Religion – noch immer nicht out
Manchmal nehmen Menschen ungeheure Erschwernisse in Kauf, um ihren Glauben zu praktizieren. Warum ist den Menschen die religiöse Bindung überall auf der Welt so wichtig? Und was könnte man durch sie gewinnen?
„Gott ist tot“, rief der Philosoph Friedrich Nietzsche 1882 aus. „Wir haben ihn getötet!“ Seine Worte hallen bis heute nach. Das Magazin Time zitierte sie 1966 in einer berüchtigten Titelgeschichte mit der Überschrift „Is God Dead?“. Andere folgten: Gott sei eine „Wahnvorstellung“, meinte Richard Dawkins 2006, und „kein Hirte“, so Christopher Hitchens 2007.
Was Nietzsche eigentlich meinte, war nicht – wie oft angenommen wurde und wird –, dass Gott nicht existiert, sondern vielmehr, dass die Menschen die Bedingungen zerstört haben, die es möglich machen, an ihn zu glauben. Durch Wissenschaft, sozialen Fortschritt und das Denken der Aufklärung schienen die Bilder und Symbole des Neuen Testaments irrelevant und unnötig geworden. Und Nietzsches Zusatz „Gott bleibt tot“ konnte empfunden werden, als hämmerte er Gottes letzten Sargnagel ein.
Doch ganz so endgültig abschließend, wie es scheinen mochte, war es nicht. Seit Nietzsche dies schrieb, sind fast eineinhalb Jahrhunderte vergangen, und noch immer gehört religiöser Glaube für viele Menschen zu ihrem Leben. In einem Bericht von 2023 wurde festgestellt, dass sich in Ländern wie dem Iran, auf den Philippinen und in Polen über 90 % der Einwohner zu einem Gottesglauben bekennen. Selbst in offen säkularen Ländern wie Deutschland (57 %), Schweden (35 %) und Frankreich (51 %) sind viele Menschen weiterhin gläubig. Solche Zahlen hätten Nietzsche verblüfft, könnte man meinen.
„Es gibt zwei mögliche Tragödien im Leben: gelebt zu haben, als existierte Gott, wenn sich das als Hirngespinst herausstellt; und umgekehrt, wenn Gott tatsächlich doch existiert, wäre es tragisch, ohne Wissen um diese Wahrheit gelebt zu haben.“
Andererseits ist auch zweifellos wahr, dass der Glaube an Gott vielerorts rückläufig ist. Die Bedingungen, die Nietzsche anführte, haben offenbar ihre Wirkung gehabt. Als Time 1966 jenen Artikel brachte, glaubten 97 % der Amerikaner, dass es einen Gott gibt. Heute sind es 82 %. In anderen Ländern war der Rückgang dramatischer. Besonders prophetisch waren Nietzsches Worte für seine Heimat Ostdeutschland, wo 2008 nur 7,8 % uneingeschränkt an einen Gott glaubten.
Man könnte versucht sein, zu denken, die Religion sei in einem ausweglosen Niedergang begriffen, der schließlich zu ihrem Verschwinden führen werde. Darauf spielte Nietzsche an, als er (an Platon anknüpfend) schrieb: „Gott ist tot: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch jahrtausendelang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt.“ Die Theorie der Säkularisierung lehrt, dass Religion proportional zu Verbesserungen in Bildung und Wissenschaft zurückgeht, und viele westliche Länder scheinen ein Beispiel dafür zu geben. Doch die Auswirkungen der Säkularisierung sind enorm variabel. In manchen Kulturen hatte sie weit weniger Einfluss und für viele ist gleichzeitige Wertschätzung von sowohl Wissenschaft als auch Religion kein Problem. Wenn Nietzsches Behauptung wahr ist – dass die Voraussetzungen für einen Gottesglauben vor über einem Jahrhundert aufgehört haben, zu existieren –, warum glauben Menschen dann immer noch?
Religiosität ist oft mehr als eine private, theoretische Weltsicht. Gewöhnlich muss man dabei etwas tun. In früheren Jahrhunderten wurde Gläubigkeit erwartet, die zu regelmäßiger religiöser Praxis wie zum Beispiel der Teilnahme an Gottesdiensten führte. Das war der Weg des geringsten Widerstands. Heute trifft in vielen Kulturen das Gegenteil zu. Oft gehört eine erhebliche Entschlossenheit dazu, Religion in die Praxis umzusetzen.
Beharrungsvermögen des Glaubens
Über die Geschichte hinweg haben Menschen an ihrem Glauben festgehalten – trotz großer Erschwernisse, manchmal auch Folter oder sogar Tod. Man könnte an die Juden im Getto von Warschau denken, Muslime in Bosnien-Herzegowina oder Christen in Nordkorea. Frühere Beispiele waren die Opfer der Inquisitionen – unter denen die wohl furchtbarste die Spanische Inquisition war. Und noch früher beschreibt die Bibel, wie Daniel und seine Freunde Schadrach, Meschach und Abed-Nego den Drohungen der Obrigkeit gegen ihre religiöse Praxis widerstanden. Heute gibt es weltweit viele Menschen, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden, und dennoch besteht Religion weiter. Ein solches Engagement wirft die Frage auf: Was ist hier los? Wenn religiöser Glaube in einer gebildeten, wissenschaftsbasierten Gesellschaft nicht mehr vertretbar ist, warum bleiben Menschen dann dabei? Wie kann es sinnvoll sein, beharrlich an etwas festzuhalten, wenn es überholt ist? Ist der Säkularisierungstheorie etwas entgangen? Bietet die Religion etwas, was der Säkularismus nicht bietet?
„Die freundschaftlichen Netzwerke, die durch religiöse Gemeinschaften gefördert werden, schaffen einen Wert […] ,soziales Kapital‘ – das Menschen nicht nur glücklicher macht, indem es ihnen ein Gefühl von Sinn und Zugehörigkeit gibt, sondern es ihnen auch erleichtert, Arbeit zu finden und Wohlstand zu erwerben.“
Religionsfeindlichkeit ist in den meisten Fällen eher passiv als aggressiv und manchmal eine Folge der Art, in der Gläubige versucht haben, ihre Überzeugungen anderen aufzuzwingen. Aber es gab Zeiten, in denen diese Feindlichkeit nicht provoziert und ungebremst war und in denen Menschen trotz extremer Anfeindung an ihrem Glauben festhielten.
Ein besonders bemerkenswertes Beispiel ist die Erfahrung von Gläubigen in Russland vor einem Jahrhundert. Nach ihrer Machtübernahme im Jahr 1917 wollten die Bolschewiki die Religion in dem neu gegründeten Sowjetstaat ausmerzen. Sie hatten eine klare ideologische Vision der Zukunft und Glaube an Gott gehörte nicht dazu.
Karl Marx’ berühmter Aphorismus „Religion ist das Opium des Volks“ war dabei einflussreich, obwohl Marx tatsächlich wenig über Religion schrieb und der Ausdruck von seinen frühen, weniger reifen Schriften kam. Generell war Marx der Ansicht, Religion sei ein Seelentröster zur Beruhigung der unreifen Menschheit und die Gesellschaft werde im Zuge ihrer Weiterentwicklung diese Stütze hinter sich lassen (in diesem Sinn war seine Sicht ein Vorläufer der Beobachtung Nietzsches, aber auch modernerer materialistischer Gedanken).
Die Bolschewiki übernahmen diesen Gedanken und führten ihn weiter. In dem wichtigen frühen Text ABC des Kommunismus bezeichneten Nikolai Buharin und Jewgeni Preobraschensky Religion als „eine kindische Vorstellung, die keine Bestätigung im praktischen Leben findet“. Ihrer Meinung nach hielt sich der Gottesglaube, weil die „ausbeuterische Klasse“ es vorteilhaft fand, „den Kinderglauben des Volks zu bewahren“. Er sei ein Machtinstrument für Unterdrücker und eine tröstende Zudecke für die Unreifen. Hierin wiederholten sie Marx’ Gedanken, der geschrieben hatte: „Religion ist das Selbstbewusstsein und die Selbstachtung des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht gefunden oder schon wieder verloren hat.“
Die Bolschewiki wussten allerdings, dass sie vor einem Problem standen. Das russische Volk war sehr religiös. Die russisch-orthodoxe Kirche war 1917 mit über 40.000 Kirchen und 100 Millionen Gläubigen die wichtigste Organisation des Lands (die damalige Bevölkerung wird auf insgesamt rund 136 Millionen geschätzt). Neben ihr praktizierten auch Buddhisten, Baptisten, Juden, Mennoniten, Muslime, Sieben-Tage-Adventisten und viele andere im ganzen Land ihren Glauben – sowohl privat als auch öffentlich.
Allerdings fehlte es den Anführern der frühen Bolschewiki nicht an Ehrgeiz, und was sie dann ins Werk setzten, war erstaunlich. Ihr Ziel war, das alte Heilige Russland in das moderne, wissenschaftsbasierte und atheistische Sowjetrussland umzugestalten. Ein Unterfangen dieser Art wurde nur selten in anderen Ländern versucht – in weit begrenzterem Maßstab zum Beispiel in Mexiko, Albanien und Kambodscha. Die neu gebildete Sowjetunion war ein riesiges Land, sowohl an Bevölkerung als auch an Fläche, mit althergebrachtem Brauchtum und Kultur. Doch wenn Nietzsche recht hatte und die Bedingungen, die einen Gottesglauben zuließen, verschwunden waren, dann war das Ziel sicher nicht zu hoch gesteckt.
Sie begannen, indem sie wichtige führende Köpfe verhafteten, religiöse Zusammenkünfte verboten und Kirchen und andere religiöse Symbole zerstörten. Sie hoben Gesetze auf, die die Kirche schützten, und beschlagnahmten kirchlichen Besitz. 1922 verhafteten sie Patriarch Tichon, das Oberhaupt der orthodoxen Kirche. Innerhalb von zwei Jahrzehnten wurden über 88 % der Kirchen demontiert und 90 % der Gemeindepopen inhaftiert oder ins Exil gezwungen.
Der neue Staat hatte die wichtigste religiöse Körperschaft des Lands physisch und symbolisch unterworfen, doch am Denken des Volks schien das nichts zu ändern. Wie der Historiker Daniel Peris schreibt, musste das Regime seine Kampagne verlagern: „Religion blieb eine verbreitete Kraft. Implizit wurde anerkannt, dass die vorherige Politik gescheitert war.“ Überdies „schien die Volksreligion außerhalb der Grenzen der orthodoxen Kirche einen Aufschwung zu erleben“.
„Religion gibt den Menschen ein Sinnsystem, das ihnen hilft, sich in einer unendlich komplexen und ungewissen Welt zu orientieren und sie zu verstehen. Sie erfüllt das Grundbedürfnis, die tiefsten Probleme der Existenz zu begreifen.“
Daraufhin warfen die Bolschewiki das Ruder herum und steuerten mehr in Richtung Bildung und Propaganda. Sie gründeten antireligiöse Zeitungen, stellten Männer für lokale Kampagnen ein und schrieben überzeugende Leitartikel. Diese Bestrebungen kristallisierten dann zu einer Regierungsorganisation mit dem reichlich grandiosen Titel „Liga der Gottlosen“ (die später die „Liga der Militanten Gottlosen“ wurde). Peris beschreibt sie als „einen Freiwilligen-Verband aus Personen, die den Einfluss der Religion in all ihren Formen bekämpfen und den ,wissenschaftlichen Materialismus‘ fördern wollten“. Sie nutzten populäre Medien – Radio, Kino, Presse –, um das Volk zu überzeugen und umzuerziehen. Sie arrangierten Veranstaltungen und hielten Vorträge. Sie warben für Wissenschaft und Atheismus als den Weg zur Modernität. Doch Peris erklärt: „Den Bolschewiki-Planern war die Tatsache nicht klar – oder sie ignorierten sie –, dass die Verbreitung von Technologie und Wissenschaft trotz der lauten Debatten über Wissenschaft und Religion im vorausgegangenen Jahrhundert wenig direkte Auswirkungen auf die Säkularisierung hatte.“ Die Bolschewiki verspotteten Wunder als wissenschaftlich unmöglich und verwiesen auf wahrgenommene Widersprüche in der Bibel. Es war eine konzertierte, wenn auch uneinheitliche landesweite Kampagne, die etliche Jahre anhielt.
1937 ließ die Sowjetregierung eine landesweite Volkszählung durchführen, bei der erstmals eine Frage zu religiösem Glauben gestellt wurde. Zwei Jahrzehnte nach ihrer Machtübernahme sollte die Volkszählung ein Erfolgsbarometer für die Bolschewiki sein. Premierminister Josef Stalin hatte viele seiner Hauptrivalen an den Rand gedrängt (oder war auf dem Weg, dies zu tun). Heute ist das Jahr 1937 berüchtigt wegen einer Serie von Schauprozessen, Hinrichtungen und Deportationen mit dem Ziel, seine Position zu festigen. Stalin schien die Macht unanfechtbar im Griff zu haben.
Es dürfte eine ungünstige Zeit gewesen sein, den Zielen seiner Regierung zu trotzen, insbesondere beim Thema Religion. Doch genau das war es, was viele taten. Nicht nur hatten weder Drohungen noch Propaganda es vermocht, die Mehrheit dazu zu bringen, den religiösen Glauben aufzugeben, sondern über die Hälfte der Bevölkerung (56 %) war mutig genug, deren Scheitern zu bestätigen, indem sie sich bei der Volkszählung offen zu ihrem Glauben bekannte. Für Stalins Regierung war das eine enorme Blamage. Sie bestrafte Volkszählungsbeauftragte und hielt die Ergebnisse unter Verschluss. Zwei Jahre später folgte eine zweite Volkszählung, die als Ersatz dienen sollte, diesmal ohne die Frage nach dem religiösen Glauben. Viele religiöse Menschen sahen die zweite Volkszählung als direkte Drohung gegen ihren Glauben und boykottierten sie komplett – sie mieden Staatsdiener, versteckten sich oder gaben vor, die lokale Sprache nicht zu sprechen. Ein Bauer gab an: „Ich gehöre nicht zum sowjetischen Staat, sondern zum orthodoxen.“ Ein anderer erklärte: „Wir machen keinerlei Angaben über uns selbst. […] Wir brauchen keine Volkszählung, sondern einen Popen und eine Kirche.“
Das Risiko, das diese Menschen auf sich nahmen, um ihre religiöse Praxis zu verteidigen, lässt sich kaum überzeichnen. Behinderung der Volkszählung konnte harte Strafen nach sich ziehen, auch Haft in einem sibirischen Arbeitslager. Mit der einfachen Aussage, dass sie an einen Gott glaubten, trotzten sie der Regierung. Und dennoch taten dies Millionen von Menschen. Es war klar, dass Religion für viele einen hohen Wert hatte, sogar höher als ihr Leben.
Warum hielten die Menschen so beharrlich an ihren Überzeugungen fest? Waren die es wirklich wert, das Leben dafür zu riskieren? Was fanden sie in ihrer Religion, das so wertvoll war?
Aus einer materialistischen Perspektive gibt es auf diese Fragen keine einfachen Antworten. Hitchens gab seinem Buch den infamen Untertitel Wie Religion die Welt vergiftet. Bei dieser Sichtweise ist es schwer zu sehen, warum jemand an der Religion festhalten sollte, selbst in den besten Zeiten. Doch in den letzten Jahren ist man darauf gekommen, dass Religion auf die eine oder andere Weise gut für uns sein könnte. Mehrere Studien haben verschiedene Aspekte davon auf persönlicher wie auch gesellschaftlicher Ebene aufgezeigt. Diese Nutzeffekte sind nicht restlos geklärt, aber sie könnten verstehen helfen, warum Religion für so viele noch immer anziehend ist.
Warum wir dabeibleiben
In mehreren Studien wurde festgestellt, dass religiöser Glaube der Gesundheit nützen kann, sowohl der physischen als auch der psychischen. Die Mayo-Klinik schreibt: „Eine große und weiter zunehmende Zahl an Studien hat eine direkte Beziehung von religiöser Einbindung und Spiritualität zu positiven gesundheitlichen Ergebnissen gezeigt, einschließlich Sterblichkeit, physischen Krankheiten, psychischer Gesundheit, gesundheitsbezogener Lebensqualität und dem Umgang mit Krankheit (einschließlich Todkrankheit). Ferner legen Studien nahe, dass es die Genesung fördern kann, sich um die spirituellen Bedürfnisse von Patienten zu kümmern.“
Eine 1999 in der Zeitschrift Demography veröffentlichte Studie mit 21.000 Erwachsenen ergab, dass Menschen, die nie zur Kirche gingen, gegenüber denjenigen, die mehr als einmal pro Woche gingen, ihr Risiko verdoppelten, innerhalb der folgenden acht Jahre zu sterben. Die Autoren der Studie führten das geringere Risiko der Kirchgängergruppe auf gesundheitsrelevante Gewohnheiten, stärkere soziale Einbindung und Verhaltensfaktoren im Zusammenhang mit religiöser Praxis zurück. Beispielsweise Mitgefühl, Vergebung und Dankbarkeit – drei grundlegende Merkmale religiösen Denkens – dürften mit geringerem Stress und höherer Resilienz einhergehen. Diese Feststellungen erinnern an eine uralte biblische Weisheit, die bezeugt, dass Wohlverhalten, Demut und Gottesfurcht „deinem Leibe heilsam sein und deine Gebeine erquicken“ werden (Sprüche 3, 8).
Außerdem bietet Religion soziale Vorteile durch Kooperation und Einbindung in die Gemeinschaft. Eine internationale Pew-Studie ergab 2019, dass die Häufigkeit von Kirchgängen und das Maß persönlicher Religiosität nicht nur die Einbindung der Menschen in ihr lokales Umfeld stärkten, sondern auch mit einer höheren Lebenszufriedenheit und einer größeren Zahl enger Freunde einhergingen. Auch diese Forschungsergebnisse bestätigen althergebrachte biblische Lehren, die zu zwischenmenschlicher Unterstützung und vielfältigen kooperativen Gemeinschaften aufrufen.
Diese Vorteile können zwingende Gründe sein, angesichts von Gefahren bei der eigenen Religion zu bleiben.
Natürlich tragen auch andere Faktoren zum Beharrungsvermögen von Religion in der menschlichen Psyche bei. Wenn man sich in eine solche Gemeinschaft eingefügt hat, kann es schwierig sein, sich davon zu trennen, selbst wenn es klug scheint, das zu tun. Menschen, die ihre Kirchengemeinschaft aufgegeben haben, berichten oft, dass es schwer ist, einen anderen Mittelpunkt für ihr Sozialleben zu finden, wo das Maß der Einbindung vergleichbar ist.
„Viele Menschen, die das Stützgerüst organisierter Religion verloren haben, scheinen keine alternative Methode gefunden zu haben, um ein Gemeinschaftsgefühl aufzubauen.“
Zweifellos können auch natürliche Trägheit oder Starrsinn eine Rolle dabei spielen, dass wir uns nicht trennen wollen. Es ist schwer, etwas aufzugeben, was zu unserer Identität und Kultur gehört. Das war fast mit Sicherheit ein Faktor bei Russlands Widerstand gegen den Atheismus der Bolschewiki. Etwas, was über Jahrhunderte kulturell eingewurzelt ist, lässt sich nicht in ein paar Jahrzehnten ausmerzen.
Es gibt auch andere, negativere Motivatoren für Religion. Religiöse Führer und andere, die im Namen von Religion agierten, haben über Jahrhunderte ihre Anhänger unter Zwang gesetzt und dabei manchmal Verbrechen, Misshandlungen und Massenmorde begangen. Religion kann in manchen Fällen Fanatismus, Isolation oder irrationale persönliche Erwartungen fördern. All dies kann zu Tragödien führen – und das ist auch geschehen. Die Versuchung, Religion für solche eigennützigen Zwecke zu benutzen, kann stark sein.
Der Gedanke der Bolschewiki, dass Religion ein starkes Machtmittel der „ausbeuterischen Klasse“ war, um das Volk unter Kontrolle zu halten, war nicht falsch (obwohl der Wille der Bolschewiki zu sozialer Kontrolle selbst ohne Religion kaum als minimal zu bezeichnen ist). Religion kann auch eine blockierende Sperre gegen Gesundheit oder neues Wissen sein – zum Beispiel die Verweigerung einer vernünftigen medizinischen Behandlung oder das Festhalten an Vorstellungen, die nicht mehr vertretbar sind, etwa dass die Erde flach sei. Allerdings ist anzumerken, dass die Rolle der Religion bei der Bekämpfung von Wissenschaft oft erheblich überzeichnet worden ist.
Vielleicht sind wir einfach so gebaut
Es gibt eine weitere Ursache für das Beharrungsvermögen von Religion, die gerade erst beginnt, ans Licht zu kommen. Wie es scheint, ist der Mensch möglicherweise prädisponiert – von Natur aus empfänglich – für Religion. In der Neurotheologie wird an der Frage geforscht, ob es eine neurologische Basis für religiöses Erleben gibt. Tatsächlich sind vor und nach einer Meditation sowie bei anderen religiösen Praktiken und Erfahrungen Veränderungen im Gehirn zu sehen.
Der Neurowissenschaftler Andrew Newburg hält sich nicht für sonderlich religiös, aber er schreibt: „Wenn man lange genug in der Gottesbetrachtung bleibt, geschieht etwas im Gehirn. Die neurale Funktionsweise beginnt sich zu ändern. Andere Schaltkreise werden aktiviert, wieder andere deaktiviert. Neue Dendriten bilden sich, neue synaptische Verbindungen werden angelegt, und das Gehirn wird empfindsamer für subtile Bereiche des Erlebens.“ Es ist, als hätten wir einen Drang zur „Selbsttranszendenz“ oder Vereinigung mit etwas, was größer ist als wir. Dieses „gottförmige Loch“ in unserer Neuropsychologie, wie es manchmal genannt wird, scheint nicht materielle Realitäten und Erklärungen zuzulassen – und sogar einzuladen. Diese Neigung ist offenbar eine allen Menschen gemeinsame Eigenschaft. Wir entscheiden uns leichter für göttliche Erklärungen, als wir vielleicht annehmen.
Die Frage, ob Gott existiert, kann die Neurowissenschaft nicht beantworten, doch, so Newburg, „sie kann uns sagen, wie Gott – als ein Bild, Gefühl, Gedanke oder Fakt – gedeutet wird, wie darauf reagiert wird, und wie er zu einer Wahrnehmung wird, die sich bedeutend und real anfühlt“. So gesehen könnte man sagen, dass wir für nicht materialistisches Denken gebaut sind.
Es könnte an etwas erinnern, was ein hebräischer Weiser schrieb: Gott habe den Menschen „die Ewigkeit in ihr Herz gelegt“ (Prediger 3, 11) – ein Gespür in unserem Inneren, das für das Nichtmaterielle prädisponiert ist. Es ist schwer zu identifizieren oder zu messen, doch ist nicht zu leugnen, dass selbst in dieser säkularen Zeit unser Wunsch, zu glauben, was nicht streng rational ist, offenbar ungetrübt ist. Außerdem ist bedenkenswert, dass nicht materielle Perspektiven wertvoll für uns sein können, insbesondere in einer materiell instabilen Welt.
Bedenkt man all dies, ist es vielleicht nicht überraschend, dass der Versuch der Bolschewiki, Religion auszumerzen, letztlich scheiterte. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, erklärt der Historiker Paul B. Anderson, „wurde die Bewegung der Militanten Gottlosen aufgelöst, in vielen Gegenden wurden Kirchen wieder geöffnet, Popen kamen aus ihren Verstecken, theologische Lehranstalten wurden wieder geöffnet, und der Verlag der orthodoxen Kirche veröffentlichte Liturgiebücher“. Die Sowjetunion förderte weiter den Atheismus und Religiosität nahm in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus weiter ab, doch dies dürfte mehr mit den kulturellen und technologischen Veränderungen zu tun haben, die weltweit um sich griffen, als mit irgendeinem von den Bolschewiki inspirierten Bestreben.
Der Fall des Kommunismus im Jahr 1991 leitete tatsächlich einen Aufschwung des Glaubens im neuen Russland ein. Die Russische Föderation machte sich rasch an den Wiederaufbau von Kirchen, darunter die optisch beeindruckende Christus-Erlöser-Kathedrale, deren Original unter Stalin zerstört wurde. Heute bekennen sich 78 % der Russen zum Glauben an einen Gott.
Russlands Erfahrung demonstriert, dass Religion wahrscheinlich nicht weggeht. Sie erscheint immer wieder in unterschiedlichen Gestalten und Formen, zum Guten oder zum Bösen verändert. Dies entspricht dem, was vorausgegangen ist. Ihr künftiger Fußabdruck dürfte, wie ihr historischer Fußabdruck, bestenfalls gemischt sein. Insbesondere das Christentum in seinen vielen Wiederholungen – einschließlich der russischen Orthodoxie – ist für sein unglückliches menschliches Vermächtnis gegeißelt worden, in vielen Fällen zu Recht, denn es hat über Jahrhunderte hinweg biblische Prinzipien missdeutet und missbraucht. Die Schuld dafür ist der Religion anzulasten, wenn „Religion“ in diesem Fall die falsche Anwendung biblischer Prinzipien ist. Weit schwieriger ist es, die Schuld den Prinzipien selbst zu geben.
In ihrem eigentlich beabsichtigten Kontext und ohne ihren historischen Ballast bieten diese Prinzipien genau die Art Nutzeffekte auf der physischen, psychischen, persönlichen und gesellschaftlichen Ebene, die die Forschung identifiziert hat. Sie fördern gute psychische Gesundheit und Resilienz, hilfreiche Kommunikation, positive persönliche Identität, starke, integrierte Gemeinschaften und gesellschaftliche Stabilität. Dies sind Bereiche, in denen sich Religion als segensreich erwiesen hat.
Aber physische Nutzeffekte allein reichen nicht aus, um zu erklären, warum sich Menschen in der Geschichte mit ihrem Leben für religiösen Glauben eingesetzt haben. Wenn wir als Menschen, wie die wissenschaftlichen Befunde nahelegen, nicht nur eine natürliche Neigung zur Religion haben, sondern den Drang, in etwas, was größer ist als wir selbst, Lebensinhalt und Sinn zu finden, dann kann es sein, dass wir eine spirituelle Verbindung suchen – etwas, was nicht im menschlichen Fühlen und Denken inhärent ist. Dieses fehlende Stück ist so wichtig, dass manche Menschen tatsächlich bereit waren, dafür zu sterben.