Wer bin ich? Wer sollte ich sein?

Aus dem Archiv von Vision: Sinnvolle Veränderung gelingt durch persönliches Handeln aus dem selbstbestimmten Willen, das Richtige für das Wohl aller zu tun. (Aus unserer englischen Ausgabe vom Sommer 2004, leicht überarbeitet für Frühjahr 2022)

Unsere Herkunft ist und bleibt offenbar faszinierend für uns. Wir besuchen Internetseiten über Genealogie, erzählen auf die geringste Ermutigung hin unsere persönliche Geschichte, suchen nach Geschwistern, die wir aus den Augen verloren haben, oder versuchen, ein Elternteil zu treffen, das wir nur von Fotos kennen. Unsere Wurzeln verlassen uns nie, und persönliche Identität ist vielleicht unser kostbarster und bestgehüteter Besitz. Wir bauen sie auf, schützen sie, verteidigen sie und finden Wege, sie zu erweitern. Nimmt man einem Menschen seine Identität, so wird er sie alsbald in neuer Form wieder erschaffen.

Identitätspolitik ist ein Forschungsgebiet, in dessen Mittelpunkt Konflikte aufgrund gegensätzlicher Identitäten stehen. Im Mittleren und Nahen Osten gibt es reichlich Beispiele für solche Konflikte, die internationale Ausmaße angenommen haben. Das ist seit Langem so. Und weil Identität mit so viel Eifer gehütet wird, ist es so notorisch schwierig, Konflikte beizulegen, wo es im Kern um Identität geht. Aber ist es unmöglich, sie beizulegen?

In dieser Ausgabe wollen wir darüber berichten, wie sich das menschliche Gehirn unter bestimmten Bedingungen neu verdrahtet. Bringt dieses relativ neue Wissen Hoffnung bei den großen Themen Aggressionsbewältigung und Depression, Hass und Rassenvorurteile? Und könnte es sein, dass das komplexe System der neuronalen Bahnen, das unverträglichen Identitäten zugrunde liegt, neu verdrahtet werden kann, um Zusammenarbeit zu ermöglichen? Ein wichtiges Forschungsergebnis der Neurowissenschaft ist, dass selbstbestimmte, achtsame Wahrnehmung eines Problems und angemessenes Umdenken nachweisbare physische Veränderungen in den Schaltkreisen des Gehirns bewirkt.

Das Nachdenken darüber, wer man ist, eröffnet einen Einstieg in die Lösung identitätsbasierter Probleme. Aber das ist nur ein Anfang. Die neuen Entdeckungen erklären, „was uns zu dem macht, was wir sind“, aber sie fordern uns auch auf, „zu überlegen, wer wir sein wollen“, so der Psychologe Steven Pinker vom Massachusetts Institute of Technology. Es ist dieses „Wer sollte ich sein?“, das uns die bequemen Selbstrechtfertigungen und Rationalisierungen wegnimmt. Diese Frage konfrontiert uns damit, in welchen Bereichen etwas bei uns nicht richtig ist. Sie zwingt uns, uns moralischen und ethischen Fragen zu stellen. Will ich das Beste für meine Mitmenschen? Ist mir ihr Wohlergehen ebenso wichtig wie mein eigenes?

Vor einigen Jahren ging ich mit meinem Fernsehteam mit einer Fußstreife israelischer Drusen durch die düsteren Straßen von Gaza-Stadt. Hinter einem rostigen Tor war eine palästinensische Mutter zu hören, die unsere Kamera gesehen hatte und unseren Zuschauern – wer sie auch sein mochten – mitteilen wollte, dass sie sich nur nach Frieden sehnte: der Schrei aller Mütter. Aber um dieses verzweifelte Bedürfnis in politische Lösungen umzusetzen, die dauerhaft sind und den beteiligten Völkern zugutekommen, müssen die moralisch-ethischen Implikationen der Frage „Wer sollte ich sein?“ umgesetzt werden.

Am Ende ist sinnvolle Veränderung nur durch persönliches Handeln zu erreichen, motiviert durch den selbstbestimmten Willen, das Richtige für das Wohl aller zu tun. Die hebräische Bibel nennt dies schub: erkennen, wo wir auf dem falschen Weg sind, umkehren und in die andere Richtung gehen – die richtige Richtung. Das Christentum nennt dies Buße. Zwar lehrt Paulus, dass es die Güte Gottes ist, die uns dazu führt, so radikal umzudenken (Römer 2, 4), doch auch wir müssen unseren Beitrag leisten, indem wir dann nach dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe handeln. Als ein Mann Jesus zynisch fragte: „Und wer ist mein Nächster?“, ließ die Antwort keinen Zweifel daran, dass die ganze Menschheit mitgemeint war. Die Definition des Nächsten auf die zu begrenzen, mit denen wir uns am engsten identifizieren, ist kein Ausweg.

Ein Gehirn kann neu verdrahtet werden, eine Identität kann sich ändern, Konflikte können enden. Der Weg nach vorn ist der Wille, das Richtige zu tun, beherrscht vom göttlichen Gebot der Liebe.