Geist und Materie verschmelzen

Aus dem Archiv von Vision. (Neuveröffentlicht im Frühjahr 2022, aus unserer Ausgabe vom Sommer 2004)

Vision Herausgeber David Hulme sprach kürzlich mit Jeffrey M. Schwartz, Professor für Psychiatrie an der University of California in Los Angeles und Verfasser mehrerer Bücher über die Hirnforschung.

 

DH Was ist unter dem Begriff Neuroplastizität zu verstehen?

JS Das bedeutet, dass Umweltfaktoren das Funktionieren des Gehirns verändern. Wenn man einfache Tiere nimmt, zum Beispiel Nagetiere, und sie in eine angereicherte Umgebung setzt, kann man sehen, dass sich in ihrem Gehirn physische Veränderungen vollziehen. Wirklich interessant wird das in der „selbstgesteuerten Neuroplastizität“. Der Mensch hat die einzigartige Fähigkeit, diese Neuverdrahtungsmechanismen für sich zu nutzen. Ein Mensch kann lernen, die Reaktionsweise seines Gehirns zu verändern, indem er seine Aufmerksamkeit anders ausrichtet. Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit [Anm. d. Red.: Denkrichtung] beeinflusst die Reaktionsweise des Gehirns, und diese Veränderungen hinterlassen physische Spuren, die man mit bildgebenden Verfahren im Gehirn sichtbar machen kann.

DH Ist der Begriff der selbstgesteuerten Neuroplastizität schon lange bekannt?

JS Nein. Tatsächlich habe ich ihn in dem Buch The Mind and the Brain [2002] geprägt, das ich zusammen mit Sharon Begley vom Wall Street Journal geschrieben habe. Die Erklärung, wie der Geist das Gehirn verändern kann, wurde erstmals in Zusammenarbeit mit meinem Kollegen aus der Physik, Henry Stapp, entwickelt. Wie sich zeigt, hat die Quantenphysik eine sehr schlüssige Erklärung dafür, wie Aufmerksamkeit das Funktionieren des Gehirns verändern kann - wie Aufmerksamkeit die Schaltkreise des Gehirns funktionsfähig halten kann.

Was ich getan habe, war, ein theoretisches Modell zu erstellen, um zu beschreiben, was geschieht. Es zeigt, dass man Menschen mit Symptomen von bekannten Hirnschäden wie zwanghafte Verhaltensstörung (OCD - obsessive-compulsive disorder) oder Schlaganfall trainieren kann, sich Reaktionen anzugewöhnen, die zu therapeutischen Erfolgen führen. Man verändert tatsächlich die zugrunde liegende Verdrahtung des Gehirns, sodass der Schaden verringert wird.

Bei einem psychiatrischen Krankheitsbild, wo das Hauptproblem mit Gedanken und Gefühlen zu tun hat, wird das wirklich wichtig. Bei OCD drängen sich den Menschen unerwünschte Gedanken auf. In den Achtzigerjahren haben wir Aufnahmen vom Gehirn gemacht, die zeigten, dass das Stirnhirn (der „Orbitofrontalcortex“) überaktiv war und dass es in einer Struktur, die man Schweifkern nennt, einen nicht funktionierenden Schaltungsmechanismus gab. Diese Informationen über das Gehirn nutzten wir, um den Patienten verständlicher zu machen, dass die aufdringlichen, unerwünschten Gedanken durch eine Krankheit verursacht wurden: Es war eine Störung in der Verdrahtung des Gehirns, die verursachte, dass sie diese Gedanken hatten. Das half ihnen zu erkennen, dass diese Gedanken nichts mit ihnen selbst zu tun hatten. Als sie mit diesem Wissen begannen, anders zu reagieren (was Training und Mühe kostete), verbesserte sich nicht nur ihr klinischer Befund, sondern auch das Muster der Verdrahtung in ihrem Stirnhirn und ihrem Schweifkern. Wie man also über seine Situation denkt, wie man reagiert und die Mühe, die man sich gibt, seine Aufmerksamkeit aufgrund von Wissen anders zu steuern, führt buchstäblich dazu, dass das Gehirn neu verdrahtet wird.

DH Wie vergleicht sich dies mit der negativen Verstärkung in der Behandlung von zwanghaften Verhaltensstörungen?

JS Nun, die hat nie wirklich funktioniert. Doch es gab andere behavioristische Methoden, die sehr wirksam waren, die mit „Exposition und Reaktionsverhinderung“ arbeiteten. Meine Schwierigkeit damit war, dass die Fähigkeit der Menschen nicht genutzt wurde, zu erkennen, dass die Symptome falsche Botschaften von ihrem Gehirn sind - dass die Symptome in Wirklichkeit nur von einer Krankheit verursacht werden. Die mechanischen Verhaltenstherapien des Behaviorismus waren zwar wirksam, doch die Patienten mussten dabei sehr viel Angst ertragen, und deshalb war es äußerst schwierig, selbstständig damit zu arbeiten. Ich habe Menschen mit OCD erklärt, dass sie auf diese aufdringlichen Gedanken und Impulse anders reagieren können. Das würde nicht nur ihr Gehirn verändern, sondern sie auch davon befreien, Sklaven ihres Gehirns zu sein.

Das Wort, das ich für den Aspekt der Introspektion in der Therapie verwende, ist Bewusstheit; man schaut mit der vernünftigen, ruhigen Perspektive eines außenstehenden, unparteiischen, fairen Beobachters in sich hinein. Dadurch kommt man aus der Angst heraus.

DH Bewusstheit ist ein buddhistischer Begriff. Sind Sie Buddhist?

JS Nein, ich bin Jude, aber ich praktiziere sehr ernsthaft die buddhistische Meditation - seit inzwischen fast 30 Jahren.

DH Welche Verbindung gibt es zwischen Ihrer jüdischen Seite und dem Buddhismus? Wie kommen diese beiden Welten für Sie zusammen?

JS Ethnisch sehe ich mich natürlich als Jude, und deshalb nenne ich die buddhistische Seite eher eine Philosophie als einen religiösen Glauben, der mit meiner jüdischen Identität in Konflikt geraten könnte. Ich sehe den Buddhismus als wissenschaftliche, philosophische Praxis, das Judentum hingegen mehr als meine Kernidentität. Die buddhistische Philosophie ist ein Bezugsrahmen, der sehr analytisch und technisch ausgefeilt ist. Begriffe wie Karma (d.h. „Wille“), Bewusstheit,weise,unklug und Aufmerksamkeit und die Tatsache, dass diese weisen oder unklugen Ziele unserer Aufmerksamkeit die moralische Qualität des Handelns sehr stark beeinflusst, können für mich vieles erklären. Dies gibt es nicht nur in der buddhistischen Philosophie. Es ist eine genaue Entsprechung von Dingen, die man in der Thora und dem Talmud lesen kann. Das Neue war, dass der Buddhismus sich mit der modernen, wissenschaftlichen Psychologie und speziell den Mechanismen des Gehirns vereinbaren ließ, weil er die Introspektion (Selbstbeobachtung), die Bewusstheit betont und weil so viel von dieser Art geistiger Aktivität systematisch anwendbar ist.

Ich habe festgestellt, dass das buddhistische Moralsystem nicht nur mein jüdisch-christliches Glaubenssystem, an das ich sehr stark glaube, durchgehend bestätigt, sondern dass es eine Brücke zur Wissenschaft schlägt. Dies war immer der kulturell schwierige Teil. Wissenschaft galt immer als etwas Amoralisches oder bis zur „Wertfreiheit“ Empirisches. Der andere sehr interessante Aspekt der buddhistischen Philosophie ist die starke Wechselwirkung zwischen Geist und Materie. Er sagt, dass der Geist die Materie bewegt und beeinflusst, und gleichzeitig räumt er auch die Möglichkeit ein - die mit der modernen Wissenschaft vereinbar ist -, dass die Materie den Geist beeinflusst.

DH Das führt weit weg von der herkömmlichen cartesianischen Methode des wissenschaftlichen Denkens.

Bei der cartesianischen Sichtweise gibt es ein enormes Problem: Sie betrachtet Geist und Materie als zwei getrennte Dinge.“

Jeffrey M. Schwartz

JS Bei der cartesianischen Sichtweise gibt es ein enormes Problem: Sie betrachtet Geist und Materie als zwei getrennte Dinge, und das erweist sich als folgenschwerer Fehler. Descartes sah zwei Formen des Seins, Geist und Materie; und er versuchte, diese irgendwie in Beziehung zu setzen, was ihm jedoch nie wirklich gelungen ist. Materie ist räumlich ausgedehnt. Man kann sie anfassen. Geist ist unstofflich, man kann ihn erfahren. Die Auffassung, sie seien getrennte Seinsformen, wobei die Naturwissenschaft das Materielle zu untersuchen habe, während die Religion und die Geisteswissenschaft für das Denken zuständig seien, hat tatsächlich eine künstliche Spaltung in der abendländischen Kultur bewirkt, die negative Folgen hatte. Im besten Fall hat sie sich überlebt.

Der Vorteil dieser neueren Denkweise mit selbstgesteuerter Neuroplastizität, die auf Bewusstheit beruht - dieses quantenphysikalische Modell der Beziehung zwischen Geist und Gehirn -, ist, dass hier nicht Geist und Materie als zwei grundsätzlich verschiedene Dinge gesehen werden. Sie werden als integrierbare, geeinte Wirklichkeit wahrgenommen. Der große Vorteil der Quantenphysik ist, dass sie ein Problem löst, das Descartes (und die gesamte philosophische Tradition während fast eines halben Jahrtausends nach Descartes) nie in den Griff bekam: die Integration der Begriffe, mit denen wir unsere Erfahrungen beschreiben - Schmerz, Lust, Glück, Trauer, das Gefühl des Wissens, das Gefühl des Verstehens, das Gefühl, dass das Leben einen Sinn hat. Diese Dinge sind sehr real. Sie sind es eigentlich, die das Leben lebenswert machen. Keiner von diesen Begriffen lässt sich auf materielle Dinge übertragen. Die Quantenphysik hat uns nun ermöglicht zu zeigen, wie man buchstäblich die Schaltkreise des Gehirns (die materielle Manifestation des geistigen Erlebens) aufrechterhalten kann, indem man eine bestimmte Geisteshaltung einnimmt und dadurch die Ausrichtung seiner Aufmerksamkeit beeinflussen lässt. Der gemeinsame Nenner aller Realität, die wir erleben, ist letztlich die Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit. Wir wählen aus, auf welchen Teil unserer Erfahrung wir uns konzentrieren. Wir entscheiden, welche Teile uns packen und kontrollieren, ob zum Beispiel Gier oder Böswilligkeit, oder ob wir sie loslassen und uns auf konstruktives, gemeinschaftsorientiertes Tun konzentrieren.

Hirnzellen, die zusammen feuern, schalten sich zusammen. All dies ist wissenschaftlich abgesichert.“

Jeffrey M. Schwartz

Und hier kommt die Neuroplastizität ins Spiel. Wir wissen, dass jede wiederholte Handlung neue Schaltungen im Gehirn zur Folge hat. Es ist das Gleiche wie die Hebb'sche Lernregel: Hirnzellen, die zusammen feuern, schalten sich zusammen. All dies ist wissenschaftlich abgesichert. Was wir nun getan haben, ist einfach zu zeigen, wie die Ausrichtung der Aufmerksamkeit dazu führen kann, dass die Schaltkreise des Gehirns zusammen feuern und sich dann zusammenschalten; das ist der grundlegende Aufbaumechanismus, durch den man sein Gehirn neu strukturieren kann. So verschwindet dieser ganze Gegensatz zwischen Geist und Gehirn, und dann haben wir eine integrierte Sicht vom Geist/Gehirn als einer organisch interagierenden, geistig-stofflichen Einheit.

DH Also kein Geist im Sinn von „Gespenst in der Maschine“.

JS Diesen Ausdruck hat [der britische Philosoph] Gilbert Ryle geprägt, und er fand ihn ungeheuer clever. Er wollte den Anschein erwecken, als sei jeder, der die Realität nicht allein anhand der durch die fünf Sinne erfassbaren Daten verstand, in Fantastereien verstrickt - irgendein primitives, archaisches Denken, einen Glauben an Gespenster. An so etwas hat ein moderner, wissenschaftlich orientierter Mensch nicht zu glauben. Nun, das ist völliger Unsinn, denn mit diesem Geist im Sinn von „Gespenst“ wurde da jede Vorstellung willentlich ausgerichteter Aufmerksamkeit verworfen.

Die Erklärung, die ich vertrete, hat mit einem Geist oder Gespenst in der Maschine nicht das Geringste zu tun. Es hat damit zu tun, dass wir alle ein Bewusstsein, eine Bewusstheit haben und sie auf etwas ausrichten können. Es ist das Gegenteil von gespenstisch, es ist sonnenklar. Man kann Dinge in seinem Gesichtsfeld auswählen und sie gezielt anschauen; und man kann mit Sicherheit Verhaltensmöglichkeiten auswählen und sich auf sie konzentrieren.

DH Sie sagen, dass Ihre Methode bei verschiedenen Befunden hilft - Schlaganfall, Tourette-Syndrom, Tinnitus und Dyslexie. Kann man dem auch Depressionen und andere Störungen hinzufügen?

JS Oh, absolut! Besonders jetzt mit der auf Bewusstheit aufbauenden kognitiven Therapie . Außerdem sollten wir Dinge wie Panikattacken und Phobien hinzufügen. Ein anderer Kollege, Mario Beauregard, hat äußerst interessante Untersuchungen mit Gesunden durchgeführt, die zeigen, dass wir vollkommen fähig sind, die sexuelle Erregung als Reaktion auf erotische Stimuli an- und abzuschalten, indem wir uns emotionell distanzieren. Anders gesagt: Wir treffen auch hier Entscheidungen. Ich denke, das können wir für das Training sexueller Enthaltsamkeit bei jüngeren Menschen nutzen.

DH Sie haben vor einigen Minuten das Wort geistig gebraucht. Das ist ungewöhnlich für einen Wissenschaftler.

JS Das ist es, aber ich meine, das muss es nicht sein. Dies ist eine kulturelle Erscheinung, die sich ändern muss. Es ist wichtig, zu betonen, dass es keineswegs immer so war. Vor etwa 125 Jahren, als die Wissenschaft noch nicht so in diesen Kult des Materialismus verstrickt war, hatten Wissenschaftler nicht die geringsten Schwierigkeiten damit, über ihre Geistigkeit zu sprechen, obwohl sie vielleicht sagen mochten, wenn sie in ihr Labor gingen, dass sie nicht recht wussten, wie sie diese Fragen wissenschaftlich angehen sollten. Doch wir haben Fortschritte gemacht, denn wenn ich über Geist spreche, ist nicht die Rede von Ektoplasma. Ich spreche einfach über praktisches, willentliches Handeln. Wenn ich über die Praxis der Geistigkeit spreche, meine ich die Tatsache, dass der Glaube bestimmt, was wir tun. In dieser Weise kann Glaube rational sein, Glaube kann Erfahrungssache sein, Glaube kann mehr oder minder verifizierbar sein. Um blinden Glauben geht es hier sicher nicht.

Wenn wir bestrebt sind, Gutes zu tun, ist das genau das, was ich mit Praxis der Geistigkeit meine. Mit geistigen Wahrheiten meine ich schlicht, dass der menschliche Verstand fähig ist, intuitiv zu erkennen, dass menschenfreundliche, hilfreiche, nicht habgierige, unschädliche Taten gesund sind. Taten, die aus Gier, bösem Willen und starrer Ignoranz geschehen, sind ungesund. Die Menschen wissen diese Dinge, und sie wissen auch, dass solche Wahrheiten den Geist betreffen, weil sie einen Einfluss darauf haben, wie wir unser willentliches Handeln ausrichten. Auf diese Weise wird alles in ein breiteres wissenschaftliches Weltbild integriert.

DH In Ihrem Buch Dear Patrick sprechen Sie von der „Rückbesinnung auf unsere Seele“. Was meinen Sie damit?

Die Menschen haben die Verbindung zu ihrem inneren Wissen um die moralische Realität verloren.“

Jeffrey M. Schwartz

JS Einfach dass wir zurückkehren zu der Wahrheit, die wir ja kennen, über den Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen konstruktiven und destruktiven Taten. Wir leben in einer Kultur, die relativistisch ist und behauptet, so etwas wie moralische Wahrheit gäbe es nicht. Die Menschen haben die Verbindung zu ihrem inneren Wissen um die moralische Realität verloren. Die Kultur der verweltlichten Elite des Abendlandes hat durch ihr exzessives Streben nach Lustbefriedigung den Kontakt zu der Grundwahrheit verloren, dass man, um glücklich zu sein, in seinem Kern mit der moralischen Wahrheit verbunden sein muss. Kostet das Mühe? Und ob das Mühe kostet. Doch wir haben diese Fähigkeit zur Bewusstheit, zur ehrlichen Introspektion, wir können uns fragen: „Ist das, was ich hier tue, konstruktiv oder destruktiv?“ Wer sich nicht die Mühe macht, sich diese Frage zu stellen, kann so degenerieren, dass er wie ein Tier lebt. Eines meiner größten Probleme mit der materialistischen Kultur ist, dass sie den Menschen nahe legt, sie seien prinzipiell nichts anderes als Tiere. Sie ermutigt die Menschen, körperlichen Genüssen nachzujagen, als seien sie das, was letztlich den Unterschied zwischen einem lebenswerten und einem nicht lebenswerten Dasein ausmacht. Diese Botschaften haben Schaden angerichtet, und junge Menschen schauen die Älteren an und sagen: „Ihr habt uns falsche Werte vermittelt.“ Diese falschen Werte beruhen auf dem Materialismus. Bei den jungen Menschen in den USA hat es viel Rebellion dagegen und eine echte Rückbesinnung auf die Spiritualität gegeben.

DH Steven Pinker schreibt, dass die neuen Entdeckungen der Neurowissenschaft erklären, was uns zu dem macht, was wir sind, und uns auch auffordern, darüber nachzudenken, wer wir sein wollen.

JS Ich wünschte nur, er nähme das ernst, denn ein ganzes Kapitel seines Buches handelt davon, dass der Determinismus [die Lehre von der eindeutigen Bestimmtheit allen Geschehens durch Ursachen, aller späteren Ereignisse durch frühere] wahr sein müsse. Wenn der Determinismus wahr ist, wird das, was er beschreibt, nichts bewirken. Er versucht die Quadratur des Kreises. Wir hingegen nehmen dieses Zitat ernst; wir wissen aus der Quantenphysik, dass man das, was er da schreibt, tatsächlich tun kann und dass es das Funktionieren des Gehirns verändert.

DH Die jüdisch-christliche Tradition spricht von Reue, dem alten hebräischen Begriff des Insichgehens und der dauerhaften Veränderung des eigenen Handelns - das ist es eigentlich, was Reue in ihrer Gesamtheit bedeutet. Welche Rolle spielt sie bei dem, worüber Sie sprechen?

JS Es drückt mit anderen Worten genau das aus, worüber ich spreche! Das ist richtig verstandene Reue! In dieser modernen, verweltlichten Gesellschaft gibt es Kultur der Eliten und der Medien, die dazu neigt, das Wort Reue als schuldbefrachtetes Überbleibsel einer finsteren Vergangenheit zu sehen. In unserer zynischen, modernen Zeit heißt es: „Sich nie erklären, sich nie entschuldigen.“ Das ist ein Rezept für tiefe Unzufriedenheit. Man kann keine vertrauensvollen Beziehungen zu anderen entwickeln, ohne Fehler einzugestehen, ohne Aufrichtigkeit. Und Reue ist eigentlich dem Wesen nach eine Form der Aufrichtigkeit. Sie ist eine Form einzugestehen: „Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe. Ich bin nicht vollkommen. Ich könnte versuchen, bestimmte Dinge besser zu machen.“ Dass ein solcher Begriff als Bestandteil irgendeiner primitiven, rückständigen Moral gesehen wird, die von außen kommt und den Menschen entmündigt, ist die Tragödie unserer Zeit. Deshalb müssen wir diese materialistische Epoche hinter uns lassen, denn sie hat keine Grundlage außer dem Ego, und das Ego ist einfach nicht genug, um ein glückliches, erfülltes Leben zu führen.