Menschenrechte, Menschenpflichten

Vor fast 4.000 Jahren fasste König Hammurabi Rechte, die wir heute Menschenrechte nennen, in Gesetzesform. Wie weit sind wir seither tatsächlich gekommen?

Am 10. Dezember 1948, als die Welt noch von den verheerenden Auswirkungen zweier Weltkriege auf die Menschheit erschüttert war, verabschiedeten die Vereinten Nationen ein außergewöhnliches Dokument. Es war das erste moderne Instrument, das angeborene Menschenrechte identifizierte – Ansprüche, die weder verdient noch von irgendeiner herrschenden Gesellschaftsordnung gewährt werden und die durch unangefochtenes Recht für alle Menschen weltweit zu schützen sein sollten.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist noch immer das Dokument, auf dem das gesamte internationale Recht aufbaut. Als die Vereinten Nationen 2023 ihres 75. Jahrestags gedachten, bemerkte Generalsekretär António Guterres: „Die Erklärung hat zum ersten Mal Rechte beschrieben, die für alle überall und immer gelten“ – „das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, auf Gleichheit vor dem Gesetz, auf freie Meinungsäußerung, auf die Suche nach Asyl, auf Arbeit, medizinische Versorgung und Bildung und mehr.“ In ähnlicher Weise rief Volker Türk, UN-Hochkommissar für Menschenrechte, die internationale Gemeinschaft auf, über die Erklärung nachzudenken und sich neu zu verpflichten, „ihr Versprechen von Würde, Freiheit und Gerechtigkeit für jeden zu erfüllen“.

Der Auftrag der Menschenrechtserklärung, eine gerechte Welt ohne Unterdrückung und Ungleichbehandlung aufzubauen, ist durchdrungen von der Grundauffassung, dass dieses kühne Ziel nur erreicht werden kann, wenn alle Menschen und die Gesellschaften, in denen sie leben, die Verantwortung dafür übernehmen, diese Rechte zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten.

Schön und gut. Aber was bedeutet das in der Praxis?

Ehe wir diese Frage im Licht der Menschenrechtserklärung beantworten, könnte es nützlich sein, anzuerkennen, wie durchgängig solche Diskussionen im Lauf der Menschheitsgeschichte immer wieder aufgekommen sind.

Gerechtigkeit rechtfertigen

Die Vorstellung, wir hätten ein Recht auf bestimmte Dinge, einfach weil wir Menschen sind, ist nicht neu. Eine lange Geschichte zeigt, wie verbreitet diese Vorstellung schon lange ist. Eine der frühen Bemühungen, humanitäre Gerechtigkeit zu kodifizieren, geht auf das 18. Jahrhundert v. Chr. zurück. Damals formulierte der babylonische König Hammurabi 282 Gesetze für die Regierung seines Reichs, und viele von ihnen betrafen Menschenrechte, wie wir heute sagen. Der Historiker Paul Gordon Lauren schreibt darüber: „Der Kodex stellt einige der frühesten Beispiele des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Unschuldsvermutung, des Rechts auf Beibringung von Beweisen und des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren durch Richter dar.“ Außerdem, so Lauren, umfasste Hammurabis berühmter Kodex auch den Schutz derer, die in der Gesellschaft leicht ausgenutzt werden – darunter Sklaven, Frauen, Witwen und Waisen sowie Menschen, die in Armut leben.

Als weiteres Beispiel verweist Lauren auf das Gesetz Moses im alten Königreich Israel: „Vorschriften des mosaischen Rechts zu Dingen, die wir heute als frühe Fassungen von Menschenrechten bezeichnen würden, stellen ausdrücklich Pflichten gegenüber anderen Menschen fest, die nach dem Gesetz zu erfüllen sind (darunter sechs der Zehn Gebote).“ Lauren erläutert, dass es bei diesem erweiterten Rechtskodex darum ging, „Regeln der Gerechtigkeit auf Freunde und Fremde, Freie und Sklaven, Männer und Frauen, Junge und Alte, Reiche und Arme, Gesunde und Behinderte anzuwenden“.

Das althergebrachte und weitverbreitete Interesse an Gerechtigkeit ist seit den ersten Anfängen der Zivilisation selbst evident.“

Paul Gordon Lauren, „The Foundations of Justice and Human Rights in Early Legal Texts and Thought“

Dies ist bei Weitem keine erschöpfende Darstellung der Kulturen, die versucht haben, zu kodifizieren, was es bedeutet, die Würde und Achtung zu gewähren, die alle Menschen beanspruchen konnten und die auch als „gottgegebene“ oder „unveräußerliche“ Rechte bezeichnet worden sind.

Unabhängig davon, wie unveräußerlich diese Rechte sein sollen, hat es natürlich, wie Lauren aufzeigt, immer Menschen gegeben, die sie zwar für sich selbst beanspruchten, aber ein Interesse daran hatten, sie anderen vorzuenthalten. Die Interessen hinter Menschenrechtsverletzungen können Dinge wie Gier, Privilegien, Vorurteile oder einfach Machterhalt sein. Doch was auch immer das Motiv ist: Die Natur des Menschen – offenbar ebenso unveräußerlich wie die Menschenrechte – sorgt dafür, dass Gesetze allein nicht ausreichen, um Missbrauch zu verhindern. Wie viele andere Gesetze bedeuten jene, die Menschenrechte definieren, nicht viel, wenn ihnen nicht Geltung verschafft wird – und ihnen Geltung zu verschaffen, ist nicht einfach. Unter Verweis auf die Bill of Rights – den zur Verfassung der USA gehörigen Katalog von Grundrechten aller Bürger – nennt Lauren Sklaverei, Rassentrennung, Lynchjustiz und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts als nur einige Beispiele dafür, wie Versuche, solchen Rechten Geltung zu verschaffen, immer wieder konterkariert wurden.

Dass solche Verstöße noch immer verbreitet sind, deutet auf eine untrennbare Verbindung zwischen den Begriffen „Rechte“ und „Pflichten“ hin. Mit anderen Worten: Wir können definieren, dass zum Beispiel Gleichbehandlung ein Recht ist, das allen Menschen zusteht. Aber wenn wir uns an Gesetze, die festlegen, was wir anderen schuldig sind, um sicherzustellen, dass sie die gleiche Behandlung genießen wie wir, nicht halten – oder uns selbst verpflichten, sie gerecht zu behandeln, selbst wenn es nicht durch Gesetze vorgeschrieben ist –, wird es nur allzu leicht für uns, unsere eigenen Rechte auf Kosten anderer durchzusetzen. „Das Recht etabliert Pflichten gegenüber anderen in der Gesellschaft“, schreibt Lauren. „Das ist der Grund dafür, dass die Vorstellungen von Menschenpflichten – dem, was man zu tun hat – ganz natürlich zu Vorstellungen von Menschenrechten führen – dem, was einem zusteht.“

Wollte man diesen Gedanken in einer „Mathematik sozialer Gerechtigkeit“ vereinfachen, könnte man sagen, dass das, was von unserem Verhalten gegenüber anderen verlangt wird, die Kehrseite dessen ist, was uns unserer Meinung nach zusteht. Vielleicht erkennt man hier allmählich den Kern der bekannten Goldenen Regel.

Wessen Verantwortung?

1955, sieben Jahre nach der Verabschiedung der Menschenrechtserklärung durch die Vereinten Nationen, wurde Rosa Parks aus Alabama in ganz Amerika berühmt für ihre bewusste Übertretung eines Gesetzes, das schwarze Amerikaner in den hinteren Teil von Bussen verwies. Neun Monate nach einer ähnlichen Herausforderung durch die 15-jährige Claudette Colvin trug dieses Gesetz (das es erlaubt hätte, sie festzunehmen oder körperlich zu attackieren) dazu bei, die Bürgerrechtsbewegung in den USA zu entflammen. Doch das Tragische an ihrer Geschichte ist, dass eine solche Aktion überhaupt notwendig war. Das Recht auf Gleichbehandlung war in der Bill of Rights ihres eigenen Lands und auf internationaler Ebene in der Menschenrechtserklärung schon enthalten und Menschen in Colvins und Parks Umgebung, die nicht der gleichen Gefahr ausgesetzt waren wie sie, wenn sie es in Anspruch nahmen, hätten es gewährleisten müssen.

Diejenigen, die Mittel und Macht haben, sind zwingend verpflichtet, für eine gerechte Behandlung derer zu sorgen, die ohne Mittel und Macht sind. Aber unabhängig davon tragen alle von uns die gleiche ernste Verantwortung gegenüber allen anderen. Es sollte nicht so weit kommen, dass die Unterdrückten gezwungen werden, große Risiken einzugehen, um sich die „unveräußerlichen“ Menschenrechte zu sichern, die ihre Mitmenschen bereits genießen. 

Es ist offenkundig, dass bestimmte äußerlich friedliche und sichere Situationen nicht auf echter Gerechtigkeit beruhen und es deshalb nicht wert sind, aufrechterhalten zu werden. […] Es gibt einen Frieden, der furchtbare innere Konflikte nur bemäntelt, und es gibt eine Sicherheit, die absolut unsicher ist.“

Charles Malik, libanesischer Delegierter bei der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen (San Francisco, 1945)

Ironischerweise drängten die USA, deren eigene Weste in puncto Menschenrechte damals alles andere als blütenweiß war, an vorderster Front darauf, die Menschenrechte als ein Hauptziel der UN-Charta aufzunehmen. Abgesehen von einigen weiteren Ausnahmen hatten die meisten der Delegierten aus 50 Staaten, die im April 1945 zur UNO-Gründungskonferenz in San Francisco zusammenkamen, das Thema Menschenrechte nicht auf dem Schirm. Damals hatten die „Großen Drei“ (die Alliierten Großbritannien, Sowjetunion und USA) Vertreter aus jedem Land eingeladen, das Japan und Deutschland bis zum 1. März des Jahres den Krieg erklärt hatte. In frühen Fassungen der UN-Charta, die aus diesem ersten Treffen hervorgingen, wurden Menschenrechte nur einmal erwähnt – dem damaligen US-Präsidenten Franklin Roosevelt war es äußerst wichtig. Großbritannien und die Sowjetunion stimmten dafür, sie aufzunehmen, lehnten aber den amerikanischen Vorschlag ab, dass sie als eines der Hauptziele der UNO gelten sollten.

Auch der philippinische General Carlos Romulo, der australische Außenminister Herbert Evatt und der libanesische Diplomat Charles Malik taten sich durch Bemühungen hervor, den Menschenrechten Nachdruck zu verleihen – jeder von ihnen mit unterschiedlichen Zielen.

Eleanor Roosevelt, die Vorsitzende des Ausschusses mit dem Auftrag, die Basis für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu erarbeiten, betrachtet ein Exemplar des fertigen Produkts in Plakatformat.

Für Romulo war die treibende Kraft das Leid, das Kolonialismus und Rassendiskriminierung verursacht hatten – damals zwei sehr sichtbare Flecke auf Amerikas Weste. Die Philippinen waren eine US-Kolonie, und bis zur Morgendämmerung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sollte noch ein Jahrzehnt vergehen. Evatts Position bezüglich der Menschenrechte war, dass wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit die Basis jedes dauerhaften Friedens sein müssten. Er sah die Weltwirtschaftskrise als den Auslöser des Siegeszugs totalitärer Regime, die den Zweiten Weltkrieg angezettelt hatten, und er pochte darauf, dass das Gegenmittel Vollbeschäftigung und Freiheit von Not sei. Malik sah das Versäumnis, sich um Menschenrechte zu kümmern, als Versäumnis, sich um eben die Ursachen internationaler Konflikte zu kümmern, zu deren Verhinderung die Vereinten Nationen gerade gegründet wurden.

Zwei der genannten Befürworter – Romulo und Malik – wurden dann mit Eleanor Roosevelt, die einstimmig zur Vorsitzenden gewählt wurde, Mitglieder des Ausschusses, der die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formulierte. Die inzwischen verwitwete frühere First Lady der USA war von Harry Truman, dem Nachfolger ihres Mannes, als Mitglied der US-Delegation der Vereinten Nationen entsandt worden. Nur ein Senator opponierte gegen ihre Ernennung – Theodore Bilbo aus Mississippi. Er erhob Einspruch wegen Mrs. Roosevelts Engagement für Rassengleichheit.

Wie in Eleanor Roosevelts berühmtem Ausspruch ,Menschenrechte beginnen an kleinen Stellen, in der Nähe von zu Hause‘ ist es das persönliche Umfeld, wo wir zuerst unsere Werte anwenden und unsere Rechte und Freiheiten erfahren.“

Shami Chakrabarti, Human Rights: The Case for the Defence

Mit Frau Roosevelt als Vorsitzender, dem Chinesen Peng-Chun Chang als Stellvertreter und Malik als Sekretär machte sich die Menschenrechtskommission an die Arbeit. Es kostete nahezu zwei Jahre – und die Überwindung mancher Hindernisse –, bis die Menschenrechtserklärung in ihrer endgültigen Form formuliert und verabschiedet war.

Während der Entstehungsphase des Dokuments blieben internationale Konflikte natürlich der Status quo. Sowohl die USA als auch die Sowjetunion betrieben eine Politik, die für Spannungen zwischen ihnen sorgte, und so begann der Kalte Krieg. China war mitten in einem Bürgerkrieg, bei dem eine Seite von US-Truppen unterstützt wurde. Auch im Nahen Osten wüteten Konflikte und noch schlimmer wurde es, nachdem die Vereinten Nationen eine Resolution verabschiedet hatten, die die Aufteilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat empfahl.

Der Grundstein für den Weltfrieden

Im Jahr 1946 beschlossen die Vereinten Nationen, dass die Beachtung der Menschenrechte ein zentrales Anliegen sein werde, und hofften, bewaffnete Konflikte zu begrenzen und Frieden zu fördern. Eleanor Roosevelt wurde Vorsitzende des Ausschusses, der die Basis für die ständige Kommission für Menschenrechte erarbeiten sollte. Sie merkte später an: „Viele von uns dachten, das Fehlen von Standards für Menschenrechte in aller Welt sei eine der größten Ursachen von Reibungen zwischen den Nationen und die Anerkennung der Menschenrechte könne einer der Grundsteine werden, auf dem einmal Friede aufgebaut werden könne.“

Um eine internationale Menschenrechtscharta zu formulieren, war die Kommission auf eine breite Vielfalt von Beiträgen angewiesen. John P. Humphrey, Direktor der Abteilung für Menschenrechte innerhalb des UN-Sekretariats, sammelte Gedanken und Vorschläge. Die UNESCO bemühte sich um Beiträge von Gelehrten und Intellektuellen, die unterschiedliche politische, philosophische und religiöse Traditionen repräsentierten. Es war ein mühsamer Prozess, die enorme Menge an Material zu einer organisierten Erklärung aus einer Präambel und 30 Artikeln zusammenzufassen.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde im Dezember 1948 einstimmig verabschiedet, doch diese Rechte in Bezug zu individuellen Pflichten zu setzen, war eine langfristige und mühsame Aufgabe. Mahatma Gandhi hatte auf die Anfrage der UNESCO mit einer Erinnerung an die Worte seiner Mutter geantwortet, „dass alle Rechte verdient werden müssen, indem man seine Pflichten wohl erfüllt. Selbst das Recht, zu leben, bekommen wir nur, wenn wir die Pflicht der Bürgerschaft auf der Welt erfüllen. Von dieser einen grundlegenden Feststellung ist es leicht, die Pflichten von Männern und Frauen zu definieren und jedem Recht eine korrespondierende Pflicht, die zuerst erfüllt werden muss, gegenüberzustellen. Bei jedem anderen Recht kann man zeigen, dass es eine Usurpierung ist, für die es sich kaum zu kämpfen lohnt.“

Auch der chinesische Philosoph und Historiker Lo Chung-Shu hatte die Notwendigkeit beschrieben, dass Rechten entsprechende Pflichten gegenüberstehen, als er den zugrunde liegenden Wert definierte: „die wohlwollende Haltung, alle Mitmenschen als Personen mit den gleichen Wünschen und folglich gleichen Rechten zu sehen, die man selbst gern genösse“.

Über 70 Jahre später sind diese weisen Worte ein Posaunenruf in einer Welt, in der Menschenrechte und die Antwort der Menschen – persönliche Verantwortung – weiterhin unter großem Druck stehen.

Bis heute hat sich wenig geändert. Konflikte und hemmungslose Verletzungen grundlegender Menschenrechte sind noch immer nicht sozialer Gerechtigkeit und Gleichbehandlung gewichen.

Man könnte argumentieren – und das taten die Delegierten zur Menschenrechtskommission aus der UdSSR, Weißrussland, der Ukraine und Jugoslawien, die sich bei der Schlussabstimmung der Stimme enthielten –, es bewirke wenig, Menschenrechte zu erklären, ohne zu benennen, wer dafür zuständig sei, ihnen Geltung zu verschaffen. Die Präambel spricht über Verantwortung mit der Forderung, „jeder einzelne Mensch und alle Organe der Gesellschaft“ sollten für ihre Einhaltung sorgen. Doch wie die weltweiten Ereignisse unablässig zeigen, haben nicht jeder einzelne Mensch und alle Organe der Gesellschaft diese Verantwortung akzeptiert – oder die Menschenrechtserklärung auch nur gelesen.

In A World Made New schreibt die frühere US-Botschafterin Mary Ann Glendon: „Die Verfasser der Erklärung stellten sich 1948 nicht vor, sie hätten die ganze Wahrheit über Menschen und Menschenrechte entdeckt. Sie behaupteten nie, das Dokument, das sie unter schwierigen Umständen erarbeitet hatten, stelle das letzte Wort dar.“ Tatsächlich erkannten sie gemeinsam an, dass es bei Weitem nicht perfekt war. Vielmehr, so Glendon weiter, „lautete die vorherrschende Metapher, es sei ein wichtiger Meilenstein auf einem langen und schwierigen Weg“. Ihre Hoffnung war, dass die Umsetzung dieses Meilensteins künftig zu tieferem Verstehen führen werde.

Menschenrechte ersetzen nicht private ethische und moralische Entscheidungen oder öffentliche, politische und strategische Entscheidungen durch rechtliche. Sie sollten vielmehr alle diese Entscheidungen bestimmen.“

Shami Chakrabarti, Human Rights: The Case for the Defence

Diese Zukunftshoffnung hängt laut Glendon von der Beziehung der Menschheit zur Wahrheit ab. Sie sieht eine gewisse Anfälligkeit für politische Manipulation in der Menschenrechtserklärung, da der Glaube an die Existenz moralischer Wahrheiten auf dem Rückzug ist. „Man hofft, dass dieser Trend ein vorübergehender ist,“ schreibt sie, „denn diesen Glauben zu akzeptieren, bedeutet mit Sicherheit, einem sehr finsteren Zeitalter Tor und Tür zu öffnen. Es ist eine Sache, anzuerkennen, dass der Mensch Wahrheit nur teilweise erkennen kann – aber eine ganz andere, ihre Existenz schlechthin zu leugnen.“

Eine Wahrheit, die Glendon feststellt, ist, dass sich die Bestimmungen der Erklärung aus vielen nationalen und historischen Menschenrechtsinstrumenten speisten. Diese Bestimmungen reflektieren, wie bereits angemerkt, bekannte Themen aus einigen der von Lauren zitierten humanitären und religiösen Texte. Ihre Aussage über die Verantwortung für alle Menschen ist: „Alle Menschen […] sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Lauren verweist auf ähnliche Aussagen im mosaischen Gesetz: „Die Forderungen sind klar: Du sollst nicht unterdrücken. […] Du sollst kein Unrecht begehen. […] Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Diese Gesetze, so Lauren, galten als derart bindend, dass die Machthaber des Lands im Fall von Missbrauch offen herausgefordert wurden, etwas dagegen zu unternehmen, „wie Jesaja energisch forderte: ,Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! […] Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!‘ Dadurch wird ,deine Gerechtigkeit vor dir hergehen‘“.

Was Lauren als klare Forderung im mosaischen Gesetz bezeichnet, ist heute nicht weniger bindend. Irgendwann in der Zukunft, mahnt Glendon, wird man sich an unsere heutigen Generationen dafür erinnern, wie wir unsere Pflicht erfüllt haben, uns umeinander als Menschen zu kümmern – oder eben nicht.

Was wird unser Vermächtnis sein?