Wer ist gefährdet?

Altenmisshandlung ist ein ernstes Problem, nicht nur in einigen Ländern der Welt. „Sie ist ein Problem, das über alle geografischen, sozioökonomischen, rassischen und ethnischen Grenzen hinweg existiert“, erklärt Elizabeth Podnieks, Vizepräsidentin des International Network for the Prevention of Elder Abuse.

Die Beschreibung der verschiedenen Gewaltformen (Siehe Kastenartikel „Was ist Altenmisshandlung?“) sollte uns erschüttern, und die meisten Menschen sind fassungslos, wenn sie erfahren, dass solche Misshandlungen sogar vielen alten Menschen zugefügt werden. Doch das Problem ist nicht unvermeidlich: Bestimmte Faktoren bewirken ein höheres Risiko für manche Menschen, entweder Täter oder Opfer zu werden.

1. Fehlendes Wissen

Vielen fehlt es an Vorbereitung oder Erfahrung, um einen alten Menschen zu pflegen“, sagt Carmel Bitondo Dyer, Kodirektorin des Texas Elder Abuse and Mistreatment Institute, und fährt fort: „Doch wenn man für ein Kind zu sorgen hätte – dafür gibt es massenhaft Bücher, oder man könnte einfach die Großmutter fragen: Was muss ich tun, wenn das Baby das und das macht? Denen, die Senioren versorgen, steht dagegen nicht dieses Maß an Unterstützung und Informationen zur Verfügung. Dies könne zu unbeabsichtigter Misshandlung und Vernachlässigung führen.“

Frau Podnieks zitiert den Fall einer Frau, die ihre abhängige, alte Mutter an einen Stuhl gebunden hatte (neben den sie Essen und Wasser stellte), während sie tagsüber bei der Arbeit war. „Die Mutter hatte Alzheimer und neigte zum Herumwandern, und da dachte die Tochter, es sei eine gute Idee, ihre Mutter festzubinden, damit sie in Sicherheit war“, berichtet sie. Frau Podnieks zufolge wollte die Tochter die Mutter nicht misshandeln – sie hatte einfach keine Ahnung, dass dies nicht die richtige Art war, mit der Situation umzugehen.

2. Eine Geschichte familiärer Gewalt

In vielen Fällen sind Menschen, die Alte misshandeln, selbst misshandelt worden, und es entsteht ein Kreislauf der Gewalt. „Oft stellen wir fest, dass die Frau, die ihren gebrechlichen Mann misshandelt, ihm heimzahlt, dass er sie früher misshandelt hat. Jetzt kann er sich nicht mehr wehren, und jetzt bekommt er es zurück“, berichtet Deana Johnson, Geschäftsführerin des Council on Aging in Windsor (Ontario). Das Gleiche gelte für Kinder, die von ihren Eltern Gewalt erfahren haben: „Die Mutter hat ihr Kind vielleicht misshandelt, und dieses soll sie nun im Alter pflegen und wird selbst zum Täter.“ Relevant ist auch die Frage: Wie hat man in der eigenen Familie die Alten behandelt? Welche Achtung vor dem Mitmenschen hat man in der eigenen Familie und Umgebung gelernt?

3. Persönliche Probleme des Täters

Manche Pflegepersonen können aufgrund ihrer eigenen Schwächen besonders gefährdet sein, alte Menschen zu misshandeln. Jemand mit Problemen wie Drogensucht, Alkoholismus, Überlastung wegen psychischen oder körperlichen Krankheiten, Frustration aufgrund langjähriger Arbeitslosigkeit oder unlösbarer finanzieller Schwierigkeiten ist anfälliger dafür, zum Täter zu werden, als jemand, der solche Probleme nicht hat.

Ein Mensch mit vielen seelischen oder gesundheitlichen Problemen hat vielleicht schon genug zu bewältigen. Wenn er auch noch für einen alten Angehörigen sorgen soll, kann genau das zu viel sein“, weiß Laura Mosqueda, Direktorin des Elder Abuse Forensic Center in Orange County (Kalifornien). Der mit der Pflege Betraute könnte versucht sein, seine Frustration mit verbaler oder körperlicher Gewalt an dem alten Menschen abzureagieren. Wenn der Pflegende spiel- oder drogensüchtig ist, könnte er auch versucht sein, einen alten Angehörigen finanziell auszubeuten, um seine Sucht zu finanzieren.

4. Körperliche oder geistige Behinderung des alten Menschen

Einigen Studien zufolge sind Betagte mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung wie z. B. Alzheimer eher gefährdet, misshandelt zu werden, als gesunde Senioren.

Wenn die Pflegebedürftigkeit alter Menschen zunimmt, steigt auch ihr Risiko, misshandelt zu werden, denn sie brauchen möglicherweise mehr Hilfe mit intimen Dingen wie Baden, Kämmen und Hygiene“, erklärt Frau Mosqueda. „Der Ehepartner oder das Kind als Pflegeperson kann immer stärker unter Stress geraten und zieht nun vielleicht weitere Helfer hinzu. Je mehr Pflegepersonen beteiligt sind, desto mehr potenzielle Täter sind da.“ Nicht unerheblich ist sicher auch der Gedanke: „Der/die kriegt eh nichts mehr mit.“

5. Zeitmangel

Auch der Stress des Alltags kann ein gefährdender Faktor sein. „Besonders an Frauen wird oft von allen Seiten gezerrt“, sagt Lee Stones, Gerontologin in Thunder Bay (Ontario). „Sie haben ihren Beruf, Pflichten in Familie und Haushalt, und sie sind überlastet und überarbeitet.“ Diese „Sandwich-Generation“ nimmt oft alte Eltern auf, die nicht mehr allein leben können und sich betreutes Wohnen nicht leisten können.

Da der Tag nur 24 Stunden hat, haben weibliche Angehörige manchmal nicht die Zeit oder Kraft, angemessen für alte Angehörige zu sorgen, und die Folge ist unbeabsichtigte Vernachlässigung. „Irgendjemand bleibt da auf der Strecke“, sagt Frau Podnieks, „und gewöhnlich ist es der alte Mensch, denn er ist am wenigsten gefährlich für die Situation des Pflegenden.“