Rechte und Verantwortung

Heute wird so viel auf Rechte geachtet, dass man leicht die andere Seite der Medaille vergisst. Was passiert, wenn die vermeintlichen Rechte zweier Individuen oder Gruppen gegeneinander stehen? Gibt es irgendeine Basis für eine Lösung dieses Problems?

Menschenrechte. Heutzutage ist ständig davon die Rede, oft in einem globalen Kontext. Doch laut Eleanor Roosevelt beginnen sie „im Kleinen, nah bei uns zu Hause – so nah und so klein, dass es auf Weltkarten nicht zu sehen ist“.

In ihrer Rede vor der UN-Kommission für Menschenrechte (1948) sagte Frau Roosevelt weiter: „Sie sind die Welt des einzelnen Menschen; das Stadtviertel, in dem er wohnt; die Schule oder Hochschule, die er besucht; die Fabrik, der Bauernhof oder das Büro, in dem er arbeitet. Das sind die Orte, wo jeder Mann, jede Frau und jedes Kind gleiche Gerechtigkeit, gleiche Chancen, gleiche Würde ohne Diskriminierung sucht. Wenn diese Rechte dort keine Bedeutung haben, dann haben sie nirgends viel Bedeutung.“

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO, die inzwischen 60 Jahre alt ist, war nicht der erste Versuch, Menschenrechte in internationales Recht zu fassen. Die Satzung des Völkerbundes verpflichtete die Bundesmitglieder nach dem Ersten Weltkrieg, sich zu „bemühen, angemessene und menschliche Arbeitsbedingungen für Männer, Frauen und Kinder zu schaffen“, „der eingeborenen Bevölkerung in den ihrer Verwaltung unterstellten Gebieten eine gerechte Behandlung“ zu verbürgen und „internationale Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Krankheiten zu treffen“ (Artikel 23). Aus diesen Bestimmungen erwuchs die Tätigkeit der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO.

Seit 1948 ist viel über Menschenrechte gesagt und geschrieben worden, und Organisationen wie Amnesty International arbeiten unermüdlich an der Bekämpfung offener Menschenrechtsverletzungen.

Doch es scheint nie auszureichen, und so ziehen die Gesetze immer weitere Kreise wie Wellen in einem Teich. Ende 2000 wurde z.B. die bereits bestehende Europäische Menschenrechtskonvention in britisches Recht umgesetzt. Etwa zwei Monate später verabschiedete der Europäische Rat in Nizza die Charta der Grundrechte. Eine gewichtige Rolle spielten schon zuvor der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der auf der Europäischen Menschenrechtskonvention basiert.

HAUPTSACHE, RECHTE HABEN?

Nie zuvor waren Rechte so extensiv für so viele gesetzlich definiert: die Rechte ethnischer Minderheiten, die Rechte von Frauen, Kindern und Alleinerziehenden, die Rechte männlicher und weiblicher Homosexueller. Das Recht, eine Entschädigung einzuklagen, wenn man sich in seinen Rechten verletzt sieht. Die Rechte von Arbeitnehmern, Verbrauchern und „Einkommenslosen“. Die Rechte von Unternehmen und Organisationen. Die Rechte von Tieren und die Rechte von Pflanzen. Es ist eine schier endlose Liste.

Die Wohlstandsländer des Westens haben nie stärker auf Rechte geachtet. Viele würden daher sagen, wir hätten es weit gebracht seit der UN-Menschenrechtserklärung.

Haben wir das wirklich? Könnte diese Konzentration auf Rechte auch eine Schattenseite haben? Denken wir an die Prozesswut und Beutemacherei, die die Rechtssysteme des Westens, allen voran in den USA, mit ausgelöst haben.

Schafft die Fixierung auf Rechte allein eine bessere Gesellschaft? Eigentlich sollten wir dann doch jetzt alle glücklicher sein. Doch die Gesellschaft wird offensichtlich immer egozentrischer und gefährlicher, und Glück ist für manche unerreichbarer denn je.

WER HAT RECHT ÜBER WESSEN RECHTE?

Der Wert bestimmter Menschenrechte scheint selbstevident: das Recht, nicht gefoltert oder misshandelt zu werden; Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit der politischen Betätigung.

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Artikel 1, Allgemeine Erklä rung der Menschenrechte, 1948

Doch was geschieht, wenn wahrgenommene Rechte miteinander in Konflikt geraten? Rechte sind oft Ansichtssache, und einige von ihnen weisen deutlich erkennbar eine verwirrende, vielleicht sogar widersprüchliche Seite auf.

Unzählige Nachbarschaftsprozesse zeugen von den Konflikten unterschiedlich wahrgenommener Rechte – der eine möchte das Recht haben, so zu leben, wie er es für richtig erachtet, der andere fühlt sich davon in seiner Lebensqualität beeinträchtigt. 

Das Recht der Unternehmen auf Gewinnmaximierung steht für viele gegen das Recht der Arbeitnehmer auf angemessene Bezahlung – ein unablässiger Konflikt, der mit Streiks, Entlassungen, Druck und Gegendruck ausgefochten wird.

Dem Recht der Meinungsfreiheit halten manche entgegen, dass sie sich von der Meinung der anderen Seite diskriminiert fühlen und dies als Unrecht sehen.

Schwierig wird es, wenn Rechte einer Seite, die nicht von allen gutgeheißen werden, von allen finanziert werden müssen.

Der vielleicht am meisten kontrovers publizierte Konflikt betrifft diejenigen, die für das Recht der Frau auf Abbruch einer unerwünschten Schwangerschaft kämpfen, und diejenigen, die für das Recht des Ungeborenen auf Leben kämpfen. Es gibt keine Möglichkeit, die Rechte beider Gruppen gleichzeitig zu schützen.

Auf welcher Basis können wir eine Lösung suchen, wenn die wahrgenommenen Rechte zweier Menschen oder Gruppen einander verletzen?

ES GIBT AUCH PFLICHTEN

Der Schluss lässt sich nicht umgehen: Rechte brauchen außer dem gesetzlichen  Kontext einen geistigen Rahmen, der auch Verpflichtung einschließt, um sinnvoll und praktikabel zu sein. Wie steht es also mit dieser anderen Seite der Medaille, der Verantwortung?

Die Stärkung von Rechten ist davon abhängig, die Zusammenhänge zwischen Rechten und Verantwortung begrifflich und im Verhalten zu stärken.“

Arthur J. Dyck, Rethinking Rights and Responsibilities: The Moral Bonds of Community (2005)

Nicht, dass die Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen nicht verstanden wird – man muss nur den Ausdruck „Rechte und Verantwortung“ im Internet suchen, und man bekommt zehntausende Ergebnisse, für „Rechte und Pflichten“ sind es weit über eine Million. Doch wer tiefer geht, stellt fest, wie oberflächlich und ungenau die Definitionen von „Verantwortung“ generell sind. Die meisten beschränken sich auf die Pflicht, anderen die gleichen Rechte einzuräumen, die wir für uns selbst erwarten. Mit anderen Worten: Die Rechte anderer werden als unsere Verantwortung dargestellt. Natürlich wäre es scheinheilig, anderen nicht die gleichen Rechte einzuräumen, die wir für uns selbst erwarten – aber ist damit schon alles über Verantwortung gesagt? Ist das genug, um Konflikte wie die eben genannten zu vermeiden oder beizulegen, oder liegt das Fundament, auf dem Rechte beruhen, noch tiefer?

Wenn Gesetze, Erklärungen und politisch korrekte Interessengruppen vermeintliche Rechte auf immer enger definierte, exklusive Gruppen und Inhalte verkürzen, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass wir dabei sind, zu vergessen, wie eigentlich die Freiheiten, die wir für selbstverständlich halten, über Jahrhunderte bewahrt wurden: nicht zuletzt durch das Pflichtbewusstsein, das Verantwortungsgefühl und die Selbstaufopferung unserer Vorfahren.

Aus nationaler Sicht hat das niemand besser ausgedrückt als der verstorbene amerikanische Präsident John F. Kennedy: „Fragt nicht, was Euer Land für Euch tun kann – fragt, was Ihr für Euer Land tun könnt.“

Haben Selbstverwirklichung und political correctness die tieferen, dauerhaften Werte ersetzt, die den individuellen Rechten gleichzeitig übergeordnet sind und zugrunde liegen? Abgesehen von einigen wenigen tapferen und immer einsameren Stimmen hat es den Anschein, als ob selbst viele unserer religiösen und staatlichen Institutionen das moralische Fundament der Gesellschaft, das aufrechtzuerhalten einst als heilige Pflicht jedes Einzelnen galt, aufgeben und zum Teil sogar einreißen. Die Mahner, die ihre Stimme noch erheben, sind Menschen, die das nicht deshalb tun, um anderen das Leben schwer zu machen, sondern die die schädlichen Auswirkungen unserer  egoistischen Maßlosigkeit voraussehen und davor warnen.

Das Reden über Rechte konvergiert darin mit der Sprache der Psychotherapie, dass es unsere allzu menschliche Neigung fördert, uns selbst als Mittelpunkt unseres moralischen Universums zu setzen.“

Mary Ann Glendon, Rights Talk: The Impoverishment of Political Discourse (1991)

Der britische Schriftsteller und Philosoph Anthony O’Hear beweist ein tiefes Verständnis dafür, wohin unser Streben nach Rechten ohne entsprechende Verantwortung uns geführt hat. „Könnte es sein“, fragt er in seinem Buch After Progress, „dass die Art von materiellem und politischem Fortschritt, auf die wir so stolz sind, tatsächlich die Ursache eines spirituellen und ästhetischen Rückschritts ist? . . . Könnten statt höherer Erwartungen an das Leben mangelnde innere Ressourcen die eigentliche Ursache unserer Unzufriedenheit sein?“ Für O’Hear ist es ein Rätsel, dass ein Volk, das so großartige Künstler wie Turner und Constable hervorgebracht hat, nun Tierleichen und Bilder von menschlichen Exkrementen als Kunst ausstellt, vermutlich im Namen des Rechts auf freien Ausdruck.

Er kritisiert „die zwanghafte Fixierung auf Glück in einem materiellen Sinn, die unser Leben heute in vielfacher Hinsicht so mittelmäßig macht, und übersieht, dass wirklich Wertvolles nur durch Anstrengung und Leid zu erlangen ist; dass es im Leben höhere Ziele gibt als die Beseitigung von Schmerz und die Kultivierung von Freuden“. Wieder scheint ein spezifisches Recht die Wurzel des Übels zu sein – in diesem Fall das geforderte Recht auf materielles Glück.

Auch andere Stimmen beklagen die zerstörerische Wirkung dieses Tunnelblicks auf Rechte und Selbstverwirklichung. W.A. Borst schreibt in Liberalism: Fatal Consequences über die USA: „… gesunder Menschenverstand [ist] mittlerweile stärker vom Aussterben bedroht als der snail darter [eine endemische Barschart im Tennessee River]. Juristen haben die Gesellschaft mit Haarspaltereien gelähmt. . . . Dieser Mangel an Menschenverstand hat unweigerlich zu einer Revolution für Rechte geführt, bei der offenbar nur Selbstsucht und Eigennutz herrschen.“

In unseren modernen Wohlfahrtsstaaten scheint sich immer mehr die Meinung auszubreiten, dass man selbst alles tun könne, was einem beliebt, aber der Staat (das ist die Gemeinschaft der Staatsbürger) dann für unliebsame Folgen aufkommen müsse.

DIE ALTEN LEKTIONEN

Viele der Moral-, Rechts- und Verfassungsvorstellungen in unserer westlichen Kultur wurzeln – wenn auch lose – noch immer im biblischen Erbe. Zwar hat dieses Erbe durch fehlerhafte Überlieferung und Interpretation über die Jahrhunderte gelitten, und in jüngster Zeit ist es viel geschmäht worden und erodiert; trotzdem sind viele unserer Gesetze, Wahrheits- und Moralbegriffe tief verwurzelt  in den  zeitlosen Werten, die aus der Bibel stammen.

Bevor endgültig weggewischt wird, was von diesem Erbe noch da ist, lohnt sich ein Blick darauf, welche Auswirkungen es hat, wenn die historischen Wurzeln der moralischen und kulturellen Werte, die früher selbstverständlich waren, ausgegraben und weggeworfen werden. Die Ergebnisse der liberalen Gesellschaftsplanung sind nicht ermutigend.

Die Widersprüchlichkeit öffentlicher Meinung in Bezug auf Rechte und Verantwortungen wird einem fast täglich vor Augen geführt. Ein Beispiel ist der folgende Vergleich. Auf der einen Seite das immer weiter reichende Rauchverbot in der Öffentlichkeit. Warum dies? Weil unbestreitbare statistische Daten zeigen, dass Rauch Unschuldigen (Nichtrauchern) schadet, nicht nur den Rauchern selbst. Die Botschaft ist: „Wenn du schon deine Gesundheit aufs Spiel setzen musst, setze nicht auch noch meine aufs Spiel.“ Wir sind durchaus fähig, uns die Folgen von aktivem und passivem Rauchen auszurechnen und zu dem Schluss zu kommen, dass Rauchern nicht erlaubt sein sollte, neben sich selbst auch andere zu schädigen. Die Logik ist unausweichlich.

Aber wird dieselbe Logik konsequent auf alle anderen für die Mitmenschen schädlichen Bereiche angewandt?  Viele finden es zunehmend auch als  Unrecht, wenn der unschuldige Teil der Gesellschaft für die Folgen individuellen absichtlichen und bewussten Fehlverhaltens eines anderen Teils aufkommen soll – jeder tut, was er will, aber wenn’s Probleme gibt, sollen alle dafür aufkommen. Das hat mit persönlicher Verantwortung zu tun, und mit der Erkenntnis, dass man die Allgemeinheit nicht durch bewusstes Fehlverhalten schädigen kann. 

Dieses Argument dürfte liberale Aktivisten verschiedener Rechte zum Zorn reizen, doch wenn wir die Menschen vernunftgemäß zur Verantwortung für ihr eigenes Tun verpflichten und die Rechte derer achten, die andernfalls ungerechterweise die Kosten tragen müssen, haben wir einen entscheidenden ersten Schritt in die Richtung getan, einige anders nicht lösbare Konflikte zwischen Rechten zu lösen.

Gewiss bedeutet Verantwortung nicht primär, dafür zu sorgen, dass andere die gleichen Rechte haben wie man selbst, sondern sozial und moralisch mit Bedacht zu handeln, damit nicht andere die Kosten und Folgen unserer Taten, unserer Entscheidungen und unseres gewählten Lebensstils tragen müssen.

Unsere engstirnige, egoistische Fixierung auf Rechte ist ein Warnzeichen, dass unsere Gesellschaft spirituell und moralisch nicht gesund ist. Früher konzentrierten sich die Menschen auf ihre moralische und soziale Verantwortung, statt über fehlende Rechte zu klagen. Darüber hinaus erwarteten sie, dass andere im besten Interesse der Gesellschaft handelten. Das funktionierte, weil klarer war, dass Verantwortung für das eigene Tun vor Gott und den Menschen immer wichtiger war als Rechte. Dieses Denken wurde auch durch die soziale Umgebung gestärkt – und auch von entsprechenden Gesetzen, denen Geltung verschafft wurde.

Wir müssen Eleanor Roosevelts kluge Bemerkung über Rechte auf Verantwortung anwenden. Ebenso wie jene beginnt auch sie „im Kleinen, nah bei uns zu Hause – so nah und so klein, dass es auf Weltkarten nicht zu sehen ist“.

Rechte und Verantwortung? Wie wäre es mit: Verantwortung und Rechte? Leider bekommt man dafür längst nicht so viele Treffer im Internet.