Freiheit finden

In aller Welt sehnen sich die Menschen nach einem Regierungssystem, das sie ein für alle Mal von Unterdrückung und Ungerechtigkeit befreit. Dabei wurde das Modell für ein solches System schon vor langer Zeit dargelegt, zusammen mit einigen sehr persönlichen Anweisungen zu seiner Verwirklichung.

Das Bild, das der Prophet Jesaja von einem Herrscher als Befreier zeichnet, widerspricht aller menschlichen Erfahrung. Ein Oberhaupt, dessen Autorität eingesetzt wird, um den Armen Hoffnung zu geben, die an Kummer Zerbrochenen zu heilen, die Menschen aus jeder Tyrannei und der Unterdrückung durch Machtmissbrauch zu befreien, ist fast jenseits unserer Vorstellungskraft. Doch dass dieser selbe Herrscher die Last auf sich nimmt, die Welt zu regieren, gerecht zwischen Menschen und Völkern zu richten, Streit zu schlichten und den Krieg aus der Welt zu schaffen (Micha 4, 1-4), ist wirklich unvorstellbar.

Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen.“

Jesaja 61, 1, Luther-Bibel 1984

Dass wir uns das nicht vorstellen können, ist begreiflich. Generell sind uns Kaiser, Könige, Präsidenten und Premierminister eher als Feindbilder vertraut, und es ist diese Wahrnehmung (und ihre geschichtliche Realität), die Menschen immer wieder inspiriert, für ihre Freiheit zu kämpfen. Ironischerweise bedeutete dieser Kampf stets Widerstand oder Aufstand gegen eine unvollkommene Obrigkeit, nur um die nächste an die Macht zu bringen.

Die repräsentative Staatsform in ihren vielen Varianten ist das politische Mittel, mit dem die meisten Völker Freiheit zu erreichen hoffen. In vielen Ländern räumt das Volk den Regierenden das Recht ein, seine Interessen zu vertreten, beschränkt diese Macht aber durch konstitutionelle Kontrollen. Wir sehen unsere führenden Politiker als Beauftragte und Diener des Gemeinwesens, denen wir die Macht nach Belieben wieder entziehen können – insbesondere wenn sie unseren Auftrag nicht erfüllen. Eines Tages, so hoffen wir, werden wir jemanden wählen, der uns nicht enttäuscht, der uns endlich aus dem Teufelskreis von Regierungsversagen, Revolution und Krieg befreit.

Aber ist das wirklich der Weg zur Freiheit?

UNSER SCHLIMMSTER FEIND: WIR SELBST

Bei ihrem Streben nach Freiheit haben sich Menschen zu sehr auf die Form der Regierung konzentriert – den Mechanismus für die Beschränkung der Machtausübung (oder des Machtmissbrauchs). Sind aber vielleicht die Regierten in der Ausübung ihres eigenen Willens eine Ursache von Tyrannei und Unterdrückung statt deren Lösung? Und berauben wir uns in unserem Streben nach Freiheit tatsächlich ihrer Chancen und Segnungen?

In der zweihundertjährigen Geschichte repräsentativer Regierungsformen hatten wahrscheinlich nur wenige Menschen die Befürchtung, dass wir uns aus freiem Willen selbst tyrannisieren. Vielleicht gibt es gerade deshalb in immer größeren Teilen der Erde solche Regierungsformen. Inzwischen hatten wir allerdings Gelegenheit, ihre Mängel zu erkennen. Wir haben erkannt, dass allzu oft die herrschende Mehrheit Minderheiten unterdrückt, dass gewählte Staatsdiener sich aus dem Staatssäckel bedienen und dass unsere gewählten Volksvertreter Organisationen aufbauen, die zuerst ihrem eigenen Machtzuwachs oder Machterhalt dienen und erst dann dem öffentlichem Interesse. Wahlen zu gewinnen, hat bei repräsentativen Staatsformen oberste Priorität. Und wenn die Regierenden die Rechte der Bürger beschneiden oder ihren Verfassungsvertrag brechen, werden sie nicht immer zur Verantwortung gezogen und sind auch nicht rasch oder leicht aus dem Amt zu entfernen.

Insgesamt erweisen sich repräsentative Regierungen nicht, wie erhofft, als Helfer auf dem Weg zur Freiheit. Das können sie auch nie sein, weil sie mit einem grundlegenden Mangel behaftet sind.

Wenn es um Freiheit geht, ist die eigentliche Frage, ob wir bereit sind, ihre Anforderungen zu akzeptieren. Erstens: Sind wir willens, uns einem Oberhaupt, wie es Jesaja beschreibt, unterzuordnen? Können wir ein Oberhaupt akzeptieren, das zwar ohne menschliche Fehler ist, aber nicht demokratisch gewählt, und dessen Regierung sich nicht nach Meinungsumfragen richten wird? Sind wir willens, in einer Sozial-, Wirtschafts- und Rechtsstruktur zu leben, die im Namen der Freiheit unsere persönliche Machtausübung beschränkt? Das ist eine entscheidende Frage.

Sind wir in unserem Streben nach Freiheit bereit, die Anforderungen eines Rechts zu erfüllen, das für alle gilt und gerecht angewandt wird? Dies muss mehr sein als ein Recht, das wir niederschreiben: Es muss ein Recht sein, das wir leben. Jeder Einzelne muss bei seinem Freiheitsstreben eine persönliche Führungsrolle übernehmen – eine ausgewogene, gerechte Gesellschaftsstruktur und wirtschaftliche Chancengleichheit unterstützen und sich engagieren, um die Integrität der wichtigen Beziehungen zu bewahren, von denen das Leben der Gemeinschaft abhängt. Freiheit erfordert mehr als ein Oberhaupt, das mit einer Stimme spricht und mit einem Maßstab für alle regiert. Sie erfordert, dass jeder Einzelne in der Gesellschaft sich verpflichtet, sich selbst diesem Maßstab entsprechend zu regieren. Ehe Freiheit äußere Realität werden kann, muss sie eine innere Einstellung sein.

Was sollen wir in Anbetracht dessen also tun? Als Erstes können wir unseren Geist befreien, indem wir einsehen, dass bei unserer Art zu denken etwas nicht stimmt. Wenn es nicht so wäre, dann wäre die Menschheitsgeschichte anders verlaufen als Serienmord durch Krieg und die ständige Schädigung anderer bei dem Streben nach individueller Freiheit und ihren Segnungen.

Um Befreiung zu erlangen, müssen die Menschen umdenken und sich verändern. Wir werden ein Denken brauchen, das Macht über andere durch Selbstbeschränkung auszugleichen sucht, statt sie auszunutzen. Wir werden Demut im Geist brauchen, um anzuerkennen, dass andere Menschen schlechte Entscheidungen treffen können – Entscheidungen, die Unfreiheit und Unterdrückung für sie selbst und andere zur Folge haben. Und da wir alle durch mächtige Kräfte, die in unserer Welt wirken, Unglück und Tragödien erleiden, müssen wir die Empathie aufbringen, Rettung zu suchen, wenn sie gebraucht wird, und zu retten, wo wir können. Außerdem muss jeder Einzelne etwas tun, um die Gefährdeten, die Armen, die Schwachen und die Entrechteten zu schützen (und wenn nötig, Schaden wieder gutzumachen), und zwar angefangen in der Familie.

EIN ANDERES MODELL 

Wir haben die Behandlung dieses Themas in einer früheren Ausgabe begonnen. Dort haben wir etwas hinterfragt, auf dem die Organisation der meisten zivilisierten Gesellschaften beruht: die Konzentration politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht auf eine privilegierte Minderheit oder Eliteklasse. Dieses Konstrukt hat uns keine guten Dienste geleistet und verdient es, infrage gestellt zu werden.

Betrachten wir also ein anderes Modell, das einem anderen „in Freiheit gezeugten“ Volk gegeben wurde – einem Volk, das dazu bestimmt war, die Geschichte der Freiheit für alle Völker zu schreiben (2. Mose 19, 5). Diese Geschichte beginnt mit einem Mann: Abraham. Sein Enkel Jakob, der später den Namen Israel bekam, hatte zwölf Söhne und eine Tochter. Die Familie lebte im damaligen Kanaan, dem heutigen Südisrael, musste jedoch wegen einer lang andauernden Hungersnot nach Ägypten auswandern. Im Laufe vieler Generationen wurden die „Kinder Israels“ in Ägypten versklavt, brutal unterdrückt und gezwungen, in Schwerstarbeit die Städte der Pharaonen zu bauen. Gott erhörte ihr Flehen um Befreiung, führte sie aus der Herrschaft des Pharaos hinaus und gab ihnen eine Heimat – ein Land, wo nicht nur die Israeliten, sondern auch die anderen Einwanderer, die mit ihnen kamen, in Freiheit leben konnten (2. Mose 23, 9; 4. Mose 15, 16).

Gott verlangte von diesem neuen Volk, Recht und Gesetz für alle gleich anzuwenden, unabhängig von Vermögen oder sozialem Status (2. Mose 12, 49). Um gerechte Urteile sicherzustellen, war Bestechung verboten (5. Mose 16, 18-20). Freiheit ist nur möglich, wo Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz herrschen, und das Volk Israel sollte ein Beispiel für diese Prinzipien geben.

Gleichheit war in Amerika keine beliebte Idee, weil sie mit der Vision universellen und grenzenlosen Wachstums nicht konkurrieren konnte.“

Herbert J. Gans, Middle American Individualism: Political Participation and Liberal Democracy (1988, 1991)

Als ein Volk von Einwanderern hatte Israel keinen natürlichen oder rechtmäßigen Anspruch auf ein Stammland. Das Land gehörte Gott (2. Mose 19, 5; 3. Mose 25, 23) und war ein Geschenk, das Israels Vorfahren Abraham, Isaak und Jakob Jahrhunderte zuvor verheißen worden war. Eine Form der Gleichheit in der Menschheitsgeschichte war die Unterdrückung durch adlige Herren, Könige oder Kaiser, denen das Land gehörte – doch Israel sollte Gleichheit in der Freiheit erleben, die sein Gott als Herr des Landes ihm schenkte. Dieses Geschenk verstärkte Israels vollständige Abhängigkeit von Gott als Befreier und war ein konkreter Beweis für Gottes Treue.

Das Land wurde den verschiedenen Stämmen Israels zugewiesen (Josua 13-22) und dann so breit wie möglich auf die Haushaltsgemeinschaften oder Großfamilien verteilt. Dadurch entstand eine egalitäre, auf Ackerbau und Viehzucht beruhende Wirtschaft mit einer im Wesentlichen klassenlosen Gesellschaftsstruktur. Auch die politische Macht war in einem Netz von Städten dezentral organisiert (5. Mose 16, 18). Die Priester und Leviten als geistliche Obrigkeit im Volk waren primär Lehrer und Richter (5. Mose 33, 10). Sie erbten keine Liegenschaften und konnten daher ihre Zeit der Lehre und der Seelsorge für die Gemeinschaft widmen, statt sich um die Landwirtschaft einer Familie zu kümmern. Dafür waren die Priester und die übrigen Angehörigen des Stammes Levi mit den Produkten der Bevölkerung, der sie dienten, zu versorgen (4. Mose 18, 8-32; 5. Mose 14, 28-30). Sie stellten keine politische Obrigkeit dar (1. Samuel 8).

Diese Struktur war darauf ausgerichtet, einer Anhäufung gesellschaftlicher und politischer Macht entgegenzuwirken und so zu verhindern, dass eine soziale Schicht eine andere unterdrückte und mit ihr Schindluder trieb.

DAS FÜNFZIGSTE JAHR 

Ein zentraler Bestandteil dieser auf Landwirtschaft basierenden Gesellschaftsordnung war ein fünfzigjähriger Zyklus, dessen Endpunkt das „Jubeljahr“ war (auch „Erlassjahr“ genannt): Er entsprach dem Zyklus einer Generation, der aus sieben Sieben-Jahres-Perioden bestand. Jedes siebte Jahr war ein „Sabbatjahr“ (3. Mose 25, 8). Mit dieser Zählung sollte das Volk Israel beginnen, sobald es in seiner neuen Heimat angekommen war (3. Mose 25, 1-4). In jedem siebten Jahr und wiederum im 50. Jahr, dem Jubeljahr, erholten sich das Land und das Volk vom kommerziellen Ackerbau. Das Land und die Menschen sollten sich in Ruhe regenerieren. Und obgleich es auch in jenen Jahren Arbeit gab, war die Veränderung in Tempo und Zielsetzung sicher belebend für das Volk.

Ein damit verbundener Aspekt dieser Wirtschaftsordnung war ein Verbot, Land kommerziell zu kaufen und zu verkaufen (3. Mose 25, 23). So wurde eine relative wirtschaftliche Gleichheit in Israel bewahrt. Wie bereits angemerkt, gehörte das Land Gott. Wenn ein Grundeigentümer infolge von Unglück oder Fehlentscheidungen einem Gläubiger ein Stück Land überlassen musste, wurde nicht das Land verkauft, sondern nur der erwartete Ertrag des Landes bis zum nächsten Jubeljahr. Darum richtete sich der Verkaufspreis nach zwei Faktoren: dem Wert des erwarteten Ernteertrags und der Anzahl der Jahre bis zum nächsten Jubeljahr (3. Mose 25, 16-17, 25-28). In der Zwischenzeit hatte der Eigentümer das Recht, sein Land zurückzukaufen, falls er die erforderlichen Mittel aufbringen konnte (3. Mose 25, 24). Je näher der Rückkauf dem nächsten Jubeljahr war, desto geringer der Rückkaufpreis, und je weiter vom nächsten Jubeljahr entfernt, desto höher die Ablösesumme. War ein Rückkauf durch den ursprünglichen Eigentümer nicht möglich, so waren nach dem Gesetz seine nächsten Verwandten verpflichtet, das Land zu kaufen, sofern sie dazu finanziell in der Lage waren (3. Mose 25, 25). Zudem hatte jede Familie die Pflicht, für Verwandte zu sorgen, wenn diese es nicht selbst konnten, indem sie ihnen bis zum Jubeljahr bezahlte Arbeit gab (3. Mose 25, 35-36, 39-40).

Die größte Tragweite des Gesetzes hatte jedoch die Vorschrift, dass Land im Jubeljahr dem ursprünglichen Eigentümer zurückzugeben war (3. Mose 25, 10, 28). Dieser rechtliche Rahmen, der die Veräußerlichkeit von Grundbesitz einschränkte, war in Wirklichkeit ein Gesetz der Freiheit. Durch Grunderwerb Reichtum und Macht anzuhäufen, war einfach nicht erlaubt. Daher gab es keinen Immobilienmarkt und keine Bodenspekulation. Das System erhielt eine breite und gerechte Verteilung von Grundbesitz aufrecht, die wirtschaftliche Freiheit und Unabhängigkeit für jede Familie möglich machte. Darüber hinaus schützte es die Integrität der Familie, da es verhinderte, dass ein wohlhabendes Familienmitglied einen scheinbaren Akt der Barmherzigkeit nutzen konnte, um sich Land anzueignen und eine Vormachtstellung gegenüber ärmeren Familienmitglieder zu erreichen. All dies stärkte zudem die Integrität der größeren Gemeinschaft.

ZUR FREIHEIT VERPFLICHTET 

Um den Prozess der Befreiung zu vervollständigen, war auch jedes siebte Jahr – das Sabbatjahr – ein „Erlassjahr“, denn dann mussten Gläubiger alle Schulden erlassen (5. Mose 15, 1-2). Dieses Gesetz sollte zwar vor allem als Anreiz dafür dienen, den Boden ruhen zu lassen. Doch es verhinderte auch Verarmung und die damit verbundene Unterdrückung, da es die Höhe der Verschuldung begrenzte (5. Mose 15, 4). Dass es keinen Anreiz gab, mehr zu verleihen, als ein Schuldner innerhalb der laufenden Sieben-Jahres-Periode zurückzahlen konnte, beugte einer unverantwortlichen und überhöhten Kreditvergabe mit ihren bösen Folgen vor. Zu uneingeschränkter Gesetzestreue gehörte es, notleidenden Mitgliedern der Gemeinschaft Kredite zu geben, gleichgültig, wie nah das nächste Sabbatjahr war (5. Mose 15, 7-8). Wer aber seine Schulden zurückzahlen konnte, durfte das Sabbatjahr nicht dazu benutzen, sich seiner Zahlungspflicht zu entziehen.

Weil dieser generelle Schuldenerlass alle sieben Jahre die Schuldner befreite, bewirkte er eine Neutralisierung der Macht von Gläubigern über Schuldner (Sprüche 22, 7). Wenn ein Gläubiger sein Geld zeitnah zurückbekommen wollte, lag es in seinem Interesse, zu tun, was er konnte, damit seine Schuldner wieder auf die Beine kamen.

Das Jahr nach dem siebten Sabbatjahr – das Jubeljahr – sollte eine Feier der Freiheit im wahrsten Sinne des Wortes sein. Sowohl das Land als auch das Volk ruhten das zweite Jahr in Folge (3. Mose 25, 11-13). Frei von dem Druck, kommerziell produzieren zu müssen, konnten die Menschen sich Zeit für die wirklich wichtigen Dinge nehmen – die Beziehungen in der Familie pflegen, wiederherstellen oder stärken, um ein festes Fundament für die Zukunft zu haben. Verkauftes Land kam zu den ursprünglichen Eigentümern zurück, und alle Schulden wurden erlassen. Familien, die gezwungen gewesen waren, ihr Land zu verlassen oder für einen Verwandten zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, konnten nun heimkehren. Sklaven wurden freigelassen. Es war eine Zeit, in der Familien nicht nur zu ihrem Land zurückkamen, sondern auch zueinander (3. Mose 25, 10).

In gewisser Weise signalisierte das Jubeljahr die Ablösung einer Generation durch die nächste. Mit der älteren Generation wurden auch ihre Missgeschicke und Fehler verabschiedet. Eine davon befreite, neue Generation erbte eine Chance, es besser zu machen als die vorige – ohne sich über Vergangenes zu ärgern oder es zu bereuen.

Dazu passt, dass diese Feier der Freiheit am zehnten Tag des siebten Monats begann – dem Versöhnungstag (3. Mose 25, 8-9), einem hohen jährlichen Feiertag. An diesem Tag sollten sich die Menschen Zeit nehmen, über Ereignisse, Kräfte und persönliche Entscheidungen nachzudenken, die sie als Personen und als Volk von ihrem Gott und Befreier, aber auch voneinander getrennt hatten. Mit dem Versöhnungstag begann die Wiederherstellung von Beziehungen auf jeder Ebene der Gesellschaft (3. Mose 16). Der Anfang eines Jubeljahres signalisierte, dass alles erlassen war und das Leben neu begann.

Das Jubeljahr – eine so einfache und dabei so großartige Einrichtung – war gesetzlich vorgeschriebene Freiheit; gelebte Realität war diese jedoch nur, wenn sich jeder Einzelne im Volk innerhalb des von Gott vorgegebenen Rahmens selbst regierte. Diese Art Regierung konnte nicht delegiert werden. Man konnte keine Repräsentanten wählen, um seine Verantwortung gegenüber der Familie und der Gesellschaft an sie abzugeben. Jeder Einzelne musste sich in die Regierung einbringen. Diese persönliche Verantwortlichkeit kennzeichnete den Weg des Volkes zu beständiger Freiheit und ihren Segnungen.

EINE PERSÖNLICHE ANGELEGENHEIT 

Natürlich würde der für Israel vorgezeichnete Weg in unserer heutigen Welt niemals funktionieren. Das Jubeljahr ist nur noch eine interessante Vorstellung, denn es verlangt von jedem Bürger, Verpflichtungen nachzukommen, von denen die meisten lieber nichts wissen wollen – weil sie ironischerweise die individuelle Freiheit einzuschränken scheinen. Dass Freiheit Selbstbeschränkung in unserer persönlichen Entscheidungsfreiheit voraussetzen soll, widerspricht der Intuition. Es ist schwer zu akzeptieren, dass Freiheit nur dann zu erreichen und zu wahren ist, wenn sich jeder Einzelne in einer Gesellschaft einbringt, um andere vor Schaden zu schützen – Schaden jener Art, der entsteht, wenn man nicht akzeptiert, dass man persönlich verpflichtet ist, die Gefährdeten zu schützen, die Schwachen zu stärken und die Entrechteten in die Gesellschaft zu integrieren. Jedoch genau das ist es, was Freiheit erfordert.

Die vielleicht etwas überraschende Realität ist, dass dies auch für Israel nicht wirklich funktioniert hat. Ein bedeutender Faktor, der in Gottes Plan für Freiheit fehlte, war eine Instanz der Bürokratie oder Regierung, die seinen Regeln Geltung verschafft hätte. Es gab keine Finanzmarktaufsicht, die die Kreditvergabe und den Schuldenerlass überwachte. Keine Behörde kontrollierte den Verkauf oder Rückkauf von Land. Es gab keine „Jubeljahr-Polizei“.

Doch dies war kein Versäumnis Gottes. Vielmehr zeigt es einen grundlegenden Mangel repräsentativer Regierungsformen auf und unterstreicht die Tatsache, dass die einzige Form von Regierung, die Freiheit schaffen und fördern kann, persönlich und nicht delegierbar ist. Als Erstes müssen wir uns selbst regieren, und dann müssen wir die Pflicht auf uns nehmen, die legitimen Funktionen einer Regierung für die gesamte Gesellschaft auszuüben, wann immer und wo immer wir können. Wenn dies nicht geschieht, entstehen unweigerlich Bürokratien, die die Lücken füllen.

Eine Lehre, die es aus der anhaltenden Weltwirtschaftskrise zu ziehen gilt, ist, dass ein Niedergang der Selbstregierung die Gesellschaft zwingt, Regierungsinstanzen zu schaffen, Regulierungen einzuführen, Gesetze zu schreiben und endlose Bürokratie einzurichten, um das Gemeinwesen zu stabilisieren. Sir Edmund Burke drückte es so aus: „Eine Gesellschaft kann nur existieren, wenn Wille und Gelüste einer Kontrollinstanz unterworfen werden, und je weniger davon im Inneren ist, desto mehr davon muss außen sein. Es liegt in der ewigen Ordnung der Dinge, dass Menschen von ungezügeltem Geist nicht frei sein können. Ihre Leidenschaften schmieden ihre Ketten.“ Mit anderen Worten: Die größte Tyrannei erlegt man sich selbst auf.

Die Eignung der Menschen für bürgerliche Freiheit ist direkt proportional zu ihrer Bereitschaft, ihren eigenen Gelüsten moralische Ketten anzulegen.“

Sir Edmund Burke, The Beauties of Burke (1828)

Wenn Freiheit herrschen soll, kann das Regieren nicht delegiert werden. Die Geschichte zeigt, dass menschliche Regierungsformen Probleme, die im Grunde moralischer Natur sind, nicht lösen können. Alles, was unsere Versuche mit derartigen Manipulationen je hervorgebracht haben, sind riesige, übergriffige und kostspielige Regierungsapparate, die über chaotische, verrottende Gesellschaften präsidieren, ohne etwas ausrichten zu können. So entstehen und vergehen Kulturen, Reiche und Nationen. Und so wird es weitergehen, bis das Jubeljahr, das gleich hinter dem Horizont ist – die Zeit der endgültigen Befreiung – Realität wird (Römer 8, 22-23). Wenn das geschieht, wird der Herrscher, über den der Prophet Jesaja schrieb, eine neue Generation hereingeleiten. Dann werden die Erde und ihre Bewohner nicht nur die lang gesuchte Freiheit haben, sondern auch ihre Segnungen.