Bertrand Russell – Allgegenwärtig wie eine Tapete

Bertrand Russell zählt zu den überragenden Geistesgrößen des 20. Jahrhunderts; er war ein großer Mathematiker, Essayist, Sozialkritiker, Lehrer und politischer Aktivist, aber auch einer der meistgelesenen Philosophen seiner Zeit. Als einer der Väter der analytischen Philosophie gilt er in seinem Fach als so einflussreich, dass sein Biograph A. C. Grayling schreibt: „Er ist praktisch die Tapete [im Raum der analytischen Philosophie].“ 

Russell war ein geniales Talent und schrieb pausenlos. Seine Ansichten wurden in über 70 Büchern und Broschüren sowie über 3000 Artikeln veröffentlicht. Sein Engagement, insbesondere in den Gesellschaftswissenschaften, brachte ihm sowohl den weltweiten Ruhm eines Nobelpreises als auch den Makel zweier Haftstrafen ein.

Russell wurde im Jahr 1872, auf dem Höhepunkt der politischen und wirtschaftlichen Vormacht Großbritanniens, als Sohn einer adligen walisischen Familie geboren. Bis zu seinem Tode 1970 war er über 60 Jahre lang ein Experte in sozialen Belangen und eine bekannte Persönlichkeit. Sein Großvater väterlicherseits, der berühmte Lord John Russell, war zweimal Premierminister unter Queen Victoria, die ihn dann in den Stand eines Grafen erhob. Sein Vater, Viscount Amberley, engagierte sich für sozial progressive Anliegen, doch er starb, als Bertrand noch nicht einmal vier Jahre alt war. Seine Mutter war 20 Monate zuvor an Diphtherie gestorben, und so wuchs er unter dem strengen, puritanischen Regime seiner vornehmen, viktorianischen Großmutter auf. In der emotionalen Isolierung, gezeichnet von den Wunden seines frühen Verlustes der Eltern, fand Russell Trost in der Liebe zu Mathematik und den Naturwissenschaften. Diese Talente blühten auf, als er das Trinity College in Cambridge besuchte.

Russells Durchbruch zu intellektuellem Ruhm war seine Beteiligung an einem der einflussreichsten und meisstdiskutierten Bücher über die Mathematik, Principia Mathematica, in dem er die Theorie darlegte, dass Mathematik und Logik identisch und mathematische Prinzipien von einer Handvoll logischer Begriffe ableitbar sind. Principia Mathematica war kein finanzieller Erfolg, brachte Russell aber einen olympischen Rang als Gelehrter ein, der sich in seiner Wahl zum Fellow der Royal Society im bemerkenswert jungen Alter von 35 widerspiegelte.

Da ihn die Mathematik zu langweilen begann, beschäftigte sich Russell immer mehr mit Philosophie und Sozialaktivismus. Im Jahr 1912, nach einer erfolglosen Kandidatur für das Parlament als Vertreter der Gesellschaft für das Frauenwahlrecht (Women's Suffragette Society), schloss er The Problems of Philosophy ab, das erste in einer langen Reihe philosophischer Werke. Später verband er seine idealistischen Vorstellungen mit seiner logischen Methodologie, um Philosophie und Naturwissenschaft einander näher zu bringen. Das Ergebnis war sein populärstes Werk, A History of Western Philosophy (Philosophie des Abendlandes), 1945.

Nach Russells Ansicht waren alle organisierten Religionen Überbleibsel aus der barbarischen Geschichte der Menschheit. Obwohl er Gott letztlich ablehnte, räumte er in The Elements of Ethics (Die Grundzüge der Ethik), 1910, ein, dass Gehorsam gegenüber Regeln wie den Zehn Geboten „in fast allen Fällen bessere Folgen hat als Ungehorsam“. In seinem 1927 entstandenen Werk, Why I Am Not a Christian (Warum ich kein Christ bin), bekannte sich Russell zu agnostischen und antichristlichen Ansichten.

So überrascht es nicht, dass er sich 1929 in dem Essay Marriage and Morality (Ehe und Moral) für die sexuelle Befreiung und die Ablehnung von Monogamie und Moral aussprach. Sein eigenes Leben spiegelt seine Überzeugungen durchaus wider, denn er hatte während seiner vier Ehen - von denen drei mit Scheidung endeten - zahlreiche außereheliche Verhältnisse. Seine Behauptung, Untreue solle nicht „als etwas Schreckliches“ behandelt werden, war für die noch weitgehend konservative und traditionell denkende Öffentlichkeit zutiefst schockierend.

Marriage and Morality führte zum Verlust seiner Dozentenstelle in den USA. Andererseits waren seine Ansichten bei der Avantgarde der linksgerichteten Intellektuellen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren sehr beliebt; in ihren Augen war er ein sich emanzipierender Held. Und es war eben dieser Essay, der ihm ein Jahrzehnt später den Literatur-Nobelpreis einbrachte.

Russell war militanter Pazifist; das Blutbad des Ersten Weltkriegs entsetzte ihn, und er wurde ein unüberhörbarer Kriegsgegner. Seine Beteiligung an Protesten gegen den Krieg brachte ihn sogar für sechs Monate ins Gefängnis.

Danach reiste er nach Russland und China, um Gesellschaften aufzusuchen, die, wie er glaubte, den kriegerischen westlichen Standard überwinden würden. Die Suche erwies sich als Enttäuschung, doch durch sie kam Russell zu der Überzeugung, dass man die Welt nur durch Bildung ändern könne; zu diesem Thema schrieb er dann mehrere Bücher. Nach England zurückgekehrt, versuchte er das Bildungswesen zu revolutionieren, indem er seine eigene, progressive Schule eröffnete: Beacon Hill. Weil es der Schule jedoch nie gelang, das in seinen Augen richtige Gleichgewicht zwischen Disziplin und Freiheit zu finden und zu praktizieren, schrieb er das Experiment schließlich als gescheitert ab.

Die letzten 20 Jahre seines Lebens widmete Russell vor allem dem Kampf gegen die atomare Aufrüstung. In der festen Überzeugung, dass einseitige Abrüstung der Schlüssel zum Weltfrieden sei, hielt er im Jahr 1954 auf BBC seine berühmte Rede über „Die Gefahr für die Menschheit“ - eine düstere Warnung vor den Wasserstoffbombentests im Bikini-Atoll. Später rief er gemeinsam mit Albert Einstein im „Russell-Einstein-Manifest“ zur atomaren Abrüstung auf. Darüber hinaus war Russell Präsident der Kampagne für Nukleare Abrüstung, und im Jahr 1957 organisierte er die erste Pugwash-Konferenz, bei der sich viele führende Wissenschaftler zusammentaten, die der atomaren Rüstung mit Besorgnis begegneten. Er sah eine globale Regierung als einziges Ziel, für das es zu kämpfen lohnte, und als einzige Alternative zum Atomkrieg.

Russel sah eine globale Regierung als einziges Ziel, für das es zu kämpfen lohnte, und als einzige Alternative zum Atomkrieg.

Russells umstrittene Rebellion gegen das, was er als viktorianische Verklemmtheit ansah, machte ihn zu einem Apostel der persönlichen Befreiung von jeder Art Moralkodex. Zusammen mit seinem glühenden Sozialaktivismus macht dies seine große Beliebtheit in den liberalen Sechzigerjahren verständlich. Seine gesellschaftskritischen Ansichten waren ein früher Ausdruck der heute vorherrschenden Einstellung. Mit seinen Argumenten für sexuelle Freiheit, radikalen Feminismus, Sterbehilfe und die Abschaffung der Todesstrafe hatte er einen prägenden Einfluss auf die einsetzende Revolution der gesellschaftlichen Sitten.

Eine treibende Kraft in Russells Leben war die Frage, ob man irgendetwas mit absoluter Sicherheit wissen könne. Im Alter von 90 Jahren soll er bei einem festlichen Diner gefragt worden sein, was er sagen würde, wenn er nach seinem Tod dem Allmächtigen gegenüberstünde. Er soll keck geantwortet haben: „Ich würde ihn fragen, warum er mir nicht mehr Beweise gegeben hat.“

Da er sein Denken dem Glauben verschloss, ist es jedoch fraglich, ob irgendeine Art von Beweis ausgereicht hätte, um ihn von der Existenz eines Schöpfergottes zu überzeugen. Russell war zwar im Glauben an Gott erzogen worden, doch er wurde zum Skeptiker. Wie so viele meinte er, ein solcher Glaube sei irrational und beruhe auf Furcht. Für ihn war Sokrates verehrungswürdiger als Jesus Christus; und bis zu seinem Tod mit 97 Jahren fand Russell seine einzige religiöse Befriedigung in einer sich entwickelnden, idealistischen Philosophie.