Wir sind mehr als nur wir selbst

Aus dem Archiv von Vision. (Neuveröffentlicht im Frühjahr 2022, aus unserer Ausgabe vom Sommer 2020)

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Würde nach diesem Prinzip gehandelt werden, wäre es die Lösung für so viel Diskriminierung, Hass und Zorn in unserer Welt. Es ist eine universelle Wahrheit, die universell zu wenig praktiziert wird. Aber damit dies für uns alle funktioniert, müssen wir erst einmal wissen, wer wir als Individuen sind, und fragen, ob wir lieben können, was wir sind.

Um uns selbst richtig einzuschätzen, bedarf es aufrichtiger Introspektion, die zu einer Veränderung führt, damit wir ein positives Selbstbild haben können. Außerdem müssen wir die Beziehung zwischen Individualität und Gemeinschaft verstehen, denn ein Leben ohne andere Menschen ist nicht gesund.

Wir achten von Natur aus zuerst auf uns selbst. Der Selbsterhaltungstrieb sorgt dafür, dass wir alles schützen, was jeden von uns zu einem einzigartigen Wesen macht. Doch Selbsterhaltung ist ohne Ressourcen, die über das Selbst hinausgehen, nicht möglich. Wir sind nicht vollkommen unabhängig. Selbst der Ausgestoßene, allein auf einer Wüsteninsel, kann nicht überleben, ohne von außerhalb seiner selbst Nahrung und Wasser zu bekommen.

Nun könnte man sagen, dass sich solche Menschen auf die Natur verlassen, die sie am Leben erhält. Das stimmt, und eine Zeit lang werden sie überleben. Aber was über das Überlebensnotwendige hinaus immer fehlt, ist soziale Interaktion mit anderen Menschen. Wir sind keine reinen Einzelwesen. Wir legen großen Wert auf unsere Individualität, aber vollständige Isolation bringt uns auf die Dauer um. Einsamkeit ist eine der Geißeln unserer Zeit und ohne Abhilfe führt sie zu einem langsamen Tod.

Aber es gibt noch einen gewichtigeren Grund dafür, unsere Mitmenschen zu lieben wie uns selbst. Ganz einfach: Als Einzelwesen, die das Menschsein und die Ressourcen der Erde miteinander teilen, haben wir die Pflicht, uns praktisch, emotional und sozial umeinander zu kümmern. So, wie wir uns um andere kümmern, werden sie sich um uns kümmern – allerdings nur, wenn wir uns alle in gleicher Weise an diese Fürsorgepflicht binden.

Ein ähnliches Prinzip lautet: „Ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.“ Würde das praktiziert werden, würde dann der Migrant aus Mexiko in einem Käfig festgehalten werden? Würde den Schwarzen und Braunen, den Indianern und den Minderheiten, den armen Weißen und den Obdachlosen aller Farben die Gleichberechtigung verweigert? Wären Ungleichbehandlung, Benachteiligung und Hass für den größten Teil der Menschheit an der Tagesordnung? Wie viel würde erreicht, wenn man diese einfache Regel geradlinig anwenden würde?

Es gibt auch ein Maß an Fürsorge für Mitmenschen, das über die Selbstliebe hinausgeht. Es wird manchmal als das Prinzip der Selbstentsagung bezeichnet – nicht nach innen gerichtete, asketische Kasteiung des Körpers, sondern das Hintanstellen persönlicher Bedürfnisse in nach außen gerichteter Fürsorge und Hilfe für andere. Wie die anderen oben zitierten Leitsätze basiert dies auf dem Gesetz Gottes, wie Jesus es gelebt hat. Er stellte persönliche Wünsche hintan, um anderen zu dienen. Und das Gleiche erwartete er von denen, die ihm folgten, „so, wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“

Seine Lehre ging über eine oberflächliche, unvollständige Anwendung des Prinzips Nächstenliebe weit hinaus: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ›Du sollst deinen Nächsten lieben‹ (Matt. 5, 43–45a) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“

Wie fängt man es an, seine Feinde zu lieben? Ich meine, das Erste ist dies: Um seine Feinde zu lieben, muss man sich zuerst selbst analysieren.“

Martin Luther King Jr., „Loving Your Enemies“

Mit unserer Individualität ins Reine zu kommen bis zur Selbstentsagung, um anderen zu dienen, ist der Schlüssel zu dem sozialen Fortschritt, den wir alle gern erleben würden. Es ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer kooperativen und friedlichen Welt, befreit von dem Hass und der Gespaltenheit, die wir heute überall sehen. Auf andere mit Liebe zuzugehen, ist das Maß eines vom Geist geführten Denkens.

Mehr darüber, wie sich Ihr Leben wandeln kann, finden Sie in der Vision-Artikelsammlung „Der Weg zur persönlichen Veränderung“.