Väter und Töchter – die verlorene Beziehung

Die Psychologin Linda Nielsen arbeitet mit Herzblut an der Veränderung unbegründeter Stereotypen und zeigt, wie lebenswichtig Väter für ihre Töchter sind.

Gina Stepp von Vision interviewte die Psychologin und Professorin für Jugendpsychologie und Frauenforschung an der Wake Forest University in North Carolina, Linda Nielsen. Sie hat das Buch Embracing Your Father: How to Build the Relationship You Always Wanted with Your Dad (2004) geschrieben und hält eine Lehrveranstaltung mit dem Titel „Väter und Töchter“ ab – seit fast 20 Jahren die Einzige ihrer Art in den USA.

 

GS Bei meinen Recherchen zur Bedeutung der Väter für ihre Töchter konnte ich lange Listen von Artikeln über Inzest zwischen Vater und Tochter finden, aber sehr wenig über die Wirkungen, die positive Vater-Tochter-Beziehungen für das Leben von Frauen haben können. Worauf führen Sie das zurück?

LN Ihre Erfahrung bringt das Problem auf den Punkt. Das ist es, was ich seit 20 Jahren predige, und es geht so weit, dass ich mich wie eine Ruferin in der Wüste fühle. Erstens: Wissen Sie, wie selten Inzest zwischen leiblichen Vätern und Töchtern ist? Er ist äußerst selten. Psychologen und Soziologen verwenden den Begriff Inzest für sexuellen Missbrauch durch Vettern, Onkel, Stiefväter, Stiefbrüder, Brüder, Halbbrüder, nicht blutsverwandte Partner der Mutter – all das zählt zur Kategorie Inzest. Wenn man jedoch in der Statistik nach Mädchen schaut, die von ihren leiblichen Vätern missbraucht werden, so ist das ein sehr geringer Prozentsatz. Das sagt mir, wie es auch Ihnen gesagt hat, dass die Wissenschaftler sich auf das Falsche konzentrieren, wenn es um die Erforschung von Vater-Tochter-Beziehungen geht.

Was meine Forschung den Menschen klar machen soll, ist, dass wir solche unbegründeten Klischees über Väter und ihre Bedeutung für ihre Töchter einfach weitertragen und dass dies die Beziehung beeinflusst.“

Linda Nielsen

Was Sie entdeckt haben, und was meine Forschung den Menschen klar machen soll, ist, dass wir solche unbegründeten Klischees über Väter und ihre Bedeutung für ihre Töchter einfach weitertragen und dass dies die Beziehung beeinflusst. Wenn man so indoktriniert wird, dass man denkt, jeder Dunkelhäutige um die Ecke will einem die Handtasche klauen, hält man die ganze Zeit genau danach Ausschau. Wir werden mit der Vorstellung indoktriniert, Väter seien kein so gutes Elternteil für Töchter wie Mütter, oder Väter könnten nicht so fürsorglich sein wie Mütter, oder vom Vater erzogene Töchter würden sich schlechter entwickeln als Töchter alleinerziehender Mütter, oder Jungen bräuchten ihre Väter mehr als Mädchen. Genau darum geht es in meinen Büchern, meinem Lehrangebot, meiner Forschung.

GS Warum finden diese unbegründeten Klischees eine so große Verbreitung? Ist es einfach, weil die Leute zum Negativen neigen?

LN Ich glaube, die Leute neigen dazu, negativ zu sein, und – ich bin Feministin, aber ich sage es trotzdem klipp und klar: Ich glaube, wir Feministinnen sind mit die Schlimmsten, was das Negativsein betrifft. Wir haben von vornherein negative Vorurteile über Männer als Elternteil. Wir wollen an die Überlegenheit von Frauen als Elternteil glauben. Überlegen Sie einmal, wie Sie sich als Mutter von Töchtern fühlen würden, wenn die mit persönlichen Dingen, oder wenn sie Probleme mit Freundinnen oder ihren Freunden haben, eher zum Vater kämen als zu Ihnen. Wenn sie immer zuerst zu ihm gehen und Sie manchmal ausschließen würden, das würde Sie kränken. Und der Grund, warum Sie das kränken würde, ist zu einem großen Teil, dass wir gelernt haben, dies seien „Mutter-Tochter-Sachen“.

GS Wie überzeugt man Väter und Töchter, dass diese Beziehung so wichtig ist?

LN Hinten in meinem Buch findet man Kastenartikel, die ich „Augenöffner“ nenne. Ich wollte kein schweres, akademisches Buch machen, deshalb habe ich die Studien am Ende des Buches in Verbindung mit diesen Augenöffnern aufgelistet. Das sind tatsächliche Forschungsarbeiten mit den Fakten darüber, wie wichtig Väter im Leben ihrer Töchter sind. Befürchten Sie eine Schwangerschaft im Schulalter? Sind Sie darüber besorgt, ob Ihre Tochter einmal eine gute Arbeit bekommt und für sich sorgen kann? Befürchten Sie, Ihre Tochter könnte sich an Männer binden, die sie seelisch oder körperlich misshandeln? Befürchten Sie, Ihre Tochter könnte von Jungen sexuell ausgenutzt werden? All diese Dinge hängen, wie die Forschung zeigt, stärker von ihrer Beziehung zu ihrem Vater als ihrer Beziehung zu ihrer Mutter ab.

GS Die meisten Menschen würden glauben, dass Jungen ihre Väter brauchen, um den rauheren, abenteuerlustigen Aspekt der Männlichkeit zu entwickeln, und vielleicht würden sie deshalb auch glauben, dass Mädchen ihre Väter brauchen, um die abenteuerlustige Seite zu entwickeln, die zu beruflichem Erfolg führen könnte. Doch einige Studien scheinen zu zeigen, dass Väter zu ihren Töchtern viel sanfter sind als zu ihren Söhnen. Was schließen Sie daraus?

LN Körperlich, das mag sein, weil wir Vätern sagen, dass Mädchen zarter sind als Jungen. Aber denken Sie an Ihr eigenes Leben. Welcher Elternteil hat Ihnen und Ihren Freundinnen eher beigebracht, wenn Ihnen etwas misslingt, nicht in einer Ecke zu sitzen, zu heulen und sich selbst zu bemitleiden, sondern aufzustehen und es noch einmal zu versuchen?

GS Welche weiteren Vorteile haben Mädchen mit engagierten Vätern, die andere Mädchen nicht haben?

LN Sie bekommen ein gewisses Selbstvertrauen, das für andere schwerer zu entwickeln ist. Man muss bedenken, dass Personen mit Macht und Autorität, die Mädchen in dieser Kultur sehen, zumeist Männer sind. Wenn sie also Lob und Anerkennung von dem Mann in ihrer Familie bekommen können, dann hat das für sie ein gewisses Gewicht. Wenn sie diesen Vater nicht in ihrer Familie haben, suchen sie woanders nach Lob und Anerkennung. Diese Mädchen suchen als Teenager häufiger verzweifelt nach männlicher Bestätigung, denken ständig an den nächsten Freund, oder was denken die Jungs über mich, oder wie kriege ich Aufmerksamkeit von den Jungs. Wenn sie dann einen bekommen – einen Freund, Verlobten, Ehemann –, haben sie ständig Angst vor dem Verlassenwerden. Und so werden sie argwöhnisch, überabhängig; sie treiben ihren Freund oder Ehemann mit ihrem Klammern zum Wahnsinn. Niemand will, dass jemand sich ständig anklammert wie ein Kind. Es gibt faszinierende Forschungsergebnisse über die Vorteile, die Väter ihren Töchtern bringen. Das Problem besteht zum Teil darin, erst einmal die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dafür zu gewinnen.

Bedenken Sie, dass in den USA etwa 70% der schwarzen Kinder unehelich geboren werden. Alles, was man über abwesende schwarze Väter hört, hat Folgen für schwarze junge Männer. Was ist mit den schwarzen Töchtern? Geachtet wird auf die Jungen und wie sehr sie ihre Väter brauchen. Doch die höchste AIDS-Infektionsrate haben in unserem Land heute die Mädchen im Teenager-Alter. Das ist die am schnellsten wachsende Gruppe von Neuinfizierten. Warum? Weil sie zu früh mit Jungen gehen und Sex haben – und natürlich sind es die ärmsten Mädchen, denn je ärmer die Herkunftsfamilie ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie mit einem Vater aufwachsen, desto wahrscheinlicher haben sie schon mit 12 oder 13 Jahren mit mehreren Partnern Sex, und desto wahrscheinlicher nehmen ihre Partner Drogen. Die Jungen sind nicht 12 oder 13; sie sind älter, 19 oder 20, weil die Mädchen den fehlenden Vater suchen. Darum sind einkommensschwache junge Mädchen die am schnellsten wachsende Gruppe von Neuinfizierten. Sie stecken sich an, wenn sie Teenager sind; die Symptome zeigen sich, wenn sie 19 oder 20 sind. Und das hat direkt mit der Abwesenheit des Vaters zu tun.

GS Wenn Väter so wichtig für das Leben ihrer Töchter sind, wie sollte die Gesellschaft dann ihre Anwesenheit fördern?

LN Interessanterweise ist, wenn beide Eltern eine gleiche Anzahl von Stunden außer Haus arbeiten, die Zeit, die sie mit ihren Kindern verbringen, fast gleich. Das sagt mir: Wenn beide die Zeit haben, um sie mit ihren Kindern zu verbringen, dann tun es auch beide. Doch diese Formulierung ist wichtig: Wenn beide eine gleiche Anzahl von Stunden arbeiten, nehmen sie sich gleich viel Zeit. Wenn aber Frauen „voll berufstätig“ sind und Männer „voll berufstätig“ sind, arbeiten Männer trotzdem 15 Wochenstunden mehr als Frauen und sind zur Arbeit länger unterwegs als Frauen. Die negative Annahme ist, dass sich Männer mehr für ihre Arbeit interessieren als für ihre Kinder oder dass sie sich nicht so für Kinder interessieren wie Frauen. Aber wissen Sie, wenn ich mehr Stunden am Tag gearbeitet habe als Sie, bin ich wahrscheinlich weniger daran interessiert, viel Zeit mit meinen lärmenden Kindern zu verbringen, wenn ich heimkomme. Das ist nicht geschlechtertypisch – das ist typisch für erschöpfte Berufstätige!

Ich gebe meinen Studentinnen ein Quiz mit dem Titel: „Sind Sie eine gerechte Tochter?“ Es umfasst 10 Fragen – ganz einfache wie: „Verbringen Sie ebenso viel Zeit allein mit Ihrem Vater wie mit Ihrer Mutter?“ Sie bekommen nicht mehr von dem, was Sie sich wünschen, von Ihrem Vater, wenn Sie ihm nicht gleich viel Gelegenheit wie Ihrer Mutter geben, diese Art Beziehung zu entwickeln.

GS Wie viel davon liegt an der Tochter? Hat der Vater auch eine Verantwortung, sich Zeit zu nehmen?

LN Ja, sicher. Aber einem Vater wird gesagt, er sollte nicht mehr so viel Zeit mit seiner Tochter verbringen, wenn die Pubertät eingesetzt hat. Sobald sie ein Teenager ist, soll er sich rar machen und die Hauptbeziehung der Mutter überlassen. Wenn das die Botschaft ist, die einem Mann vermittelt wird, und wenn man ihm sagt, das sei es, was ein „guter Vater“ tut, dann tut er das. Also ja, der Vater setzt dieses  vorgefasste Muster dann auch um. Meine Studentinnen sagen mir, dass ihre Väter aufgehört haben, Dinge mit ihnen zu unternehmen, als sie Teenager wurden – z.B. am Wochenende allein mit ihnen zelten zu gehen –, weil es komisch aussehen würde, weil es verdächtig wäre, und natürlich geht das auf die falsche Vorstellung der Leute von der Häufigkeit des Inzests zwischen Vater und Tochter zurück.

Aber gerade als Jugendliche braucht eine Tochter ihren Vater. Die traurige Wahrheit ist leider, dass die meisten Väter und Töchter einander längst nicht so gut kennen und längst nicht so viel Zeit zusammen verbringen wie Mütter und Töchter.“

Linda Nielsen

Aber gerade als Jugendliche braucht eine Tochter ihren Vater. Die traurige Wahrheit ist leider, dass die meisten Väter und Töchter einander längst nicht so gut kennen und längst nicht so viel Zeit zusammen verbringen wie Mütter und Töchter.