Die Qumran-Rollen neu aufgerollt

Seit über 50 Jahren gibt es Konflikte um die antiken Schriftrollen, die in der judäischen Wüste gefunden wurden. Was haben wir von diesen umstrittenen Texten gelernt?

Während die Vereinten Nationen im Mai 1947 über die Bildung eines jüdischen Staates debattierten, machte ein beduinischer Hirtenjunge eine bemerkenswerte Entdeckung. Mohammed ed-Dhib stolperte über eine Ansammlung von Tonkrügen, als er in Höhlen oberhalb von Khirbet Qumran in der Nähe des Toten Meeres nach einer verirrten Ziege suchte. In den Krügen fand er antike Lederschriftrollen, die wir heute als Qumran-Rollen kennen.

Es wird allgemein angenommen, dass die Rollen gegen Ende der 60er-Jahre des ersten Jahrhunderts in der trockenen Einöde Judäas versteckt wurden, als römische Legionen aus mehreren Richtungen auf Jerusalem marschierten, um den jüdischen Staat zu vernichten. Es ist daher eine Ironie der Geschichte, dass ihre Wiederentdeckung mit der Entstehung des neuen jüdischen Staates zusammentraf.

Eine weitere Ironie ist es, dass nicht nur die Identität derer, die die Rollen versteckten, sondern fast auch die Rollen selbst der Nachwelt verloren gingen. Die muslimischen Hirtennomaden fanden rasch Verwendung für die Tongefäße und ihren Inhalt. Sie sollen versucht haben, einige der antiken Lederrollen in ihren Lagerfeuern zu verbrennen, um es in einer kalten Nacht ein wenig wärmer zu haben. Wäre nicht der beißende Geruch gewesen, als die Rollen brannten, wären sie vielleicht alle in Rauch aufgegangen.

Mohammed und seine Familie brachten einige der übrigen Rollen zu einem Schuster in Bethlehem, vielleicht in der Hoffnung, sie würden sich besser für Sandalen eignen als für das Lagerfeuer. Der Schuster, dessen Name Kando in die Geschichte einging, sah sich als Antiquitätenhändler. Er erkannte den potenziellen Wert der Rollen und zahlte der Beduinenfamilie ein paar Münzen für ihren Fund.

Dann arrangierte er, dass die Beduinen vier Rollen zu Mar Samuel brachten - dem Metropoliten der syrisch-orthodoxen Gemeinde in Jerusalem, der Kando angehörte -, um ihren genauen Wert festzustellen. Die Dienerschaft des Metropoliten wies die Besucher zunächst als Bettler ab, doch schließlich gelang es den Beduinen, den Zweck ihres Besuches zu vermitteln. Mar Samuel bezahlte für die vier Rollen 24 Britische Pfund (damals rund 97 US-Dollar), die sich Kando wie versprochen mit den Beduinen teilte.

DIE ROLLEN WECHSELN DIE BESITZER

Zu diesem Zeitpunkt kannte niemand auch nur die Sprache, in der die Rollen beschrieben waren. In der Hoffnung, ihren Wert zu erfahren, setzte sich der Metropolit deshalb mit Professor Eliezer Sukenik von der Hebräischen Universität in Jerusalem in Verbindung.

Der Professor hatte inzwischen gehört, dass Kando, der Schuster, einige ähnliche Rollen besaß, wusste aber nicht, dass sie vom selben Fundort stammten. Sukenik wollte sie ihm abkaufen, doch die Lage war, gelinde gesagt, heikel. Die Krise in der Region war auf dem Höhepunkt. Trotzdem riskierte Sukenik am 29. November 1947 - dem Tag, an dem die Vereinten Nationen beschlossen, den Staat Israel zu gründen - sein Leben und fuhr in das von Arabern kontrollierte Bethlehem, um Kando die drei übrigen Rollen abzukaufen.

Mar Samuel überließ dem Professor der Hebräischen Universität dann leihweise seine vier Rollen zur Untersuchung. Sukenik und die Universität hatten also einmal alle Rollen zusammen, wussten aber noch nicht, dass sie aus der gleichen Höhle bei Qumran kamen. Als Sukenik Mar Samuel bat, ihm seine Rollen zu verkaufen, lehnte dieser jedoch ab, und der Professor gab sie ihm widerstrebend zurück.

Nach weiterer Untersuchung der drei Rollen, die er Kando abgekauft hatte, kam Sukenik zu dem Schluss, dass sie einer Essenergemeinschaft gehört hatten, die historischen Quellen zufolge in diesem Gebiet gelebt hatte. (Spätere archäologische Funde haben bestätigt, dass in Khirbet Qumran wohl wirklich Essener aktiv waren.)

Bis zu dieser Zeit hatte Palästina gemäß einem Mandat des Völkerbundes von 1919 unter britischer Verwaltung gestanden. Doch innerhalb von zwei Jahren nach der Entdeckung des Hirten bei Qumran wurde Palästina aufgeteilt, wie es die UN-Resolution von 1947 und der Waffenstillstand des darauf folgenden Krieges von 1948-49 vorsahen. Dadurch fiel die judäische Wüste an Jordanien, und so blieb es bis 1967. Anhaltende Spannungen zwischen Arabern und Israelis erschwerten die Bemühungen, die merkwürdigen Rollen zu enträtseln, beträchtlich.

Anhaltende Spannungen zwischen Arabern und Israelis erschwerten die Bemühungen, die merkwürdigen Rollen zu enträtseln, beträchtlich.

Etwa zur Zeit der Aufteilung brachte Mar Samuel seine Sammlung heimlich in die USA, wo sie in einem Banksafe gelagert wurde. Im Jahr 1954 bot er sie im Wall Street Journal zum Verkauf an - den Jordaniern zufolge illegal, da der Fundort der Rollen nun jordanisches Staatsgebiet war. Trotzdem antwortete der führende israelische Archäologe Yigal Yadin durch Mittelsmänner auf die Anzeige und kaufte die Rollen für $ 250 000 für den Staat Israel. Allerdings schöpften weder Mar Samuel noch die Beduinen viel Gewinn aus dem Verkauf: Der größte Teil des Erlöses wurde von der Steuerbehörde beschlagnahmt.

Für Yadin war der Erwerb der Rollen ein persönlicher Triumph. Sein Vater war kein anderer als Eliezer Sukenik, der die Rollen als Erster identifiziert, ihr Alter und ihre Herkunft festgestellt hatte. Leider war Sukenik im Jahr zuvor gestorben und sah die sieben Rollen daher nie wieder zusammen. Sie sind nun im „Schrein des Buches“ in Westjerusalem ausgestellt, einem eigens für sie gebauten Museum, dessen Form den Tonkrügen nachempfunden ist, in denen die Rollen gefunden wurden.

DIE SUCHE NACH MEHR

Als die Entdeckung der Rollen veröffentlicht und ihr Wert beziffert wurde, folgte ein Rennen, um mehr zu finden. Mit den Beduinen, die die Rollen noch immer als potenzielle Einkommensquelle ansahen, wetteiferte ein Archäologenteam unter der Führung von Roland de Vaux von der École Biblique im jordanischen Ostjerusalem.

Schließlich wurden in 11 Höhlen um Qumran Schriftrollen gefunden. Dem Rockefeller Museum, ebenfalls in Ostjerusalem, wurden alle weiteren Funde aus den Höhlen anvertraut. Insgesamt wurden über 800 Rollen gefunden, doch nur 16 waren intakt oder weitgehend intakt. Die übrigen bestanden aus über 15 000 Fragmenten unterschiedlicher Größe. Die überwältigende Mehrheit der Rollen war im Lauf von 2000 Jahren zerstört worden; nicht einmal das günstige Wüstenklima hatte sie davor bewahrt.

Seither haben Forscher andere Schriftrollen und Handschriften mit den Qumran-Rollen in Zusammenhang gebracht, in erster Linie aufgrund zeitlicher und/oder örtlicher Nähe. Zu diesen Materialien zählen Texte aus der jüdischen Wüstenfestung Masada des 1. Jahrhunderts und vom Bar-Kochba-Aufstand des 2. Jahrhunderts, von den Samaritern in Wadi ed-Daliyeh und von der Kairoer Geniza, der Kammer einer Synagoge für abgenutzte Exemplare der Thora und andere Handschriften.

VIELFACHE MISSVERSTÄNDNISSE

Während der ersten 20 Jahre nach ihrer Entdeckung blieben die Qumran-Rollen im Besitz zweier benachbarter Forschungsinstitute, die eine undurchdringliche Mauer trennte. Aufgrund der festgefahrenen politischen Lage der Araber und Israelis musste die Übersetzungsarbeit - abgesehen von den ersten sieben Rollen - zum größten Teil christlichen statt jüdischen Wissenschaftlern anvertraut werden. Dadurch entstand der Eindruck, die Texte bezögen sich auf das Christentum statt auf das Judentum. Dieser Auffassung wurde 1967 mit dem Sechstagekrieg und der Eroberung Ostjerusalems durch die Israelis die Grundlage entzogen. Endlich konnten die École Biblique und die Hebräische Universität ihre Anstrengungen bündeln.

Auch nachdem die wichtigsten Schriftrollen übersetzt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden waren, blieben sie Gegenstand erbitterter Streitigkeiten. In den 1989er-Jahren wurde der Vatikan religiöser Intrigen bezichtigt. Die Vorwürfe, er verzögere die Veröffentlichung der Übersetzung der Rollen, erwiesen sich jedoch letztlich als unbegründet. Die Verschwörungstheorien zeigten vor allem, welche Lethargie das Projekt inzwischen umgab. Die Anschuldigungen betrafen speziell das Material aus Höhle 4, das noch immer nicht vollständig veröffentlicht war, obwohl viel davon bruchstückweise in Fachzeitschriften erschienen war. Die Schwierigkeit lag in der schieren Menge der Fragmente. In der Höhle war keine intakte Schriftrolle gefunden worden. Es war sehr zeitraubend, die Puzzlestücke durch Aneinanderfügen der Pergament- oder Papyrusfetzen zusammenzusetzen. Und die fragmentierten Übersetzungen zusammenzufügen war fast so schwierig, wie mit den antiken Fragmenten selbst zu arbeiten. Doch schließlich erschien eine offizielle, vollständige Übersetzung.

Die Erwartungen an das, was auf den Rollen entdeckt würde, waren hoch gewesen. Doch die alten Schriften lieferten nicht die Erkenntnisse, die so viele erhofft hatten. Sie sind eher für die Wissenschaft statt für das Judentum oder das Christentum von Interesse.

Die alten Schriften lieferten nicht die Erkenntnisse, die so viele erhofft hatten.

Einige Wissenschaftler versuchten mit erheblichem Aufwand, in den Texten der Rollen frühchristliche Personen zu identifizieren. Für den dort erwähnten „Lehrer der Gerechtigkeit“ wurden sowohl Johannes der Täufer als auch Jakobus der Gerechte - der Bruder Jesu - vorgeschlagen. Doch solche Behauptungen wurden nie untermauert.

Auch behauptete der spanische Priester José O'Callaghan, bestimmte Fragmente in griechischer Sprache stammten aus der Apostelgeschichte und dem Markusevangelium. Er musste den fragmentarischen Text allerdings so stark manipulieren, um dies zu belegen, dass seine Ideen heute nur wenig Anhänger haben.

Die führenden Köpfe des Judentums ihrerseits sahen die Schriftrollen zunächst einfach als Zeugnis einer weiteren Form ihrer Religion, die das römische Zeitalter nicht überlebt hatte. Die Texte trugen zum Verständnis des modernen pharisäischen oder rabbinischen Judentums wenig bei. In einer Hinsicht bedeuteten die Rollen allerdings eine Beeinträchtigung des Judentums: Ihre Entdeckung bestätigte zweifelsfrei den Pluralismus, der innerhalb der jüdischen Religion bestanden hatte, ehe Jerusalem im Jahr 70 fiel. Diese Tatsache allein veränderte das Bild des religiösen und sozialen Umfelds im 1. Jahrhundert, insbesondere des frühen Christentums, das nun als eine weitere Form des Judentums gesehen wird - eine Auffassung, die den Abstand zwischen den beiden Religionen heute gleichzeitig erhellt und in Frage stellt.

IN DER VERGANGENHEIT NACHLESEN

Die Entdeckung der Qumran-Rollen hatte viele positive Auswirkungen. Einige Schriftrollen enthielten biblische Texte und dazugehörige Kommentare; andere waren sektenspezifische Dokumente, die die Theologie einer bestimmten Gruppe von Juden ausdrückten - wahrscheinlich der Essener. Andere Texte waren pseudepigraphische, d.h. quasi-biblische Schriften wie das Buch der Jubiläen und das Buch Henoch, die bei den Menschen jener Zeit große Beachtung fanden. Weiterhin umfasste das Material Briefwechsel und juristische Dokumente, z.B. im Zusammenhang mit Eheverträgen.

Da sie Texte in mehreren Sprachen enthielten, bedeuteten die Rollen eine enorme Erweiterung des Wissens um die damaligen Sprachen, sei es Aramäisch, Griechisch oder Hebräisch. (Die Essener erhoben Hebräisch offenbar zu einer religiösen Sprache.) Die Auffindung der hebräischen Dokumente vergrößerte die modernen Kenntnisse dieser Sprache erheblich; zuvor waren sie praktisch nur aus den Bibeltexten abgeleitet worden.

Da sich so viele der gefundenen Schriftrollen und Fragmente auf die Bibel bezogen, wurde auch erkennbar, wie die Menschen jener Zeit die heiligen Schriften verstanden. Nur ein Buch des Alten Testaments wurde in Qumran nicht gefunden: das Buch Ester. In den sektenspezifischen Texten waren Zitate aus bestimmten Büchern vorherrschend (z.B. Deuteronomium, Jesaja und die Psalmen). Auch die Prophezeiungen Daniels hatten einen Sonderstatus. Bemerkenswerterweise beziehen sich auch die Evangelien und die Apostolischen Schriften stark auf ebendiese Bücher und zitieren sie oft.

Die sektenspezifischen Teile der Qumran-Rollen zeugen von der Intensität der religiösen Gefühle in früheren Zeiten des Judentums. So haben die Rollen unser wachsendes Wissen um die Gesellschaft, in der die Urkirche entstand, um eine neue Dimension erweitert. Sie haben gezeigt, dass die religiöse Gemeinschaft jener Zeit in vielen Belangen höchst polarisiert war; dies betraf auch den Tempel und sogar den Kalender. Die Religionsausübung war offenbar eine entzweiende Kraft in der Gesellschaft.

Obwohl sie kein sensationelles neues Material enthüllten, wie viele gehofft hatten, haben die Qumran-Rollen viele Gebiete der Bibelforschung während des letzten halben Jahrhunderts bereichert und werden dies auch weiter tun.