank unserer Technologie.“

Zwar ist es gut, dass wir für unser Handeln die Verantwortung übernehmen und tun, was wir können, um negative Situationen zu korrigieren, doch zwischen dieser Haltung und übermäßigem Selbstvertrauen liegt nur ein kleiner Schritt. „Das kriegen wir repariert“ scheint für alles zu gelten. Bourne schließt sein Buch mit einem Verweis auf den biblischen Bericht über Jona, den Gott nach Ninive sandte, um die Einwohner zu warnen, dass ihnen eine Katastrophe drohe, wenn sie ihr Verhalten nicht änderten. Daraus sollen wir schließen, dass wir daran, wie wir Nahrungsmittel anbauen, verarbeiten und verbrauchen und wie wir mit unserer natürlichen Umwelt umgehen, etwas ändern müssen. Das ist sicherlich wahr, doch Bourne verwendet jenen Bericht der Bibel nur als Allegorie, während es bei Jonas Warnung eigentlich darum ging, dass die Menschen sich in ihrem Wesen von Grund auf ändern mussten. Das Volk von Ninive sollte seine Gewalttätigkeit und Schlechtigkeit bereuen und sich demütig Gott unterordnen.

Diese Botschaft hat Gott den Menschen über Jahrtausende hinweg immer wieder mitgeteilt. Seinem auserwählten Volk Israel bot er Segnungen an, allerdings unter einer Bedingung: „Gesegnet wirst du sein in der Stadt, gesegnet wirst du sein auf dem Acker. Gesegnet wird sein die Frucht deines Leibes, der Ertrag deines Ackers und die Jungtiere deines Viehs, deiner Rinder und deiner Schafe. Gesegnet wird sein dein Korb und dein Backtrog. […] Der HERR wird gebieten dem Segen, dass er mit dir sei in dem, was du besitzt, und in allem, was du unternimmst, […] weil du die Gebote des HERRN, deines Gottes, hältst und in seinen Wegen wandelst“ (5. Mose 28, 1–9; Kursivsetzung vom Autor; siehe auch Verse 10–14).

Letztlich handelte Israel nicht, wie Gott ihm geboten hatte, und als Konsequenz bekam es das Gegenteil dieser Segnungen zu spüren. Dies ist im Großen und Ganzen die Geschichte der Menschen: Wir handeln nach eigenem Gutdünken, machen unsere eigenen Fehler und unternehmen unsere eigenen Reparaturversuche. Zum Glück hat Gott einen Plan, wie die Menschheit vor sich selbst zu retten ist. Sein direktes Eingreifen in menschliche Belange wird einmal landwirtschaftlichen Überfluss bewirken: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass man zugleich ackern und ernten, zugleich keltern und säen wird. Und die Berge werden von süßem Wein triefen, und alle Hügel werden fruchtbar sein“ (Amos 9, 13).

Es wird einmal eine Zeit geben, in der alle genug zu essen und zu trinken haben. Wie viel wir bis dahin ertragen müssen, hängt davon ab, welche Fehler wir machen und wie lange wir sie weiter zu reparieren versuchen – mit derselben fehlerhaften, menschlichen Logik, die sie überhaupt erst verursacht hat. Die Schöpfung, zu der wir gehören, muss mit ihrem Schöpfer versöhnt werden. Erst dann wird eine Zeit der Fülle und des Überflusses für alle Wirklichkeit werden.