Wer ist der Gott des Alten Testaments?

Menschliche Vorstellungen davon, wer und was Gott ist, gibt es in mindestens so vielen Variationen, wie es Religionen gibt. Selbst innerhalb des Christentums stolpern Gläubige über scheinbar widersprüchliche Beschreibungen Gottes. Für viele ist der Gott des Alten Testaments eine ganz andere Persönlichkeit als der Gott des Neuen Testaments: Der erste ist hart und urteilend, der zweite voll Gnade und Erbarmen. Wie können wir den Gott des Alten Testaments heute verstehen?

Die Vorstellungen, die viele Christen heute von Gott haben, gehen auf die Antike zurück, wobei einschneidende Ereignisse in der jüngeren Geschichte dazu beigetragen haben, einige dieser Vorstellungen im Denken der Menschen zu zementieren. Ein solches Ereignis war die Beulenpest, die die Bevölkerung Europas im 14. Jahrhundert – damals unter der Vorherrschaft der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirchen des Ostens – dezimierte und terrorisierte. Die gesamte Region war eine Brutstätte der Angst, im weltlichen wie im theologischen Sinn. Viele glaubten, die Ursache dieses extremen Leidens sei der Zorn Gottes, seine Rache an den sündigen Menschen. Die Kirchen konnten dies mit Bibelzitaten bestätigen, zum Beispiel: „Ich will alles Unglück über sie häufen, ich will alle meine Pfeile auf sie schießen. Vor Hunger sollen sie verschmachten und verzehrt werden vom Fieber und von jähem Tod“ (5. Mose 32, 23-24).

An der Seuche, die auch als Schwarzer Tod bezeichnet wurde, starb ein geschätztes Drittel, wenn nicht sogar die Hälfte der Weltbevölkerung; so war diese Erklärung nicht schwer zu akzeptieren: Der Gott, der die Menschen erschaffen hatte, war einfach zornig und sie hatten damit zu rechnen, dass er sie für ihre Fehler bitter büßen ließ.

In dieser Welt begann der junge Martin Luther im frühen 16. Jahrhundert seine theologische Laufbahn. Luthers persönliche Furcht vor dem Tod war die Basis für die Entwicklung seines Bildes von dem Gott, den die hebräische heilige Schrift offenbart. Luther begann, an der Macht der römisch-katholischen Kirche über die Menschen – die ein Geschäft mit der Schuld war – Anstoß zu nehmen, und fand, das Alte Testament habe für Christen wenig Relevanz. Für ihn war der liebende, vergebende Christus das Wichtigste; das Alte Testament hatte nur Wert, insofern es Christus bestätigte. Luthers Denken führte nicht nur zur Reformation, sondern trug auch dazu bei, das Neue Testament vom Alten Testament zu distanzieren, selbst wenn das nicht ganz in seiner Absicht lag.

Das Neue Testament, insistierte Markion, offenbare den wahren Gott durch das Kommen Christi vom Himmel. Anders als der Demiurg sei dieser Gott ein Gott der Liebe.“

Marvin R. Wilson, Our Father Abraham: Jewish Roots of the Christian Faith

Doch Luther war nicht der erste Theologe, der zu solchen Schlüssen kam. Im 2. Jahrhundert reiste ein griechischer Irrlehrer namens Markion nach Rom und legte der römischen Kirchenleitung seine neuen theologischen Ansätze dar. Er konnte den Gott des Alten Testaments, den er den Schöpfergott nannte, nicht mit dem von Christus offenbarten Gott in Einklang bringen, welchen er den höchsten Gott nannte. Markion sah die Kirche, die Christus vor rund 100 Jahren gegründet hatte, als vom Judentum und somit vom Gesetz des Alten Testaments verfälscht. Für ihn war dieses Gesetz der Ausdruck eines gerechten, unerbittlichen, zornigen Gottes, der blinden Gehorsam und angstvolle Verehrung forderte. Der Catholic Encyclopedia zufolge wollte Markion „ein Christentum, das von keiner Verbindung mit dem Judentum gehemmt und besudelt war“. Noch etwas direkter war Abraham J. Heschel, einst Professor am Jewish Theological Seminary in New York: „Markion wollte ein Christentum, das frei von jeder Spur des Judentums war. Er sah es als seine Aufgabe, die absolute Gegensätzlichkeit zwischen der hebräischen Bibel und den Evangelien aufzuzeigen. Er lehnte die hebräische Bibel in Bausch und Bogen ab und setzte an ihre Stelle eine neue heilige Schrift, deren Kern die Briefe des Paulus waren“ (The Prophets, 1962).

Weil er den Gott der Liebe und Güte in den Evangelien nicht mit dem Gott des Alten Testaments in Einklang bringen konnte, den er als hart ansah, kam Markion zu dem Schluss, es gebe zwei Götter: den gerechten, aber rachedurstigen Gott des Gesetzes – den Demiurg/Schöpfer, Gott der Juden – und den gütigen Gott, den Vater Jesu Christi. Tertullian schrieb Anfang des 3. Jahrhunderts: „Wir wissen recht gut, dass Markion zwei verschiedene Götter statuiert: einen, der Richter, Tyrann und Kriegsherr ist, und einen, der milde, sanft, nur gut, ja ganz gut ist.“ (Adversus Marcionem 1.6). [Ü. nach K. A. Heinrich Kellner]

Ob Markions Lehren Einfluss auf Martin Luther hatten, ist schwer zu sagen. Allerdings bestehen Ähnlichkeiten zwischen ihren Vorstellungen: Beide glaubten, es gebe für das Alte und das Neue Testament jeweils eine separate Gottheit, und beide stützten sich bei der Theologie, die sie entwickelten, stark auf die Schriften des Apostels Paulus. Luther sah in der hebräischen heiligen Schrift dennoch eine gewisse Basis dafür, Christus zu verstehen (z. B. in den Verheißungen über den Messias). Trotzdem konzentrierte er sich zunehmend auf die Schriften des Apostels Paulus.

Luthers Bemühungen, das Gesetz zu verstehen, wurden zweifellos in einem gewissen Maß durch seinen wachsenden Hass gegen die Juden erschwert. Wie Markion kam er zu dem Schluss, der Gott der Juden und das Judentum hätten absolut nichts mit Christus zu tun. Für Luther war das Gesetz etwas, das Israel gegeben worden war und nur im Licht des Evangeliums Bedeutung hatte.

In diesem Zusammenhang schrieb der Kirchenhistoriker Bernhard Lohse: „Was das Gesetz betrifft, so enthält das Alte Testament nicht nur den Dekalog, sondern auch das Volksgesetz für Israel … Soweit das alttestamentliche Gesetz das jüdische Volksgesetz ist, hat es für die Christen keine Bedeutung. Gegen die ,Schwärmer‘ kann Luther sagen, ,dass alle solche Mosische lerer das Euangelion verleucken, Christum vertreyben und das gantze newe testament auff heben. Ich rede itzt als eyn Christen und für die Christen. Denn Moses ist alleyne dem Judischen volck gegeben und geht uns Heyden und Christen nichts an‘.“ (Luthers Theologie, 1995). [Originalschreibweise!]

Den jüdischen Theologen Heschel überraschten solche Erklärungen nicht. Er schrieb: „Markions Verkündigung über den Gott Israels ist im Denken der westlichen Menschen bis heute hartnäckig bewahrt geblieben.“

Der Bibelwissenschaftler Marvin R. Wilson stimmt zu: „In der heutigen Kirche haben, wenn auch oft raffiniert getarnt, recht starke Reste des Markionismus überlebt. Aber wir sind höflich. Wir sind uns seiner subtilen Gegenwart kaum bewusst und nennen ihn nicht ,Neo-Markionismus‘, ,Häresie‘ oder ,Judenfeindlichkeit‘. Doch in unserem konzertierten Bemühen, Gläubige des ,Neuen Testaments‘ zu sein, haben wir die Stellung und Bedeutung des Alten Testaments sowie die hebräischen Wurzeln der Kirche allzu oft unbewusst minimiert“ (Our Father Abraham: Jewish Roots of the Christian Faith, 1989).

DIE BIBEL – EIN KONTINUUM 

Wenn jedoch ein klares Gottesbild noch immer von dem Erbe Markions und Luthers verstellt wird, wie soll man dann den Gott des Alten Testaments verstehen? Ein Anfang könnte darin liegen, die Bibel an sich anders zu sehen. In ihrem Bestreben, sich von den hebräischen Wurzeln der Kirche zu distanzieren, unterschied die christliche Hauptströmung, welche sich allmählich etablierte, zwischen der hebräischen heiligen Schrift und den apostolischen Schriften. So bürgerten sich im 3. oder 4. Jahrhundert die lateinischen Begriffe für Altes Testament und Neues Testament ein. Der Apostel Petrus machte diesen Unterschied allerdings nicht. Er wies auf Briefe des Apostels Paulus hin, die im 1. Jahrhundert bereits als Teile der „Schriften“ galten (2. Petrus 3, 14-16).

Wenn wir, wie Petrus, die Bibel als ein Ganzes sehen, das sich entwickelt hat – ein Buch, das Gott und seine Botschaft nach und nach offenbart –, wird ein anderes Gottesbild erkennbar. Paulus, dessen Schriften oft so verstanden werden, als habe er den Gott des Alten Testaments abgelehnt, hatte kein Problem damit, sein Verständnis von Gott und dem Evangelium mit der hebräischen heiligen Schrift in Einklang zu bringen. Er schrieb an seinen jüngeren Mitbruder Timotheus, „dass du von Kind auf die Heilige Schrift kennst, die dich unterweisen kann zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus“ (2. Timotheus 3, 15, kursiv vom Autor). Da die apostolischen Schriften in Timotheus’ Kindheit noch nicht existierten, ist die heilige Schrift, welche Paulus beschrieb, die hebräische heilige Schrift – das sogenannte Alte Testament. Paulus glaubte eindeutig, dass sie zum Glauben an Jesus Christus helfen und die Gläubigen auf den Weg zum Heil bringen konnte.

Es ist hierbei auch interessant, das Beispiel Jesu Christi zu betrachten. Wenn er lehrte und predigte, zitierte er oft die hebräische heilige Schrift, um seine Botschaft zu untermauern. Ein wichtiger Zweck seines Kommens, sagte er, war das Gesetz zu erfüllen, nicht es aufzulösen (Matthäus 5, 17-19; Jesaja 42, 21). Statt das Alte Testament abzutun, stützte Jesus sich auf dessen Autorität, um seinen Zuhörern zu einem besseren Verständnis Gottes und seines Willens zu verhelfen.

Jesus begann sein öffentliches Wirken in Galiläa; dem Evangelisten Markus zufolge ging er in diese Region „und predigte das Evangelium Gottes“ (Markus 1, 14). Lukas, ein anderer Evangelist, berichtet, dass Jesus etwa zu dieser Zeit am Sabbat in eine galiläische Synagoge ging und der Gemeinde eine Passage aus dem Buch Jesaja vorlas, um seiner Botschaft Nachdruck zu verleihen. Dies legt nahe, dass Jesus die Lesung aus dem Alten Testament als Verkündigung der frohen Botschaft verstand (Lukas 4, 16-21). Mithilfe des Alten Testaments erklärte er, was sein „Neues Testament“, sein neuer Bund, bedeutete.

Jahrhunderte zuvor hatte der Prophet Jeremia einen Gott verkündet, der über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinweg handelt. In Jeremia 32, 26-42 beginnt er, indem er Israel für seinen Götzendienst tadelt, der Gott sehr missfalle. Dies könnte als Zeichen für einen zornigen alttestamentlichen Gott ausgelegt werden. Doch versichert Jeremia als Nächstes, dass Gott das Volk Israel in der Zukunft erlösen und in eine liebevolle Beziehung zurückholen wird: „Sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein“ (Vers 38). Diese Passage enthält zwei Prophezeiungen. Die eine hat sich schon mehrere Jahrhunderte vor der Zeit Christi erfüllt: „Siehe, ich gebe diese Stadt in die Hände der Chaldäer und in die Hand Nebukadnezars, des Königs von Babel, und er soll sie erobern“ (Vers 28). Die andere soll in der Zukunft erfüllt werden: „Siehe, ich will sie sammeln aus allen Ländern, wohin ich sie verstoßen in meinem Zorn, Grimm und großem Unmut, und will sie wieder an diesen Ort bringen, dass sie sicher wohnen sollen. Sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein“ (Vers 37-38). In beiden Prophezeiungen bezieht sich Jeremia auf denselben Gott. Mit anderen Worten: Der Gott der historischen Erfüllung ist derselbe wie der Gott der künftigen Erfüllung.

DER ALTE UND NEUE BUND 

Der wohl stärkste Beleg für Gottes Kontinuität in der gesamten Bibel bezieht sich auf den „Bund“ – eine besondere Vereinbarung, einen Pakt. Der Gott des Alten Testaments schloss einen Bund mit Abraham (1, Mose 15), in welchen er dann auf dem Berg Sinai das ganze Volk Israel aufnahm: „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern“ (2. Mose 19, 5). Und unmittelbar vor dem Einzug ins Gelobte Land wiederholte Mose die Verheißung: „Der HERR hat dich heute sagen lassen, dass du sein eigenes Volk sein wollest, wie er dir zugesagt hat, und alle seine Gebote halten wollest, … damit du dem HERRN, deinem Gott, ein heiliges Volk seist“ (s. 5. Mose 26, 16-19).

Auf dem Berg Sinai empfing Mose von Gott zwei Steintafeln, auf die er „die Gebote des Bundes, die zehn Gebote“ schrieb (2. Mose 34, 1, 28, Mengebibel). Vierzig Jahre später wies Mose die Israeliten an, große Steine aufzurichten und „alle Worte dieses Gesetzes“ darauf zu schreiben – als Erinnerung, dass sie durch Gehorsam gegenüber seinem Gesetz das Volk Gottes werden sollten (5. Mose 27, 1-10).

Wie die Bibel berichtet, waren die Israeliten jedoch nicht gehorsam und wurden unterjocht. Doch derselbe Gott sprach durch den Propheten Hesekiel weiter von ihrem Bund – dieses Mal als etwas Zukünftigem: „Und ich, der HERR, will ihr Gott sein … Und ich will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen … Und sie sollen erfahren, dass ich, der HERR, ihr Gott, bei ihnen bin und dass die vom Hause Israel mein Volk sind, spricht Gott der HERR“ (Hesekiel 34, 24-30).

Der Bund wird auch im Neuen Testament erwähnt; dort wird er in Hebräer 13, 20 als „ewiger Bund“ bezeichnet. Allerdings wird die Beziehung, die Gott seinem Volk bietet, im Neuen Testament auch „neuer“ Bund genannt – jedoch nicht neu in dem Sinne, dass es sich um eine andere Vereinbarung handelt. Bei dem griechischen Wort schwingt die Bedeutung „ungebraucht“, „ungetragen“ oder „frisch“ mit. Der Bund, der dem Volk Israel gegeben wurde, blieb unerfüllt oder ungenutzt, weil die Israeliten sich nicht an ihren Teil der Vereinbarung hielten. Statt dass Jahwe ihr Gott war und sie sein treues Volk, brachen sie immer wieder Gottes Gesetz und hingen den zahllosen heidnischen Göttern jener Völker an, unter denen sie lebten. So wurde die Erfüllung des Bundes durch menschliche Sünde verhindert. Damit das Volk endlich mit seinem Gott versöhnt werden konnte, musste Christus geopfert werden.

Und ich will aufrichten meinen Bund zwischen mir und dir und deinen Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht, dass es ein ewiger Bund sei, sodass ich dein und deiner Nachkommen Gott bin.“

1. Mose 17,7

Das Neue und „Frische“ an dem Bund war, dass das Gesetz nun nicht mehr auf Steine geschrieben werden sollte, sondern „in ihren Sinn, und in ihr Herz“ (Hebräer 8, 10); es sollte eine Art des Denkens und Handelns sein, eine Art zu leben – möglich gemacht durch Jesu Tod und Auferstehung und den heiligen Geist, den er sandte, um die zu stärken, die willens waren, sich an Gott zu halten. Dieser Teil des Hebräerbriefes (8, 8-12) ist ein Zitat von Jeremia 31, 31-34, und beide erinnern an 5. Mose 26, 16-19 (s. auch 5. Mose 29, 9-13 und 1. Mose 17, 7-8). In jeder dieser Passagen lautet die Aussage: „Ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein.“

Gott wünscht eine Beziehung mit seinem Volk „Israel“ nicht nur im wörtlichen Sinn, sondern seit der Zeit der Apostel auch in dem viel weiteren, übertragenen Sinn des „geistlichen Israel“, dem alle Völker angehören und dessen Vater im Glauben Abraham ist. Diese Beziehung ist ein Kontinuum, ebenso wie die Bibel ein Kontinuum ist, und ihr Herr ist immer derselbe Gott.