Ist die Bibel frauenfeindlich?

Werden Frauen in der Heiligen Schrift - dem Alten und dem Neuen Testament - mit Voreingenommenheit behandelt? Behauptet wird dies oft genug. Die Frauen der Patriarchen betrachtet man als unterwürfige Wesen einer längst überholten Zeit; man behauptet, die antike hebräische Gesellschaft habe Frauen als Eigentum behandelt, und der Apostel Paulus - für viele der eigentliche Begründer des Christentums - sei ein erbitterter Frauenhasser gewesen. Wie könnte man die Bibel angesichts dieser Eindrücke nicht als frauenfeindlich ansehen?

Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat sich eine feministische Theologie entwickelt; deren erklärtes Ziel ist es, die Frauen zu befreien und dadurch ihre Position sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft zu stärken. Für einige führte das zu einer völligen Ablehnung der Bibel als „unrettbar patriarchalisch“ und zu einer Theologie, in der die Rollen von Mann und Frau umgekehrt wurden.

Eine zentrale Figur dieser Argumentation ist oft Maria Magdalena, die, wie viele meinen, die herkömmliche Vorherrschaft der Männer in der Kirche in Frage stellt. Schließlich war sie, wenn wir Dan Browns Bestseller Sakrileg (The Da Vinci Code) Glauben schenken, die Geliebte Christi und die 13. (und bessere) Apostelin. Brown stützt sich stark auf Quellen der Gnosis - einer zweifelhaften Alternative zu den frühchristlichen Lehren -, die eine dominantere Rolle für Frauen in Kirche und Gesellschaft zu befürworten scheint (siehe unseren Artikel „Maria Magdalena - eine neue Version“ in der Ausgabe Frühjahr 2005).

In der größten Strömung des Christentums ist unterdessen eine andere Maria - die Mutter Jesu - effektiv mit Christus auf die Ebene der Miterlöserin der Menschheit gehoben worden (siehe den Artikel „Der Siegeszug der Himmelskönigin“ in dieser Ausgabe). In der römisch-katholischen Kirche wurde 813 in Deutschland das Marienfest „Mariä Himmelfahrt“ eingeführt, Papst Pius XII. verkündete 1950 das Dogma „von der ganzmenschlichen Aufnahme Mariens in den Himmel“. Obwohl es weder dafür, noch für eine Priesterweihe von Frauen biblische Belege gibt, stellt es für Anhänger einer feministischen Theologie eine Diskrepanz dar, dass die römisch-katholische Kirche Frauen trotz der überragenden Rolle Marias nicht zur Priesterweihe zulässt. Ähnliche Konflikte schwelen in anderen Kirchen, und die jeweiligen Kontrahenten suchen ihre Standpunkte mit unterschiedlichen Bibelpassagen zu untermauern.

DIE QUMRAN-CONNECTION

Bedauerlicherweise wird die Bibel selten als Ganzheit betrachtet. Die Autoren des Alten und des Neuen Testaments vermitteln ein stimmiges Bild von Gottes Einstellung zu Frauen. Anders als gemeinhin behauptet, stellt keiner der Autoren Gott als frauenfeindlich dar.

Das Neue Testament entstand in einem jüdischen Umfeld, das die Rolle der Frau im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Kulturen tatsächlich überraschend aufgeklärt sah. Dieses Umfeld fußte in den Gesetzen, Prinzipien und Praktiken des Alten Testaments (siehe den Kastenartikel „Eine tüchtige Frau, eine fürsorgliche Gesellschaft“). Den Vorrang des Mannes im Verhältnis der Geschlechter leitete man im Judentum aus der Anzahl der Gesetze in der Thora ab, die ausdrücklich den jüdischen Mann betrafen, im Verhältnis zu den Gesetzen, die die jüdische Frau betrafen. Obwohl die Gesellschaft also ohne Zweifel patriarchalisch strukturiert war, wurden Übergriffe gegen Frauen andererseits nie gebilligt.

Die Jahre zwischen den Ereignissen, die im Alten und im Neuen Testament beschrieben sind, werden als intertestamentare oder zwischentestamentliche Epoche bezeichnet. Ein Dokument, das bei den Schriftrollen von Qumran gefunden wurde, kann uns sehr viel darüber sagen, wie ein Teil der damaligen jüdischen Gesellschaft über Frauen dachte.

Das Damaskus-Dokument, das im Jahr 1952 in Höhle 4 bei Qumran in der Wüste Judäas gefunden wurde, enthält Regeln für das Gemeinschaftsleben einer Essener-Gemeinde. Manche meinen, die Essener seien eine der Ehelosigkeit verpflichtete Sekte gewesen, doch der jüdische Geschichtsschreiber Josephus merkte im 1. Jahrhundert an, dass einige von ihnen verheiratet waren (Der jüdische Krieg 2.8.2, 13). Eine der Regeln stellte es unter Strafe, gegen Mütter zu murren. Die Strafe war geringer als für Murren gegen Väter, doch dass Verstöße gegen das fünfte der Zehn Gebote (Du sollst Vater und Mutter ehren) strafbar waren, deutet darauf hin, dass Frauen auch außerhalb ihres Hauses Rechte hatten. Ein weiteres Beispiel für solche Rechte innerhalb der religiösen Gemeinschaft ist der Tempelbezirk in Jerusalem: Dort gab es einen Hof, wo sich Frauen zusammen mit jüdischen Männern versammeln konnten, und dieser war dem Allerheiligsten näher als der Hof, wo sich die Nichtjuden versammeln durften.

DIE ZEIT DES NEUEN TESTAMENTS

In ihrer Forschungsarbeit „Mothers, Sisters, and Elders: Titles for Women in Second Temple Jewish and Early Christian Communities“ überbrückt Sidnie White Crawford die zeitliche Lücke zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Sie zeigt, dass Frauen in der breiteren jüdischen Kultur (d.h. außerhalb der Essenergemeinschaft) ähnliche Rechte genossen und dass die Schriften der Apostel dies bezeugen. Wir stellen also fest, dass jüdische Gemeinschaften Frauen grundsätzlich auch einen Platz außerhalb ihres Hauses, in der religiösen Gemeinschaft, einräumten.

Unsere Rabbiner lehrten: Über einen Mann, der seine Frau liebt wie sich selbst, der sie mehr ehrt als sich selbst, . . . sagt die Schrift: ,Und du wirst erfahren, dass deine Hütte Frieden hat‘ (Hiob 5:24).“

Talmud (Yebamoth 62b)

Sowohl die Gesetzestexte als auch die mündliche Überlieferung, die auf den hebräischen Schriften basierten, schrieben Schutzrechte für Frauen vor. Sie garantierten einer Frau z.B. das Recht, die religiöse Obrigkeit anzurufen, wenn ihr Mann sich Übergriffe gegen sie zuschulden kommen ließ. Ein Ehemann hatte streng definierte Pflichten gegenüber seiner Frau und Familie, worüber die religiöse Obrigkeit die Rechtshoheit hatte. Dies gab jüdischen Frauen eine geachtete Stellung in der Gesellschaft des 1. Jahrhunderts - ganz im Gegensatz zu ihren Zeitgenossinnen in der dominanten griechisch-römischen Kultur. Diese Werte gaben die Apostel eindeutig an die jungen Gemeinden weiter, die sie gründeten. So war es z.B. Lukas sehr wichtig, in seiner Apostelgeschichte die Namen der Frauen zu nennen, die zur Kirche gehörten und ihre Mission unterstützten.

DIE WAHRHEIT IN DEN EVANGELIEN

Feministen, die ihre Theologie mit der Bibel untermauern wollen, verwenden häufig die Auferstehungsberichte: Die Frauen waren früh am Morgen beim Grab Jesu und daher die ersten Zeugen des Auferstandenen. Manche betonen auch die Gegenwart der Frauen an der Kreuzigungsstätte. Was hier übersehen wird, ist, dass die Römer das Auftauchen männlicher Jünger bei diesen beiden Ereignissen als politische Aussage und folglich vielleicht sogar als Kapitalverbrechen aufgefasst hätten. Aufgrund ihrer Ansichten über die Geschlechter sahen die Römer Frauen dagegen nicht als Bedrohung ihrer Autorität.

Doch wer ausschließlich den Schlussabschnitt in den Evangelien berücksichtigt, läuft Gefahr, einige der bedeutungsvollsten Aussagen über Jesus nicht zu würdigen - Aussagen, die die Beziehungen aller Menschen miteinander prägen sollten, unabhängig von Geschlecht oder Volkszugehörigkeit.

Das Matthäusevangelium ist das erste Evangelium und die erste Biographie Jesu Christi. Es beginnt mit einer Genealogie (Ahnentafel), die fünf Frauen aus der jüdischen Geschichte nennt. Warum Matthäus dies tat, hat Kommentatoren bisweilen Kopfzerbrechen bereitet. Warum berücksichtigt er in so öffentlicher Weise Frauen in der Genealogie Jesu Christi, während Lukas, der für seine Einbeziehung von Frauen bekannt ist, in seiner Genealogie keine Frau nennt?

Der Bericht des Matthäus ist eindeutig so gestaltet, dass er einem bestimmten Zweck dient. Er beginnt in chronologischer Reihenfolge mit dem Trio Abraham, David und dem Messias (identifiziert als Jesus) und schließt auf die gleiche Weise. (Matthäus 1, 1 und 17). Zwischen diese beiden Aussagen stellt Matthäus drei genealogische Abschnitte mit jeweils 14 Generationen. Vier der Frauen werden im ersten Abschnitt genannt, die fünfte - Maria, die Mutter Jesu - am Ende des dritten. Die Nennung dieser Frauen ist keineswegs zufällig oder absichtslos.

Bei der Frage nach Matthäus' Absicht haben sich Kommentatoren oft auf die ersten vier Frauen konzentriert und Maria vernachlässigt. Diese ersten vier werden häufig mit tatsächlichen oder vermeintlichen Sexskandalen assoziiert, in die sie verwickelt waren. Tamar gab sich als Prostituierte aus, mit der Absicht, von ihrem Schwiegervater schwanger zu werden. Rahab galt als die Hure von Jericho. Bei Ruth nehmen Kommentatoren ein mitternächtliches Tête-à-Tête mit Boas an, um damit das sexuelle Thema in der Genealogie fortzusetzen. Und Batseba, die Frau des Hetiters Uria, ist natürlich bekannt für ihre Beziehung mit König David, die eine Schwangerschaft und den Tod ihres Mannes zur Folge hatte. Das alles liefert keinen Grund für Marias Platz auf der Liste und ist daher als unbefriedigend anzusehen. Das Argument, diese Frauen seien Sünderinnen gewesen, ergibt auch keinen überzeugenden Sinn. Dem Bibeltext zufolge sind alle in der Genealogie genannten Personen, ob männlich oder weiblich (außer Jesus), Sünder.

Dass drei der fünf Frauen, die in der Ahnentafel Jesu Christi aufgeführt werden, Nichtjüdinnen waren, macht deutlich, dass es um eine universelle und grundsätzliche Berücksichtigung von Frauen geht. So erkennen wir in der Genealogie nach Matthäus die Berücksichtigung der gesamten Menschheit; er setzt sich damit auch über die Tradition seiner Zeit hinweg. Der Apostel Paulus vertritt in seinem Brief an die Galater die Einbeziehung aller Menschen im Gegensatz zum traditionellen jüdischen Gesellschaftsbild: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Galater 3, 28). Einen Gegensatz dazu bildet trotz der grundsätzlichen Wertschätzung der Frau im Judentum das bis heute übliche Dankgebet eines Mannes für das Privileg, Jude und nicht Grieche zu sein, frei und nicht Sklave, Mann und nicht Frau zu sein..

Die jüdische Literatur von der Zeit vor der Geburt Jesu bis zu den aramäischen Kommentaren aus dem 2. und 3. Jahrhundert sah die ersten vier bei Matthäus genannten Frauen als Gerechte an. Sie waren Frauen, deren Sünden vergeben worden waren und deren Handeln danach durch den Heiligen Geist motiviert und gesteuert worden war. Sowohl Philo als auch Josephus vertiefen diesen Aspekt der biblischen Überlieferung. Dies steht deutlich im Einklang mit den Worten des Matthäus über Maria und verbindet sie mit den vier anderen Frauen. Auch hatten die vier der Bewahrung des Bundes gedient, den Gott mit Abraham und David geschlossen hatte und dessen rechtmäßiger Erbe der Messias sein sollte. Daher spielten sie eine bedeutende Rolle in Gottes Plan für sein Volk, wie Matthäus über Maria sagt.

Gerechtigkeit ist im ganzen ersten Kapitel des Matthäusevangeliums ein wichtiges Thema. Er bezeichnet Josef, Marias künftigen Mann, als frommen oder rechtschaffenen Menschen (Vers 19). Der Zusammenhang zeigt deutlich, dass Josefs Verhalten gegenüber Maria auffallend frei ist von Unterdrückung, Missbrauch und Brutalität - Verhaltensweisen, die Feministen als typisch für das Patriarchat zu beklagen pflegen. Josef suchte die Probleme seiner schwangeren Verlobten auf gottgefällige Weise zu lösen - eine Weise, die ihren Bedürfnissen gerecht wurde, nicht seinem gekränkten Ego. Matthäus zeichnet ihn als einen Menschen, der die Gnade Gottes sucht statt die Strafmöglichkeiten der Thora. In ähnlicher Weise definiert die hebräische Bibel Abraham, David und den Messias als Gerechte (1. Mose 18, 19; 2. Samuel 8, 15; Jesaja 9, 6).

Es ist, als wollte Matthäus seinen Bericht über das Leben Jesu mit der Aussage einleiten, dass bei einem rechten Verständnis der Ziele Gottes der Platz einer Frau in einer Gesellschaft nicht der gleiche ist wie in anderen zeitgenössischen Gesellschaften. Nicht nur im Haus oder in der religiösen Gemeinschaft haben Frauen eine Funktion; sie können von Gott auserwählt sein, um das Volk zu retten und seine Ziele zu verwirklichen. Sie haben einen gleichwertigen Platz in der Botschaft Jesu Christi und eine gleichwertige Rolle im Plan Gottes.

Die bloße Nennung von Frauen als Gerechte und Mitwirkende an Gottes Plan für die Menschheit änderte das Los von Frauen heute allerdings ebenso wenig wie damals. Was ist denn dann die Rolle der Frauen in Gottes Plan, und wie passt sie zu der patriarchalischen Struktur, die so viele verachten?

Diesem sehr realen Problem kann man sich mit einer einfachen Frage nähern: Berichtet Matthäus, dass Jesus seine Jünger zu dem Thema unterwies, das den Feministen am meisten Sorge bereitet - der Unterdrückung? Er stellt Jesus eindeutig als einen Juden dar, der nach der Thora lebte. Doch selbst eine oberflächliche Lektüre seines Evangeliums zeigt, dass das Maß der Gesetzestreue, das Jesus lehrte, sich radikal von dem unterschied, was andere gelehrt hatten. Er setzte einen höheren Maßstab, der für die jüdische Obrigkeit ebenso eine Herausforderung war wie für das Römische Reich und jede andere zeitgenössische Kultur. Und die Herausforderung besteht noch heute.

MACHTSPIEL

Seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst war ein zentrales Element der Offenbarung der Thora auf dem Berg Sinai. Jesus Christus und die religiöse Obrigkeit seiner Zeit erkannten dies als das zweite Hauptgebot der gesamten Thora (Matthäus 22, 36-40). Dies erforderte ein Maß an Achtung vor dem Leben, das in der brutalen Welt des Römischen Reiches fehlte. Weder der jüdischen religiösen Obrigkeit noch den Jüngern Jesu selbst war bisher bewusst gewesen, was Jesus nun über dieses Gebot lehrte. Es war in vielfacher Weise ausgelegt worden, immer aber zugunsten der Selbstliebe. So musste Jesus gegen die falsche Vorstellung vorgehen, seinen Nächsten zu lieben und seinen Feind zu hassen (Matthäus 5, 43-47). Was Lukas über die Lehre Jesu berichtet, zeigt, dass selbst ein Mensch, der als Feind wahrgenommen wird, ein Nächster sein kann (Lukas 10, 25-37). Tatsächlich befassen sich alle vier Evangelisten mit diesem Thema (vgl. Markus 12, 28-34; Johannes 10, 11 und 13, 35). Einfach ausgedrückt lehrte Jesus, dass man das Wohlergehen anderer als genauso wichtig erachten sollte wie das seiner selbst. Die Evangelisten zeigen, dass Jesus diese Einsicht auf eine höhere Ebene hob. Nächstenliebe konnte nicht länger nur passiv sein. Sie erforderte aktive Fürsorge.

Diese Wahrheit über das, was in menschlichen Beziehungen nötig ist, zieht sich durch das gesamte Matthäusevangelium. Seine Wiedergabe der Worte Jesu verweist immer wieder auf die Schaffung eines gesellschaftlichen Umfeldes, das auf Dienst und Fürsorge beruht statt auf Macht. Während das patriarchalische System oft im Sinn einer Gleichsetzung von männlicher Autorität mit Macht gedeutet wurde, zeigt Matthäus einen Jesus, der lehrt, dass Autorität im göttlichen Sinn sich nicht in Machtdemonstrationen zeigt, sondern im Dienst am Nächsten (Matthäus 18, 1-5; 19, 30; 20, 16, 20-28; 23, 8-12).

Wenn es die Basis der Nachfolge Christi ist, einander zu dienen, was bedeutet dies dann für die Beziehung eines Mannes zu seiner Frau oder einer Frau zu ihrem Mann? Sollten nicht beide danach streben, dem Wohl des anderen zu dienen? Was haben Brutalität, Unterdrückung oder Missbrauch jeder Art in einem solchen Modell zu suchen?

Matthäus schließt seinen Bericht mit der Beschreibung einer letzten Unterweisung der Jünger durch Jesus. Wieder spricht er über Macht mit Betonung eines anderen Schwerpunktes. Er sagt ihnen, dass ihm alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist auf Grund seines Opfers. Die Jünger sollen für ihre Mission die Kraft des Heiligen Geistes erhalten, um dem Beispiel und der Lehre zu folgen, die Jesus ihnen gegeben hat (Matthäus 28, 16-20). Das Matthäusevangelium macht deutlich, dass das Beispiel und die Lehre Christi Gehorsam gegenüber Gottes Thora einschließt - nicht als bloße Routine oder aus Eigennutz, sondern als Mittel, um die Fürsorglichkeit des Schöpfers der Menschheit zu erlernen. Nachfolger Christi können in ihrem Leben diese Kraft bekommen, wenn sie lernen, Gott zu lieben und ihre Mitmenschen zu lieben wie sich selbst. Ohne diesen Mittelpunkt ist jeder Versuch, menschliche Beziehungen zu verändern, vergeblich.

Es lohnt sich, innezuhalten und die Auswirkungen dieser Vorgehensweise einmal zu überdenken. Wahre Anhänger der Lehre Christi wären nie auf die Idee einer Hierarchie gekommen, wie sie im 2. bis 4. Jahrhundert entstanden ist. Diese Nachfolger Christi hätten sich ihr Muster von Organisation nie vom Römischen Reich abgeschaut. Heute sprechen Gelehrte über einen Bruch zwischen „orthodoxen“ Christen und „häretischen“ Gnostikern in der Auffassung von männlicher Hierarchie und der Rolle der Frau; doch für jeden, der in Wahrheit Christus nachfolgte, wären diese Themen nicht existent gewesen. Wenn es in der breiten Christenheit tatsächlich eine solche Spaltung gab, ist dies ein Zeichen dafür, dass mit dem Verständnis der Lehren Christi etwas entsetzlich schief gelaufen war.

Auch heute deutet die anhaltende feministische Sorge um männliche Unterdrückung darauf hin, dass wir die Lektion der Fürsorge nicht gelernt haben. Stattdessen treibt und prägt Gier nach Macht und Kontrolle unsere Gesellschaften bis heute. Dies wirft eine weit wichtigere Frage auf: Wir mögen uns Christen nennen, aber sind wir wirklich Nachfolger Christi?