Orientalische Messiasse

Männer, die sich zu Göttern stilisierten, vom Herrschaftsstil des Römischen Reiches inspiriert und an das traditionelle Christentum anknüpfend, haben in Europa eine fast zwei Jahrtausende lange Tradition. In der letzten Ausgabe von Vision betrachteten wir eine eurasische Ausprägung des Herrscherkults, der die Geschichte der Sowjetunion unter Lenin und Stalin bestimmte. Beim Aufstieg und Fall falscher Messiasse spielt die Manipulation religiöser Gefühle eine wichtige Rolle, und selbst atheistische Staaten sind der Versuchung erlegen, sich die Macht der Frömmigkeit zunutze zu machen.

Bei der Ausbreitung von Totalitarismus und Kommunismus im 20. Jahrhundert dürfte es uns nicht überraschen, auch im modernen Ostasien Beispiele messianischer politischer Bestrebungen zu finden und festzustellen, dass die dortigen Herrscherkulte einheimische Vorläufer hatten. Chinas Mao Tse-Tung, Kambodschas Pol Pot und auch die Kim-Dynastie Nordkoreas beanspruchten den Status von Erlösern. Und sie alle beriefen sich zu ihrer Legitimierung auf historische Vorläufer und religiöse Gefühle.

Der Siegeszug des chinesischen Kommunismus beherrscht die jüngere Geschichte Asiens. Obgleich die sinnlose Brutalität der Sowjetunion unter Josef Stalin die Welt bis ins Mark erschütterte und selbst die eines Adolf Hitler überstieg, bleibt Maos Gewaltherrschaft in der modernen Geschichte unübertroffen.

Ehe wir die entsetzlichen Einzelheiten untersuchen, ist es sinnvoll, einen Blick auf Maos Vorläufer aus dem 19. Jahrhundert zu werfen – einen Mann von ebenfalls außerordentlicher Überheblichkeit.

MAOS MESSIANISCHER VORLÄUFER

Etwa 50 Jahre vor Maos Geburt im Jahr 1893 litt China unter der Ausbeutung durch eine andere Art Gottmensch – den selbsternannten „Himmlischen König“ Hong Xiuquan. Hong kam vom Volk der Hakka, aus der südchinesischen Provinz Guangdong, die an Maos Geburtsprovinz Hunan angrenzt. Mao hatte einen guten Eindruck von Hongs messianischem Regime, ließ sich von ihm inspirieren und nutzte es zu seiner eigenen Legitimation. Der Vergleich sollte sich als unheilvoll erweisen.

Hong behauptete, er habe 1837 eine mystische Erfahrung gehabt. In einem Traum habe ihm ein alter Mann mit goldenem Bart und schwarzem Drachenmantel geboten, die Welt vom Bösen zu befreien, insbesondere von ihren Götzen. In der Vision habe er ein Schwert und ein Siegel empfangen und sei von einem anderen Mann mittleren Alters unterstützt worden. Zwar behauptete er nicht sofort, den Sinn des Traums zu verstehen, doch eines seiner literarischen Werke, das „Gedicht über die Hinrichtung der Bösen und den Schutz der Gerechten“, ließ schon in jenem Jahr die Gewalt ahnen, mit der bald sein quasi-christliches, utopisches Königreich daherkommen sollte.

Im Jahr 1843 erlitt Hong eine Depression, nachdem er wiederholt die eminent wichtige Beamtenprüfung nicht bestanden hatte – den Schlüssel zu Ansehen und Wohlstand im kaiserlichen China. In seiner verzweifelten Stimmung las er ein Buch, das seit Jahren in seinem Regal lag, das Geschenk eines Freundes. Gute Worte zur Ermahnung des Zeitalters war eine Sammlung von neun Traktaten, mit denen der erste protestantische Evangelist Chinas, Liang Fa, seinen Landsleuten das Christentum erklären wollte.

Durch Liangs gekürzte Fassung der biblischen Grundbotschaft kam Hong zu der Auffassung, der geheimnisvolle Greis mit dem goldenen Bart in seiner Vision sei kein Geringerer gewesen als Gottvater. Der Mann mittleren Alters war Jesus Christus, und er, Hong Xiuquan, der jüngere Bruder Jesu. So gelangte er zu der Überzeugung, er sei der neue Messias, gesandt, um China zu erlösen. Hong taufte sich selbst und glaubte, er sei nun Christ geworden.

Als weiteres Vorzeichen für die Art von Herrschaft, die er einführen wollte, ließ er sofort zwei riesige Schwerter schmieden, die er „Dämonen-töter“ nannte – Symbole für seinen Wunsch, das Land von Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus zu befreien.

Als Lehrer gelang es Hong, einige seiner Kollegen zu seinen Überzeugungen zu bekehren, und sie begannen, die traditionellen chinesischen Holztäfelchen, mit denen Konfuzius  geehrt wurde, aus ihren Schulen zu entfernen. Doch die öffentliche Reaktion war so heftig, dass Hong zu Fuß flüchtete und 300 Meilen bis zur westlichen Provinz Guangxi wanderte. Dort gründete ein Wegbegleiter die Sekte „Gesellschaft der Gottesverehrer“, und Hong wurde 1847 ihr Anführer.

1845–1848 erschien seine Serie Ode über den Ursprung des Weges und unsere Erlösung. In sie floss zweifellos ein Teil seiner strengen Auslegung der Lehre eines baptistischen Missionars aus den USA namens Issachar Jacox Roberts ein. Sie hatten im Jahr 1847 einige Monate zusammen studiert. Mit alledem bereitete sich Hong darauf vor, sein mit harter Hand geführtes, theokratisches „Himmlisches Reich des Großen Friedens“ (Taiping) auszurufen.

Doch nichts von Bedeutung geschah, bis die chinesische Regierung im Jahr 1850 versuchte, die Sekte der Gottesverehrer mit Gewalt zu zerschlagen. Daraufhin brach der Taiping-Aufstand aus; Hong zog mit seinen bewaffneten Anhängern unaufhaltsam nach Norden und brachte Schätzungen zufolge 600 Städte in seine Gewalt. Seinem Marsch schlossen sich Tausende verbitterter Bauern an, die den britischen Kolonialismus und dessen Unterstützung durch die schwache Qing- bzw. Mandschu-Dynastie in Peking ablehnten. Hongs Reformpläne – er war gegen das Opiumrauchen, das Glücksspiel und die Prostitution – kamen bei den Einheimischen an. Im März 1853 eroberte Hong mit einem nun fast eine Million Mann starken Heer Nanking und gab ihm den neuen Namen Tianjing, „Himmlische Hauptstadt“.

Der Himmel war es allerdings nicht. Interne Konflikte und eine Abneigung des Himmlischen Königs gegen die Regierungsarbeit forderten ihren Preis. Hong ermordete zwei seiner Generäle und verbrachte mehr Zeit in religiöser Betrachtung oder in seinem Harem. Innerhalb eines Jahrzehnts geriet die Taiping-Hauptstadt unter solchen Druck, dass Hongs Generäle zum Rückzug rieten. Er lehnte ab und sagte, Gott werde es schon richten, selbst wenn Tianjing belagert werden sollte. Doch im Juni 1864 beging Hong, gesundheitlich angeschlagen, im Alter von 50 Jahren Selbstmord. Kaum sieben Wochen später nahmen Qing-Truppen, begleitet von westlichen Militärberatern, die Stadt ein und metzelten Schätzungen zufolge 100 000 Taiping-Anhänger nieder. Doch diese erschreckende Zahl war gering im Vergleich mit den 20 Millionen Kriegs- und Hungertoten der Regierungszeit von Hong Xiuquan – den Mao Tse-Tung sehr bewunderte.

Diese Bewunderung war vielleicht der Grund dafür, dass die Volksrepublik  China zehn Jahre nach Maos Machtübernahme, im Jahr 1959, in Hongs Geburtshaus ein Museum eröffnete und es zwei Jahre später renovierte. 1988, zwölf Jahre nach Maos Tod, stellte die chinesische Regierung Hongs Serie Ursprung des Weges als „Dokumente von nationaler Bedeutung“ unter Schutz. Am 140. Jahrestag des Aufstandes, der zum Himmlischen Reich des Großen Friedens geführt hatte, weihte die Volksrepublik China das Hong-Xiuquan-Erinnerungsmuseum in Guangzhou ein, wo laut Eigenwerbung die „Stätten und Reliquien sicher den Patrioten in dir inspirieren werden“.

DIE JUGEND DES GROSSEN VORSITZENDEN

Mao wurde 1893 als Sohn einer recht wohlhabenden Bauernfamilie in dem abgelegenen Dorf Shaoshan in Hunan geboren. Sein Vater, zu dem er eine feindselige Beziehung entwickelte, war arbeitsam, seine Mutter dagegen tolerant und zärtlich. Eine frühe Neigung Maos zum Buddhismus, die von seiner Mutter gefördert wurde, wich später seinem Interesse am Marxismus-Leninismus. 1911 trat er in die Revolutionsarmee ein, die in seiner Region gegen die Qing-Dynastie kämpfte. Diese kurze militärische Erfahrung als Jugendlicher bestärkte ihn in seiner Bewunderung für die Helden seiner Kindheit: chinesische Kriegerkaiser, den Revolutionär George Washington und den ehrgeizigen neo-römischen Kaiser Napoleon (siehe Messiasse! Teil 6). Als die Qing-Herrscher gestürzt wurden und die chinesische Republik entstand, setzte Mao seine Schulbildung fort und kam mit verschiedenen Studentengruppen in Kontakt. Eine von ihnen, die im Winter 1917-1918 gegründete „Studiengesellschaft neuer Staatsbürger“, sollte in den folgenden Jahren viele Mitglieder der Kommunistischen Partei hervorbringen.

Nach dem Abschluss seines Studiums zog Mao nach Peking; einen großen Teil des Weges legte er zu Fuß zurück. Dort begann er als Hilfsbibliothekar zu arbeiten. Während seines Aufenthalts brach der antiimperialistische Protest Chinas gegen die ungünstigen Bedingungen des Versailler Vertrags nach dem Ersten Weltkrieg aus – die deutschen Rechte an Shandong, der Heimatprovinz des Konfuzius, sollten Japan übertragen statt an China zurückgegeben werden. Eine der spontanen Reaktionen war die Gründung der kulturellen und politischen „Bewegung des 4. Mai“ im Jahr 1919. China weigerte sich, den Vertrag zu unterzeichnen, und schloss später ein separates Abkommen mit Deutschland.

1920 wurde Mao Rektor einer Schule in Changsha und organisierte dort einen Zweig der Kommunistischen Jugendliga. Dem durch die Bewegung des 4. Mai verursachten Aufruhr folgte bald die Gründung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Mao stand bereits unter dem Einfluss der beiden Männer, die die Partei ins Leben riefen – seines Mentors Li Dazhao (Leitender Bibliothekar der Universität von Peking, Geschichtsprofessor und Befürworter der bolschewistischen Revolution) und des anarchistischen Intellektuellen Chen Duxiu (Organisator der Bewegung des 4. Mai). Mao nahm im Juli 1921 am Ersten  Kongress der KPCh teil und wurde 1923 als einer der Kommissare des Zentralkomitees gewählt.

1924-1925 verbrachte er einige Zeit zu Hause in Shaoshan. Dort erlebte er das revolutionäre Aktionspotenzial der Landbevölkerung, die gegen die Unterdrückung der Chinesen durch die ausländische Polizei in Shanghai demonstrierte. Schon damals stand Lis Auffassung des Marxismus-Leninismus im Mittelpunkt von Maos Denken. Li zufolge trat die chinesische Landbevölkerung an die Stelle des städtischen Proletariats in der marxistischen Theorie. Als sein Mentor 1927 hingerichtet wurde, sah Mao ein, dass Chinas städtische Arbeiterklasse längst nicht groß genug war, um bei einem Aufstand entscheidend zu sein. Zusätzlich hatte die Chinesische Nationalpartei (Kuomintang) unter Chiang Kai-shek, mit der Mao einmal in einer „Einheitsfront“ zusammengearbeitet hatte, kurz zuvor einen antikommunistischen Coup gelandet und die städtischen Parteizentralen zerstört. Mao begriff nun, dass China nicht länger warten konnte, bis die Revolution vom industrialisierten Westen her ins Land käme, und dass die Landbevölkerung mobilisiert werden musste, um die Kräfte des chinesischen Imperialismus zu besiegen.

GRÜNDUNGSMYTHOS HINTERFRAGT

1930 leitete Mao eine einjährige Säuberung seiner kommunistischen Genossen in den Provinzen Jiangxi und Fujian ein; die Zahl der Getöteten wird auf 20 000 bis 186 000 geschätzt. Laut Jung Chang und Jon Halliday „wird diese entscheidende Episode – in vielfacher Hinsicht der prägende Moment des Maoismus – bis heute weiterhin vertuscht. Maos persönliche Verantwortung und Motivation und seine extreme Brutalität bleiben tabu“ (Mao: The Unknown Story).

Ende 1931 ging Mao aus dieser Episode als Führer der neu ausgerufenen Sowjetrepublik China hervor; die Sowjetunion erkannte ihn als solchen an und ernannte ihn zum Vorsitzenden, Präsidenten und Premierminister.

1934 hatte die chinesische Rote Armee vier siegreiche Feldzüge gegen Chiang Kai-sheks nationalistische Kräfte (Kuomintang) hinter sich gebracht. Doch im Oktober konnte sie einen fünften Feldzug nicht für sich entscheiden, und so begann der einjährige, 10 000 km lange Rückzug, der als der Lange Marsch bekannt ist. Inzwischen war Mao als Vorsitzender abgewählt worden – eine Reaktion seiner Genossen auf seine erste große Säuberung. Obwohl er seine Führungsrolle erst mehrere Monate später wieder erlangte, hat der Mythos vom Langen Marsch ihn zum chinesischen Mose gemacht, der sein Volk in die Freiheit führt. Ohne die Nöte und Entbehrungen der 80 000 Menschen, die an diesem Marsch teilnahmen, ist eine objektive Darstellung der modernen chinesischen Geschichte gewiss nicht möglich. Der Marsch, degssen Ende nicht einmal 4000 der Teilnehmer erlebten, bleibt, so Chang und Halliday, der Gründungsmythos des kommunistischen China. Auf ihrem Weg politisierten die Truppen die Landbevölkerung, terrorisierten „Großgrundbesitzer“ und übergaben ihren Besitz den Bauern.

Sun Shuyun, Autorin von Dokumentationen, gibt die Erinnerungen überlebender Pioniere in ihrem Buch von 2006 detailliert wieder. Doch sie lässt auch zu, dass durch ihre Befragungen und ihre Nachforschungen vor Ort ein Teil der mythischen Umrankung widerlegt wird, und dass Maos Fähigkeit zu extremer Brutalität noch offenkundiger wird, lange bevor der berüchtigte Große Sprung nach vorn (1958-1960) und die Kulturrevolution (1966-1976) ihre Opfer forderten. Bei der letzteren ermordete Mao sogar die meisten noch lebenden Veteranen des Langen Marsches.

DER PERSONENKULT

Am Ende des Marsches, im Herbst 1935, setzten sich die verbliebenen Rotarmisten in Yenan in der nordwestchinesischen Provinz Shaanxi fest. Hier gelang es Mao, seine Macht zu festigen, indem er bei der japanischen Invasion in China verdeckt mit den Japanern kooperierte.

Zwischen 1936 und 1944 hatte er Zeit, seine eigene, chinesische Version des Marxismus-Leninismus zu entwickeln und mehrere theoretische Schriften zu verfassen. Dies entfremdete ihn ein wenig von seinem sowjetischen Geldgeber Josef Stalin, der ihm ab 1940 einige Jahre lang jährlich 45-50 Millionen Dollar (heutige Kaufkraft) zur Verfügung stellte. Stalin glaubte nicht daran, dass die chinesischen Kommunisten ohne eine Partnerschaft mit Chiang Kai-shek einen proletarischen, revolutionären Staat schaffen könnten. Die Wendung des Kriegsglücks gegen die Deutschen und Japaner sollte im Jahr 1945 beweisen, dass der sowjetische Diktator irrte.

In dieser Zeit blieben Terror- und Folterkampagnen gegen seine eigenen kommunistischen Gefolgsleute eine von Maos bevorzugten Methoden des Machterhalts. Sein Stellvertreter und Terror-Organisator Kang Sheng hatte an Stalins Säuberungen in der Sowjetunion mitgewirkt. Mao fuhr fort, seine eigenen Gefolgsleute mit Gewalt zu nötigen, bis offensichtlich wurde, dass die Japaner im Zweiten Weltkrieg verlieren würden und dass die Rote Armee mit den Nationalisten um die Kontrolle über China kämpfen musste. An diesem Punkt begann er, sich scheinheilig für das Leid zu entschuldigen, das er verursacht hatte. Nun brauchte er die jungen Kader und die erfahrenen Militärführer, um den nationalistischen Feind zu bekämpfen.

Die Verwandlung des Maoismus in eine politische Religion . . . war das Ergebnis einer Initiative von oben und der spontanen Mitwirkung der Massen von unten.“

Emilio Gentile, Politics as Religion

Unterdessen etablierte Mao den Personenkult, für den er berüchtigt wurde. Dank seiner Terrorkampagne war es ihm ein Leichtes, Kritik an seiner Führung ein für allemal auszuschließen. Laut Chang und Halliday erinnern sich manche Chinesen, dass es damals „in unserem Denken fest verankert war, dass der Vorsitzende Mao unser einziger, weiser Führer sei“. So wurzelte seine Vergöttlichung in Terror und einer von ihm selbst stammenden Konstruktion. Die Zeitung Liberation Daily verkündigte in ihren Schlagzeilen: „Genosse Mao Tse-tung ist der Retter des chinesischen Volkes!“ Auf der Kleidung der Menschen erschienen Aufnäher mit Maos Bild, in ihren Wohnungen sein Konterfei. Anfang 1945 ließ er sich beim Siebten Parteitag, der von seinen eigenen Getreuen und terrorisierten „Gefolgsleuten“ getragen war, als oberster Führer der KPCh anerkennen. Nun war er Chinas Stalin.

ABSOLUTE MACHT

In den vier folgenden Jahren tobte im Land ein Bürgerkrieg, in dem Chinas Kommunisten unsagbare Gewalttaten, Folter, Aushungerung und Mord begingen und förderten. Bauern wurden angeleitet, jeden Nachbarn anzugreifen, der es etwas besser hatte als sie oder sie geärgert hatte – oft mit Kleinigkeiten. In Maos Welt war Terror immer unter der Oberfläche präsent.

Mit starker Unterstützung von den Sowjets und von heimlichen Kommunisten unter den Nationalen besiegte die Rote Armee 1949 Chiang Kai-shek, der auf die Insel Formosa (Taiwan) floh. Stalin verweigerte Mao seine Hilfe zur Eroberung Taiwans, weil er den Widerstand Amerikas fürchtete; so bekamen die Nationalen dort eine dauerhafte Heimat. Doch im Oktober stand Mao, nun absoluter Herrscher über 550 Millionen Menschen, auf dem Tor des Himmlischen Friedens in Peking und rief die Volksrepublik China aus. Er machte es sich zur Gewohnheit, bei besonderen Anlässen dort oben aufzutreten. Die Idee hatte er von den Sowjetführern kopiert, die Lenins Mausoleum als Plattform nutzten. Bei solchen Anlässen, so der Historiker Emilio Gentile, „bot Mao seine Person zur Anbetung durch die Massen dar – eine moderne Reinkarnation des einstigen chinesischen Kaisers, der als Sohn des Himmels verehrt worden war –, indem er oben auf dem Tor des Himmlischen Friedens vor dem riesigen, mit einem großen Meer von Menschen gefüllten Tienanmen-Platz auftrat“. Die Anbetung Maos nahm deutlich zu. Gentile merkt an: „Nach 1949 schritt seine Glorifizierung rasch voran; man schrieb ihm mythische und messianische Eigenschaften zu: Mao-Sonne, Mao der Rettungsstern, Mao ist Chinas Steuermann.“

Rituale, die Mao vergöttlichten, perpetuierten den Maokult; so wurden Millionen Chinesen an der kollektiven Herausbildung eines lebenden Gottes beteiligt.“

Xing Lu, Rhetoric of the Chinese Cultural Revolution

Bald wurde die neue Regierung in einer weiteren Terrorkampagne aktiv – ein Jahr lang wurden dieses Mal massenhaft „Spione“, „Großgrundbesitzer“ und „Konterrevolutionäre“ hingerichtet. Der Vorsitzende behauptete: „Erst wenn dies richtig getan ist, kann unsere Macht sicher sein“, und ordnete „Massenverhaftungen, Massenhinrichtungen“ an. In dieser Zeit starben etwa drei Millionen Menschen, viele davon vor Publikum. Für Millionen andere, deren Zwangsarbeit mehr wert war als ihr sofortiger Tod, war Gefängnis oder Arbeitslager die Antwort. Insgesamt könnten während Maos Herrschaft jedoch 27 Millionen gestorben sein, weil sie sich zu Tode arbeiten mussten oder zum Selbstmord genötigt wurden. Weitere Millionen wurden überwacht, während sie in „Freiheit“ blieben. Doch da sie jederzeit und aus jedem Grund abgeholt werden konnten, lebten sie in ständiger Angst am Rand der Gesellschaft.

RÜCKSCHRITT DURCH SPRUNG NACH VORN

Maos Bestrebungen, für die VR China durch Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität und Industrialisierung den Status einer Supermacht zu erlangen, führte zum Zweiten Fünfjahresplan, dem „Großen Sprung nach vorn“. Er war eine Katastrophe. Zwischen 1958 und 1960 forderte Mao von Chinas Landwirtschaft, so viel wie möglich zu produzieren, um es im Austausch für industrielle Unterstützung in die Sowjetunion zu exportieren. Es wurden falsche Behauptungen über die wachsende Produktionskapazität des Landes aufgestellt, und dringend benötigte Güter wurden exportiert. Bis 1961 starben in der Folge von Zwangskollektivierung, schlechter Witterung, Missernten und Mangel an Arbeitskräften – die für den Einsatz in der rudimentären Industrie abgezogen worden waren – nahezu 38 Millionen Chinesen an Hunger und Überarbeitung. Mao weigerte sich zu akzeptieren, dass seine Politik zu der schlimmsten Hungersnot in der Geschichte Chinas, wenn nicht der Welt geführt hatte, und gab die Schuld den Parteifunktionären, die seine Ideen kritisiert hatten. Nachdem er 1959 die Position als Staatsvorsitzender verloren hatte und vorhersah, dass man ihm die Katastrophe anlasten würde, machte er sich daran, seinen Personenkult zu stärken und die Mittel für sein Comeback zu schaffen.

Für das Ausmaß der Vergöttlichung Maos gibt es keine geschichtliche Parallele, abgesehen vielleicht von Alexander dem Großen.“ 

Xing Lu, Rhetoric of the Chinese Cultural Revolution

Gentile bemerkt: „Als Mao an die Macht zurückkehrte, nahm parallel dazu die Glorifizierung seines Denkens als absolute Wahrheit und die Heiligung seiner Person als lebender Halbgott zu.“ Er zitiert den italienischen Journalisten Virgilio Lilli, der China 1960 besuchte und schrieb: „Für die chinesischen Massen ist Mao Tse-tung ein Heiliger, der schon etwas Göttliches an sich hat.“

Gleichzeitig mit dieser Entwicklung organisierte Mao die studentischen Roten Garden und die als Rebellen oder Radikale bezeichneten Funktionäre und Mitarbeiter der Partei. Zusammen sollten sie China ein Jahrzehnt lang verwüsten.

EINE KULTUR-REVOLUTION?

1966 war Mao dann bereit, seine manipulierten Studentensoldaten und die radikalen Parteifunktionäre zu mobilisieren. In den Schulen starteten die Roten Garden die sogenannte Kulturrevolution mit lautstarken Zitaten des Großen Vorsitzenden aus seinem überall verteilten Kleinen Roten Buch (der „Mao-Bibel“), von dem eine Milliarde Exemplare gedruckt wurden. Unterstützt wurden sie durch den Militärführer Lin Biao und die Volksbefreiungsarmee. Die puristisch denkenden Roten Garden hielten sich an Maos radikale Version des Marxismus-Leninismus. Ihre Säuberung galt den Feinden des Vorsitzenden – von den obersten Rängen der Regierung über Intellektuelle, Schriftsteller, Dichter, Künstler bis hin zu den obligatorischen Großgrundbesitzern. Die Rebellen ihrerseits infiltrierten Fabriken und Verwaltungsstrukturen der städtischen Gebiete.

Wie die chinesische Soziologin Jiping Zuo berichtet, waren 1966 „die Straßen Pekings voller Banner mit Parolen wie ,Lang lebe der Vorsitzende Mao‘ und ,Sei bereit, für die Verteidigung des Vorsitzenden Mao zu sterben‘. Die Kinder sangen Lieder, die an westliche Hymnen zum Lobpreis Jesu erinnerten. . . . Mao wurde verherrlicht als Rote Sonne, Großer Lehrer, Großer Führer, Großer Befehlshaber, Großer Steuermann und – bedeutsamerweise – Messias der Werktätigen.“

Der Mann, der Maos Stellung als Vorsitzender der VR China eingenommen hatte, war Liu Shao Qi, einst Maos Wegbegleiter auf dem Langen Marsch. 30 000 Rotgardisten umzingelten den Präsidentenpalast und schleiften Liu auf die Straße. Dort erniedrigten und schlugen sie ihn und brachen ihm das Rückgrat. Er wurde in ein Straflager gebracht und starb isoliert – all dies nach dem Willen von Maos Ehefrau Jiang Qing.

In dem zehnjährigen „Kulturchaos“ wurden religiöse Einrichtungen attackiert, buddhistische Mönche, katholische Priester und Nonnen zur „Umerziehung“ aufs Land verbannt. Wieder einmal wurde die Religion zum „Opium des Volkes“ erklärt. Glaube einer anderen Art wurde allerdings gefördert: Es hieß, Mao könne Kranke heilen, wenn sie nur sein Buch läsen. Der Diplomat Lee Khoon Choy aus Singapur schrieb: „Mao hatte die Funktion Gottes weggenommen. Mao war Gott geworden.“

WELTHERRSCHER

Mao widmete sich einer extensiven Erforschung von Geschichtsbüchern und Biografien. Er untersuchte 300 Fallstudien aus der chinesischen Geschichte und 30 aus der Weltgeschichte. Hundert Biografien von Persönlichkeiten aus China und aller Welt fesselten seine Aufmerksamkeit. Er analysierte die Herrschaft vieler chinesischer Kaiser; besonders schätzte er diejenigen, die durch Grausamkeit und Unterdrückung zum Erfolg gelangt waren.

Künftig werden wir ein Weltkontrollkomitee einrichten und einen Einheitsplan für die Erde machen.“

Mao Zedong, Zitiert von Jung Chang und Jon Halliday in Mao: The Unknown Story

Seinen hochfliegenden Ambitionen im Inland entsprach sein Wunsch, Herrscher der Welt zu werden. Er konnte sich nicht damit begnügen, oberster Führer Chinas zu sein oder als am weitesten fortgeschrittener Exponent des Marxismus-Leninismus sogar Stalin zu übertrumpfen. Was er wollte, war den Planeten zu übernehmen. 1968 sagte er zu einem australischen Maoisten: „Meiner Meinung nach muss die Welt geeint werden. . . . In der Vergangenheit wollten schon viele die Welt einen, u.a. die Mongolen, die Römer, . . . Alexander der Große, Napoleon und das Britische Weltreich. Heute wollen sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion die Welt einen. Hitler wollte die Welt einen. . . . Doch sie alle sind gescheitert. Mir scheint, die Möglichkeit, die Welt zu einen, ist nicht verschwunden. . . . Meines Erachtens kann die Welt geeint werden.“

Doch es sollte nicht sein. Im September 1976 starb Mao, geschwächt von einem schweren Herzinfarkt, den er im Juni erlitten hatte. Der Große Steuermann lebte nicht mehr; so schien es jedenfalls. Sein Leichnam wurde bald gemäß der großen sowjetischen Tradition einbalsamiert und liegt nun in einem riesigen Mausoleum auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wo ihn das Publikum anbeten kann.

In Maos Geburtsort Shaoshan ist eine Andenken-Heimindustrie aufgeblüht. Das beispiellose Maß an Tod und Zerstörung, das er verursachte, hat seinem Nimbus nichts genommen. Wie Ian Buruma 2001 in The Guardian schrieb: „In China werden Menschen seit Jahrtausenden als Götter verehrt, und bei Mao geht es in den Augen der Gläubigen nicht mehr darum, ob er gut oder böse war; solche Kategorien sind auf Gottmenschen nicht anwendbar.“