Selbstwertgefühl ohne Selbstwert?

Der Zusammenhang zwischen Glück und Selbstwertgefühl ist in der vorherrschenden Psychologie der westlichen Kultur fest verankert.

Die Wichtigkeit von Selbstwertgefühl und Selbstachtung in Bezug auf eine gesunde Lebensauffassung lässt sich schwer leugnen. Ist es jedoch denkbar, dass soziale Programme, die darauf abzielen, das Selbstwertgefühl zu verbessern, unabsichtlich selbstsüchtige und unzufriedene Menschen mit einer unrealistischen Sicht über sich selbst und die Welt, in der sie leben, hervorbringen? Ohne ein klares Verständnis der Quelle gesunder Selbstachtung kann nicht verhindert werden, dass, wie von mancher Seite gewarnt wird, die gut gemeinten Anstrengungen eine Generation von egozentrischen sozialen Außenseitern hervorbringt.

Eine genauere Betrachtung des Themas zeigt, dass beides möglich ist: einen verlässlichen Weg zu angemessener Selbstachtung zu finden und einen Schlüssel zu nachhaltigem Glück. Beides steht in einem klaren Zusammenhang, allerdings nicht so, wie viele Soziologen und Pädagogen denken.

DER FAKTOR „FÜHL’ DICH GUT“

Es gibt viele Definitionen für Selbstwertgefühl und Selbstachtung, die aber alle nur ansprechen, wie wir uns selbst sehen und einschätzen. Sie reichen von einfach „sich gut fühlen über sich selbst“ bis hin zu mehr detailierten Beschreibungen wie „Verwirklichung der eigenen Attribute, die eigenen Leistungen von anderen bestätigt zu bekommen und sich selbst mit anderen wohlwollend vergleichen zu können“.

Ungeachtet seiner Definitionen ist Selbstachtung ein fundamentaler Bestandteil dessen, was wir als Einzelne sind, und das hat Auswirkungen darauf, was wir insgesamt als Gesellschaft sind. Ein großer Anteil an den sozialen Übeln wie Kriminalität, Armut und Sucht ist der niedrigen Selbstachtung zugeschrieben worden.

Die Gesellschaft sieht als Lösung, Programme zu entwickeln, die die Selbstachtung und das Selbstbewusstsein erhöhen sollen. Spezialisten für die Entwicklung in der frühen Kindheit betonen mit Nachdruck die Wichtigkeit, ein positives Selbstbewusstsein schon im frühen Alter zu fördern. Wie die meisten Eltern auch, erkennen sie die Notwendigkeit, dass Kinder ein positives Selbstwertgefühl brauchen, um ein gutes soziales Fundament zu bilden und mit der Welt um sie herum zurechtzukommen.

Dieses tief sitzende emotionale Bedürfnis ist nicht auf Kinder beschränkt und ist auch nicht grundsätzlich schlecht. Eine positive Selbsteinschätzung trägt sicher dazu bei, dass wir in unserer Umgebung eine optimistische Stimmung verbreiten können. Allerdings besteht Anlass zur Sorge, wenn man sieht, dass eine zunehmende Anzahl von Pädagogen zu dem Schluss gelangt sind, dass es automatisch gute Erfolge in der Schule und darüber hinaus bringen würde, wenn man nur erreicht, dass sich die Schüler über sich selbst gut fühlen.

Man versucht dieses Ziel durch Programme zur Selbstbestätigung zu erreichen. In verschiedenen Bildungseinrichtungen hat dies zu einer heftigen Debatte geführt. Manche meinen, dass man dadurch den Gefühlen höheren Wert beimisst als Kompetenz und Charakter. Experten auf diesem Gebiet vertreten die Ansicht, dass eine exzessive Förderung des Selbstwertgefühls selbstsüchtige, unerfüllte Menschen mit einem gestörten Selbstbild hervorbringen kann. Wenn man zulässt, dass das Ich in einem fehlgeleiteten Streben nach Selbstachtung der vorrangige Mittelpunkt unseres Lebens wird, kann das Ergebnis nach Meinung einer zunehmenden Zahl von Experten verheerend sein.

Der Umfang, in dem dieses gierige, egozentrische und gedankenlose Verhalten in unseren Gesellschaften auftritt, bestätigt, dass die gegenwärtige Betonung von „Hauptsache, Du fühlst Dich gut“ ein schlechter Rat ist.

DAS GEHEILIGTE ICH

Die heutigen Ansichten über Selbstwertgefühl stammen direkt aus der Geschichte westlich-philosophischen Denkens. Sie sind genauer gesagt die logische Konsequenz des Individualismus, der sich größtenteils im Gefolge der Säkularisierung [Verweltlichung] unserer Gesellschaft entwickelt hat. [Individualismus nennt man die Auffassung, die die Interessen, Bedürfnisse und Rechte des einzelnen Menschen gegenüber seiner Gleichstellung mit anderen hervorhebt.]

In einer Analyse der Säkularisierung der westlichen Gesellschaft schrieb Milton Viorst in einem Leitartikel: „Die Renaissance brachte uns die weitreichende Vorstellung, dass die Menschheit, nicht Gott, der Mittelpunkt des sozialen Universums sei. Die Vernunft wurde als gleichbedeutend mit Glauben angesehen und Männer und Frauen wurden aufgefordert, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen; und zwar frei vom Klerus.“ Viorst fügte noch hinzu: „Diese Ideen führten, begleitet von Jahrhunderten des Streits, zur Reformation, der Aufklärung und der wissenschaftlichen Revolution.“

Nun, dass Vernunft und Glauben sich nicht gegenseitig ausschließen müssen, ist ein durchlaufendes Thema in all unseren Artikeln in Vision. Hier geht es mehr um die Untersuchung der Entwicklung hin zu einem kollektiven Egoismus, den wir in dieser Welt immer mehr vorherrschend finden.

Die Betonung der Vernunft oder des Rationalismus [lateinisch ratio „Vernunft“; die Überzeugung, dass die Struktur der Welt der Vernunft gemäß, das heißt von logischer, gesetzmäßig berechenbarer Beschaffenheit sei] war die treibende Kraft bei der Entwicklung des Individualismus. Der Soziologe Emile Durk-heim bemerkte vor über 100 Jahren, dass „die Entwicklung des Rationalismus parallel einhergeht mit der Entwicklung des Individualismus“. Dass wir in der westlichen Welt heute an dem Punkt angekommen sind, an dem das Ich das Höchste ist, sollte uns nicht verwundern – der Individualismus hatte ja eine genügend lange Inkubationszeit.

Die moderne Welt ist ichbezogen und fördert dadurch Anspruchsdenken, Toleranz jeder Tat und Untat, das Gefühl, ein Opfer zu sein und Narzissmus.

Obwohl das selbstständige Denken sehr wohl Ausdruck einer gesunden Form von Individualismus sein kann, hat die buchstäbliche Verehrung des Ich zu einem allgemeinen Verfall der sozialen Werte geführt. Die moderne Welt ist ichbezogen und fördert dadurch Anspruchsdenken, Toleranz jeder Tat und Untat, das Gefühl, ein Opfer zu sein und Narzissmus. Jedes dieser Attribute hilft nicht, eine richtige Sicht von Selbstwertgefühl und seiner Ursache zu haben.

ICH BIN, WIE ICH BIN

Toleranz ist ein wichtiges Schmiermittel im Getriebe unserer komplexen Gesellschaft. Es ist jedoch eine gefährliche Verdrehung des Konzepts Toleranz, wenn jemand verlangt, absolut unkritisch gesehen zu werden, im Sinne von: „Ich muss für das, was und wer ich bin, akzeptiert werden, ungeachtet davon, was und wer ich bin!“

Maureen Stout, Doktor der Philosophie mit dem Schwerpunkt Bildung, findet, dass „die gegenwärtige Definition von Selbstwertgefühl, wie sie von Pädagogen und Psychologen verwendet wird, scheinbar ist . . . sich selbst gut zu finden, ungeachtet der persönlichen oder sozialen Attribute oder Charakteristika“ (The Feel Good Curriculum, 2000). Mit anderen Worten, wir können unseren Selbstwert aufmöbeln, indem wir es ablehnen, uns selbst nach allgemeinen Standards zu beurteilen. Auf diese Weise werden die positiven Eigenschaften der Toleranz (Geduld, Wohlwollen und Respekt) in eine freizügige Einstellung verkehrt, durch die negative Charaktereigenschaften unangetastet bleiben.

Uns selbst anzunehmen ohne Rücksicht auf externe Kriterien ist ein gefährlicher Aspekt einer falschen Art von Selbstachtung. Dieser Ansatz missversteht Toleranz, indem alle objektiven Kriterien einer richtigen Selbstanalyse zurückgewiesen werden. Selbstachtung und absolute Werte sind keine bequemen Kameraden.

ANSPRUCHSMENTALITÄT

Wenn wir uns angewöhnen, unsere Irrtümer und persönlichen Fehler zu tolerieren, führt das dazu, dass wir uns selbst als grundsätzlich in Ordnung annehmen. Dann finden wir es auch angebracht, uns überall mit dem eigenen Willen durchzusetzen, unsere vermeintlichen Rechte zu verteidigen und den von uns festgelegten fairen Anteil zu fordern. Diese Einstellung kann sehr schnell zur Annahme führen, dass die Welt einem grundsätzlich etwas schulde. Anspruchsdenken ist das Gefühl, dass einem etwas zusteht, was immer es sein mag, und zwar ungeachtet, ob und was wir selbst getan haben, um dies zu verdienen.

Diese destruktive Einstellung entwickelt sich oft schon im frühen Kindesalter. Die Psychologin Lynne Namka sagt: „Einige Kinder haben das Gefühl, sie hätten einen Anspruch darauf, ihre Wünsche durchzusetzen. Es ist natürlich normal, dass ein Kind um etwas fragt, das es möchte, aber manche Kinder sind übertrieben fordernd. Sie haben das Gleichgewicht zwischen nehmen und anderen etwas geben nicht gelernt; für sie sind die anderen Menschen einfach dazu da, ihnen etwas zu geben.“

Über das selbstsüchtige Verhalten von Kindern sagt Frau Namka weiter: „Wenn dies nicht eingedämmt wird und man da nicht herauswächst . . . kann das ein lebenslanges Muster dafür werden, immer alles für sich selbst nehmen zu wollen“ (You Owe Me!: Children of Entitlement, 1997). Wenn diese Eigenschaften nicht in der Kindheit eingedämmt werden, verstärken sie sich und können in Verhaltensweisen wie Wutausbrüchen im Straßenverkehr, der unbegründeten Forderung eines Studenten von besseren Noten oder den exorbitanten Gehältern und Abfindungen münden, die sich manche Führungskräfte heute zubilligen. Die Geisteshaltung des Anspruchsdenkens hat die verheerende Konsequenz, dass Charakter und Verhalten in Bezug auf unsere Selbstachtung getrennt gesehen wird.

EINE GESELLSCHAFT VON OPFERN

Vielleicht weil man annimmt, dass Selbstwertgefühl ein grundsätzliches Recht ist, bringen absolute Toleranz gegen sich selbst und das Anspruchsdenken ein anderes Übel mit sich, das in zunehmendem Maße in unseren Kulturen präsent ist: das Gefühl, Opfer zu sein und die persönlichen Unzulänglichkeiten anderen anzulasten.

Es gibt eine wachsende Tendenz unter vielen Psychologen und Medizinern, alle Arten von Verhaltensproblemen als Krankheit zu bezeichnen. Auf diese Weise wird falsches Verhalten schöngefärbt, mit einem klinischen Namen versehen und dann lediglich mit Medikamenten und/oder Beratung behandelt. So kann sich der Einzelne der Verantwortung für seine Taten entziehen. Dieser Trend reflektiert eine gewaltige Veränderung in unserem Wertesystem weg von einer für das Gemeinwesen wertvollen Selbstkontrolle hin zur vollständigen Akzeptanz von purem Egoismus.

Es gibt Stimmen, die sagen, dass Kinder heute „überdiagnostiziert“ werden mit Krankheiten wie „Attention Deficit Disorder“ (Störung wegen Defiziten an Aufmerksamkeit), wodurch man Verantwortung vom Verhalten abkoppelt. Der Psychologe Ofer Zur zeigt auf, was die größeren Auswirkungen dieser Einstufung von falschem Verhalten als Krankheit sind: „Die Psychotherapie sieht viele Erlebnisse des normalen Lebens als Trauma, das einer Heilung bedarf, und nicht als bereichernde Erfahrungen. Das hat politische Konsequenzen. Menschen werden von der moralischen Verantwortung für das, was sie tun oder was sie erlebt haben, befreit – sie sind in diesem Sinne nicht mehr Bürger, sondern Patienten oder Opfer“ (Psychology of Victimhood, 2003).

Wenn diese Opferrolle einmal aufgebaut ist, wird aggressives Verhalten zunehmend nur den schlechten Erlebnissen in der Kindheit angelastet.

Wenn diese Opferrolle einmal aufgebaut ist, wird aggressives Verhalten zunehmend nur den schlechten Erlebnissen in der Kindheit angelastet. Kriminelle werden so zu Tadellosen. Es darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass es tatsächlich unzählige Fälle von echten psychologischen Traumata und Narben aus unvorstellbarer Grausamkeit gibt. Trotzdem werden häufig Probleme unzutreffend als Fälle von verletztem Selbstwertgefühl diagnostiziert, und es werden statt den Ursachen die Symptome behandelt. Ofer Zur kommentiert dies mit den Worten: „Die Opferrolle wird sehr häufig von der privilegierten Mittelklasse und den Wohlhabenden in unserer Gesellschaft in Anspruch genommen. Diese Haltung der vermeintlichen Opfer: ,Macht mich nicht dafür verantwortlich!‘ wird oft begleitet von ,Mir steht dies und jenes zu!‘ Diese ,Bewegung für die eigenen Rechte‘ geht meist einher mit der Bewegung ,Ich bin ein Opfer‘.“

ICH LIEBE MICH

Die herausgehobene Position, die das Ich in der westlichen Kultur einnimmt, spiegelt sich in einer zunehmenden Bedeutung des Individualismus in Form des so genannten Narzissmus, der zwanghaften Selbstliebe (siehe den Kastenartikel „Narzissmus“). Mit der in die Programme für Kinderentwicklung eingebetteten Bewegung zur Steigerung des Selbstwertgefühls werden junge Menschen heutzutage nicht mehr ermutigt, Charakter zu entwickeln, sondern Image.

Lilian G. Katz von der Studiengemeinschaft für Kindheit und Erziehung der University of Illi-nois warnt, dass in Schulen eingesetzte Programme zur Förderung des Selbstwertgefühls unbeabsichtigt zur Kultivierung von Narzissmus beitragen, obgleich sie „gedacht sind, den Kindern zu helfen, eine hohes Maß an Selbstwertgefühl zu erreichen oder aufrechtzuerhalten“. Sie zitiert andere Forscher, die behaupten: „Wenn Erfolg wichtiger ist als Selbstachtung, misst die Kultur selbst dem Image zu viel Wert bei und wird dadurch selbst narzisstisch; des Weiteren deutet dieser Narzissmus auf einen Realitätsverlust der Individuen und der Kultur als Gesamtes hin“ (Distinctions Between Self-Esteem and Narcissism, 1993).

Was am Narzissmus am meisten beunruhigt, ist der völlige Realitätsverlust. An sich normale Bedürfnisse und Wünsche werden in einem extremen Maße gefordert. Frau Katz meint dazu: „Narzissten werden manchmal als exhibitionistisch beschrieben – sie fordern andauernd Aufmerksamkeit und Bewunderung und glauben oftmals sogar, das ihnen spezielle Gefälligkeiten auch ohne Gegenleistung zustehen.“ Solche Menschen „tendieren dazu, andere auszunutzen, wollen Aufmerksamkeit, prickelnde Erlebnisse und neigen sehr dazu, schnell gelangweilt zu sein. Viele dieser Charakteristika des Narzissmus scheinen Teil unserer allgemeinen Kultur geworden zu sein, im Speziellen unter der Jugend.“ Sie fügt noch hinzu: „Erwachsene, die am Narzissmus-Syndrom leiden, beschweren sich oft, dass ihr Leben leer und bedeutungslos sei und zeigen oft keinerlei Interesse an den Bedürfnissen anderer.“

Wenn das Ich zum Zentrum des persönlichen Universums wird, geht damit eine Entfernung von anderen Menschen einher. Die Gefühle und Bedürfnisse anderer rücken in weite Ferne und man sucht seine persönliche Identität in kleinen Gruppen, wo diese selbstbezogenen Ansichten ebenfalls gewürdigt werden. Auf diese Weise wird die Welt eher aus emotioneller als rationaler Perspektive gesehen; persönliche Gefühle übertönen die Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch.

Ein besseres Selbstwertgefühl über mehr Ichbezogenheit erlangen zu wollen, ist jedoch ein Teufelskreis. Egoismus [Eigenliebe] führt unweigerlich zu Einsamkeit und einem Gefühl der Leere und Unerfülltheit. Enttäuscht sucht der Narzisst dann nach dem Gefühl, sich wohl zu fühlen, indem er sich noch mehr allein auf die eigenen Wünsche und Bedürfnisse konzentriert. Dies hat selten den erwünschten Effekt; statt mehr Selbstwertgefühl entsteht ein Gefühl der Sinn- und Wertlosigkeit, und dieser Kreislauf endet nicht selten in einer Tragödie.

Eine anerkannte Autorität in Bezug auf Kinderentwicklung, Willian Damon, behauptet mit Nachdruck, „dass man Selbstwertgefühl nicht ohne Beziehungen ,findet‘, weil es ohne Beziehungen nicht existiert“ (Greater Expectations, 1995). Wenn wir nur uns selbst Wert beimessen und den Wert anderer Menschen ignorieren, verlieren wir die klare Sicht darüber, woher wahrer Selbstwert stammt.

EINE ANDERE ART VON LIEBE

Die Gesellschaft ist von einem Streben nach Individualismus durchdrungen und hat eine wichtige Dimension in Bezug auf Selbstwertgefühl aus den Augen verloren: einen Standard, mit dem man sich selbst und seine Beziehung zu anderen messen kann. Man sieht zwar heute vielerorts die Eigenliebe als Basis für ein gesundes Selbstwertgefühl, aber wahres und nachhaltiges Selbstwertgefühl kommt aus einer anderen Quelle.

In einem Interview, das Vision mit William Damon geführt hat (siehe Sonderdruck Eltern, die erziehen unter „Vision-Interviews“), bemerkte er: „Selbstwertgefühl zu haben ist gut, aber es sollte das Resultat guten Benehmens sein. Mit anderen Worten: Man sollte sich gut fühlen, weil man etwas Richtiges getan hat ... Wir sollten ein Selbstwertgefühl fördern, das aus Leistung stammt und aus Dienst am Nächsten.“ Das ist eindeutig eine andere Art von Liebe.

Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Liebe. Die erste davon, Eigenliebe, kann sich in vielen verführerischen Formen zeigen, bleibt aber vom Grundansatz her egoistisch, selbstbezogen. Sie ist sehr unzureichend und kurzlebig, da sie vor allem von Emotionen und Wünschen gesteuert wird. Sie liebt nur auf Grund der Erwartung von Wohlgefühl und Befriedigung des Ich.

Die zweite Art ist sehr viel seltener anzutreffen: ausströmende Liebe. Sie basiert auf einem ehrlichen Interesse am Wohlergehen anderer und ordnet die selbstbezogenen Wünsche des Ich diesem Motiv unter. Diese Art von Liebe ist der Kern eines gesunden Selbstwertgefühls.

Die Bibel, speziell das Neue Testament, wird von vielen als Lehrbuch für wahre Liebe akzeptiert. Die Bibel definiert nicht nur ausströmende Liebe, sie zeigt auch, dass diese Art von Liebe die Grundvoraussetzung für Selbstwertgefühl und Glücklichsein ist. Das Bedürfnis, sich gut zu fühlen, hat dazu geführt, dass viele alle unbequemen Einschränkungen in Bezug auf menschliches Verhalten beiseite geschoben haben. So schwer das heutzutage zu akzeptieren ist, Glücklichsein und sich wohl fühlen ist abhängig von bestimmten Beschränkungen. Einschränkungen, die in der Bibel als notwendig erachtet werden, sollen die Aufmerksamkeit von unseren eigenen Wünschen hin zu den Bedürfnissen anderer lenken. Sie sollten der Kern einer jahrtausende währenden Zivilisation sein, da sie ein Verhalten anmahnen, das für jeden einzeln und für das Verhältnis untereinander hilfreich ist. Dieser klare Standard, der wie ein Geländer in gefährlichem Terrain wirkt, ist die Weisung Gottes, das Gesetz Gottes.

Jesus fasste dieses Gesetz mit den Worten zusammen: „Das höchste Gebot ist das: „... du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften“. Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Es ist kein anderes Gebot größer als diese“ (Mk. 12, 29-31).

Zweifellos ist beides, die Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen, keine ichbezogene, sondern eine ausströmende Art von Liebe. Sie führt zu einer Lebensweise und -einstellung, die bereit ist, das eigene Ich an zweite Stelle zu setzen und das eigene Glück nicht vor das Glück anderer zu stellen.

In einem Schreiben an die frühen Christen in Rom beschreibt der Apostel Paulus diesen zweiten Aspekt des größten Gebotes wie folgt: „Seid niemandem etwas schuldig, außer, daß ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: „Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«,“ und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefaßt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung (Röm. 13, 8-10; Betonung hinzugefügt).

Liebe und das Halten von Gottes Gesetz sind ein und dasselbe! Welch eine sensationelle Aussage für eine Welt, die das Gesetz Gottes größtenteils für abgeschafft hält! Der Apostel Johannes fasst es so zusammen: „Denn das ist die Liebe zu Gott, daß wir seine Gebote halten; und seine Gebote sind nicht schwer (1. Joh. 5, 3). Gottes Gebote sind Wegweiser und Ausdruck seiner Liebe zu den Menschen. Der Kern der göttlichen Liebe ist uneigennütziges, ausströmendes Interesse am Wohl des Mitmenschen, basierend auf den ewigen Gesetzen Gottes.

Die moderne „Selbsterfüllungsbewegung“ ist zum Scheitern verurteilt, weil sie Ichsucht [Egoismus] als Basis hat und die Richtschnur für ein Leben für und mit den Mitmenschen, das Gesetz Gottes, zurückweist. Wenn wir so leben, wie es die Liebe gegen andere erfordert, werden wir das wahre Selbstwertgefühl entdecken. Die Orientierung an Gottes Gesetz – mit ausströmender Anteilnahme am Wohl anderer – erzeugt ein gesundes Wohlgefühl und eine Zufriedenheit, die zu einem positiven Selbstbild führt. Dieses daraus entspringende Glücksgefühl (auch inmitten von Leid und Schmerz) kann niemals im einsamen Vakuum eines egoistischen Lebens entstehen.

Ist Ihr Leben oftmals leer und unerfüllt? Vielleicht sollten Sie damit anfangen, diese ausströmende Art von Liebe zu praktizieren, die sich zu Gott und den Mitmenschen hinwendet. Ganz sicher wird dann ihr emotioneller Tank mit Wohlgefühl aufgetankt werden.